Johan Simons kreiert in Zwei Stimmen fünf Wirtschafts-Stereotypen, die der geniale Verfremdungs-Schauspieler Jeroen Willems zu klaren Typen aus sich heraus gestaltet. Vom aalglatten Italienkonzern-Chef mit Prolo-Trinkmanieren...
... über den intellektuellen Skeptiker-Außenseiter, der von den Bonzen angesabbert und angeschüttet wird ...
... über den Teufel, der mit "seinem Geschäft" die Geschäfte der Geschäftsleute ver-richtet ...
... bis zum kriminell-politischen Yuppie-Opportunisten, der bald schon zur Stöckelschuh-Geliebten des Konzernchefs mutiert (Fotos © Ben van Duin).
SCHAUSPIELHAUS WIEN AIRAN BERG VERABSCHIEDET SICH VOM WIENER SCHAUSPIELHAUS-PUBLIKUM MIT DEM ZEICHENTRICK TSCHECHOW - SAMOWAR UND DEM SCHAUSPIELERISCH UND TEXTLICH GRENZGENIALEN PASOLINI - WELTSTÜCK VON JOHAN SIMONS ZWEI STIMMEN: MIT JEROEN WILLEMS
Zur Krönung Airan Bergs Schauspielhaus-Wien-Leitung, begibt man sich in sein Schlußprogramm am besten hintereinander: Zuerst in das Live-Zeichentrick-Video-Projekt Samowar in der Schneiderei, und eine Stunde später im Haupthaus ins niederländische Theaterstück Zwei Stimmen. Beides sind Erfolgsproduktionen der letzten sechs Schauspielhaus-Jahre, über die Berg seine aus der Geschichte gewonnene Überzeugung vom Theater - während seiner Arbeits- und bezüglich unserer Lebenszeit - auf den Punkt bringt: nämlich dass das Theater heute formal interdisziplinär und poetisch zu sein hat sowie inhaltlich wirtschaftskritisch und zwischenmenschlich alltagsnah. Und noch einmal interessant dabei ist der Umgang mit (Stereo)typen, die das Theater seit jeher zum Spiegel der Menschheit machen.
Tschechow hat sich sein Ehrengrab verdient
Zur (insbesondere russischen Literatur)geschichte gelangt man in Samowar über wiederkehrende Typen und Sätze aus Stücken Anton Tschechows (1860-1904), die in losen, neu zusammen geschriebenen Beziehungsdialogen vom fiktiven Dasein Tschechows handeln. Abgesehen davon, dass die Verknappung das Wesen des Zeichentricks überhaupt ausmacht, wird dadurch Tschechow, der mit seinem psychologischen Realismus viele Literaten des 20. Jahrhunderts prägte, auf manchen entherrlichter wirken, wobei seine Figuren für heutige Verhältnisse und Langatmigkeitsempfindungen ohnehin zuviel an einander vorbei reden, genau das, was Tschechow den Menschen aber mitteilen wollte: dass sie andauernd an einander vorbei schauen, - reden oder - lieben. Und das endet meistens im (Selbst)mord durch Pistolenschuss.
Live-Zeichentrick von Tschechows Leben
Gemäß des bevorzugten Schauplatzes von Tschechow, spielt auch der Zeichentrick in einem Landhaus. - Ein Miniaturhaus wie ein Architekturmodell, das neben Airan Berg steht, der das Videomischpult bedient und zeitweise mit der Handkamera durch das Häuschen voller verstreuter Papiertexte fährt, während er dessen Projektionsbild mit den Zeichnungen und deutschen Sprechsätzen von Live-Comic-Zeichner Marcel Keller überblendet. Das punktgenau geplante, präzise Zusammenspiel der Beiden zu beobachten, wozu auch noch die - die fremdländische Atmosphäre intensivierende - Anja Sebanz russisch liest, ist insgesamt das spannendste, trotz schulisch belehrender Note.
Denn die Geschichte wirkt mit diesen Figuren heute "als gegessen", selbst wenn manches - ob nun Vorurteil oder Klischee - auch heute noch gilt: Der zu Geld gekommene Bauer, der noch so viel lesen kann, und dennoch immer nur "Bauer" bleibt. - Die Persönlichkeit bleibt in Herkunft, Klasse, Beruf und Rollenbild gefangen. Manch einer hat den Traum vom Schriftsteller, wagt es aber nicht, ihn zu realisieren. Während umgekehrt die Tschechow-Figur grundsätzlich lebenspessimistisch und unglücklich scheint. Der Doktor - Tschechow hatte eigentlich Medizin studiert - liebt schon lange niemanden mehr. Die Schauspielerin zeigt sich im Gespräch mit dem Professor entrüstet darüber, "schon so alt zu sein, dass er bei ihr von einem anderen, jungen Mädchen schwärmt". - Insgesamt ist es also ein depressives Philosophieren über den Lebensschmerz, egal wer und was man ist. Und alles, was zählt, ist die "Arbeit". Da Tschechow mit seiner Einstellung nach Rußland fährt und seine Urne (später) im Haus aufgestellt wird, erklären ihn die Macher samt Einstellung wohl für historisch beendet.
Pasolini und Shell-Tycoon vereint in Zwei Stimmen
Zwei Stimmen spielt im Hier und Jetzt, und - welch Glücksfall - auf "Deutsch". Sodass sich - ausnahmsweise in dieser Theaterlandschaft - auch einmal sprachliche Feinheiten einer feinen Sprache, gesprochen vom fein und deutlich sprechenden Schauspieler, Jeroen Willems, ausmachen lassen. Hier geht es um Pier Paolo Pasolinis Macht- und Politeinstellung in Italien, was mit einer Rede des Shell-Tycoons Cor Herkströter als "echt" aktualisiert wurde. Abgesehen davon, dass die wirtschafltiche Macht in all ihren Abgründen beschrieben und angeprangert wird, ist es vor allem die Schauspielkunst Jeroen Willems, die das Stück des niederländischen Topregisseurs, Johan Simons, unglaublich bedeutungsvoll macht. - Und das, obwohl es schon zehn Jahre lang viel ausgezeichnet durch die Welt tourt. Es ist geradezu beängstigend, wie aktuell dieses Stück noch ist.
Der philosophisch-intellektuelle Außenseiter, der anfangs zerknirscht und in Hornbrille an die bereits ziemlich verwüstete Festtafel tritt, wird von allen anderen als Buh-Mann angesehen - und deshalb auch von allen bekleckert. Die "Anderen" sind Typen aus globalstarken, in vielen Sparten vernetzten Unternehmen - aus verschiedenen Hierarchien allerdings, sprich vom Fädelsführer bis zum kriminell-politischen Opportunisten, der alles über die Macht(strukturen) zu erzählen weiß und nichts von sich selbst. Doch fantastisch daran ist, dass sie Jeroen Willems in Personalunion nicht als Stereotype spielt, sondern jeweils mit eigener Individualität und musikalischem Schauspielmantel "verfremdet". Dadurch wird das zum Kunstakt sondergleichen, wobei die Übergänge vom einen Charakter zum Nächsten, durch Schuhe anziehen, Wein trinken, Wasser trinken, Dessert essen ... von ebenso großer Virtuosität und Originalität sind. Zum Exzess kommt es, als Willems auch noch eine Frau darstellt. Und das ist keine typische Transe, sondern ein Mann in Stöckelschuhen mit Perücke, die sich auch mal als Schamhaar des Teufels verwenden lässt, der die Geschäftsmänner als dunkle Macht zum ausbeuterischen Unheil im Business treibt.
Was Brecht über Verfremdung meint, lebt in Jeroen Willems
Denn typisch für Pasolini muss es ja um die Urfrage zwischen Heiligkeit und Teuflischem gehen, da das in Italien unter Mafia und Vatikan pervertierend verdreht wird, sodass mancher Geschäftsmann fast in Gewissenskonflikt geraten muss. Und wie man das äußerlich an dem Menschen erkennt, das beschreibt uns Willems, auch als Frau. Jene muss zum Dank dem Konzernchef einen blasen - doch wenigsten spuckt sie dessen Erguß angeekelt aus. - Der Übergang ihres Wasser-Nachtrinkens zu jenem des Bosses ist übrigens genial.
All das endet noch zynischer als es begonnen hat: mit der echten Rede des Shell-Unternehmers Herkströter, der davon spricht, wie gut es der Osten, Afrika und Asien jetzt hätten, da sie noch ohne Gewissenskonflikte die Wirtschaft ankurbeln könnten, wobei ihnen der gebeutelte Westen auch noch helfen müsse. Doch eigentlich fühle sich die Wirtschaft für die Politik nicht verantwortlich ... Und er ergänzt im zynischen Nachsatz: "Wie wunderbar ist es doch, heute ein junger Mensch zu sein!" - Das Erschütternde daran ist: Willems ist in seinem Anzug und hübschen Gesicht so ein typisch charmanter Wirtschafts-Alpha-Mann, dass er wahrscheinlich jeden einkaufen könnte. Genau so, wie es andauernd geschieht, und obwohl jeder weiß, was eigentlich dahinter steckt. Selbst wenn er (Willems sich selbst) dem zweifelnden Philosophen im Schlussbild brutaler als alle anderen das Wasser ins Gesicht schüttet! e.o./a.c.
Zur Krönung Airan Bergs Schauspielhaus-Wien-Leitung, begibt man sich in sein Schlußprogramm am besten hintereinander: Zuerst in das Live-Zeichentrick-Video-Projekt Samowar in der Schneiderei, und eine Stunde später im Haupthaus ins niederländische Theaterstück Zwei Stimmen. Beides sind Erfolgsproduktionen der letzten sechs Schauspielhaus-Jahre, über die Berg seine aus der Geschichte gewonnene Überzeugung vom Theater - während seiner Arbeits- und bezüglich unserer Lebenszeit - auf den Punkt bringt: nämlich dass das Theater heute formal interdisziplinär und poetisch zu sein hat sowie inhaltlich wirtschaftskritisch und zwischenmenschlich alltagsnah. Und noch einmal interessant dabei ist der Umgang mit (Stereo)typen, die das Theater seit jeher zum Spiegel der Menschheit machen.
Tschechow hat sich sein Ehrengrab verdient
Zur (insbesondere russischen Literatur)geschichte gelangt man in Samowar über wiederkehrende Typen und Sätze aus Stücken Anton Tschechows (1860-1904), die in losen, neu zusammen geschriebenen Beziehungsdialogen vom fiktiven Dasein Tschechows handeln. Abgesehen davon, dass die Verknappung das Wesen des Zeichentricks überhaupt ausmacht, wird dadurch Tschechow, der mit seinem psychologischen Realismus viele Literaten des 20. Jahrhunderts prägte, auf manchen entherrlichter wirken, wobei seine Figuren für heutige Verhältnisse und Langatmigkeitsempfindungen ohnehin zuviel an einander vorbei reden, genau das, was Tschechow den Menschen aber mitteilen wollte: dass sie andauernd an einander vorbei schauen, - reden oder - lieben. Und das endet meistens im (Selbst)mord durch Pistolenschuss.
Live-Zeichentrick von Tschechows Leben
Gemäß des bevorzugten Schauplatzes von Tschechow, spielt auch der Zeichentrick in einem Landhaus. - Ein Miniaturhaus wie ein Architekturmodell, das neben Airan Berg steht, der das Videomischpult bedient und zeitweise mit der Handkamera durch das Häuschen voller verstreuter Papiertexte fährt, während er dessen Projektionsbild mit den Zeichnungen und deutschen Sprechsätzen von Live-Comic-Zeichner Marcel Keller überblendet. Das punktgenau geplante, präzise Zusammenspiel der Beiden zu beobachten, wozu auch noch die - die fremdländische Atmosphäre intensivierende - Anja Sebanz russisch liest, ist insgesamt das spannendste, trotz schulisch belehrender Note.
Denn die Geschichte wirkt mit diesen Figuren heute "als gegessen", selbst wenn manches - ob nun Vorurteil oder Klischee - auch heute noch gilt: Der zu Geld gekommene Bauer, der noch so viel lesen kann, und dennoch immer nur "Bauer" bleibt. - Die Persönlichkeit bleibt in Herkunft, Klasse, Beruf und Rollenbild gefangen. Manch einer hat den Traum vom Schriftsteller, wagt es aber nicht, ihn zu realisieren. Während umgekehrt die Tschechow-Figur grundsätzlich lebenspessimistisch und unglücklich scheint. Der Doktor - Tschechow hatte eigentlich Medizin studiert - liebt schon lange niemanden mehr. Die Schauspielerin zeigt sich im Gespräch mit dem Professor entrüstet darüber, "schon so alt zu sein, dass er bei ihr von einem anderen, jungen Mädchen schwärmt". - Insgesamt ist es also ein depressives Philosophieren über den Lebensschmerz, egal wer und was man ist. Und alles, was zählt, ist die "Arbeit". Da Tschechow mit seiner Einstellung nach Rußland fährt und seine Urne (später) im Haus aufgestellt wird, erklären ihn die Macher samt Einstellung wohl für historisch beendet.
Pasolini und Shell-Tycoon vereint in Zwei Stimmen
Zwei Stimmen spielt im Hier und Jetzt, und - welch Glücksfall - auf "Deutsch". Sodass sich - ausnahmsweise in dieser Theaterlandschaft - auch einmal sprachliche Feinheiten einer feinen Sprache, gesprochen vom fein und deutlich sprechenden Schauspieler, Jeroen Willems, ausmachen lassen. Hier geht es um Pier Paolo Pasolinis Macht- und Politeinstellung in Italien, was mit einer Rede des Shell-Tycoons Cor Herkströter als "echt" aktualisiert wurde. Abgesehen davon, dass die wirtschafltiche Macht in all ihren Abgründen beschrieben und angeprangert wird, ist es vor allem die Schauspielkunst Jeroen Willems, die das Stück des niederländischen Topregisseurs, Johan Simons, unglaublich bedeutungsvoll macht. - Und das, obwohl es schon zehn Jahre lang viel ausgezeichnet durch die Welt tourt. Es ist geradezu beängstigend, wie aktuell dieses Stück noch ist.
Der philosophisch-intellektuelle Außenseiter, der anfangs zerknirscht und in Hornbrille an die bereits ziemlich verwüstete Festtafel tritt, wird von allen anderen als Buh-Mann angesehen - und deshalb auch von allen bekleckert. Die "Anderen" sind Typen aus globalstarken, in vielen Sparten vernetzten Unternehmen - aus verschiedenen Hierarchien allerdings, sprich vom Fädelsführer bis zum kriminell-politischen Opportunisten, der alles über die Macht(strukturen) zu erzählen weiß und nichts von sich selbst. Doch fantastisch daran ist, dass sie Jeroen Willems in Personalunion nicht als Stereotype spielt, sondern jeweils mit eigener Individualität und musikalischem Schauspielmantel "verfremdet". Dadurch wird das zum Kunstakt sondergleichen, wobei die Übergänge vom einen Charakter zum Nächsten, durch Schuhe anziehen, Wein trinken, Wasser trinken, Dessert essen ... von ebenso großer Virtuosität und Originalität sind. Zum Exzess kommt es, als Willems auch noch eine Frau darstellt. Und das ist keine typische Transe, sondern ein Mann in Stöckelschuhen mit Perücke, die sich auch mal als Schamhaar des Teufels verwenden lässt, der die Geschäftsmänner als dunkle Macht zum ausbeuterischen Unheil im Business treibt.
Was Brecht über Verfremdung meint, lebt in Jeroen Willems
Denn typisch für Pasolini muss es ja um die Urfrage zwischen Heiligkeit und Teuflischem gehen, da das in Italien unter Mafia und Vatikan pervertierend verdreht wird, sodass mancher Geschäftsmann fast in Gewissenskonflikt geraten muss. Und wie man das äußerlich an dem Menschen erkennt, das beschreibt uns Willems, auch als Frau. Jene muss zum Dank dem Konzernchef einen blasen - doch wenigsten spuckt sie dessen Erguß angeekelt aus. - Der Übergang ihres Wasser-Nachtrinkens zu jenem des Bosses ist übrigens genial.
All das endet noch zynischer als es begonnen hat: mit der echten Rede des Shell-Unternehmers Herkströter, der davon spricht, wie gut es der Osten, Afrika und Asien jetzt hätten, da sie noch ohne Gewissenskonflikte die Wirtschaft ankurbeln könnten, wobei ihnen der gebeutelte Westen auch noch helfen müsse. Doch eigentlich fühle sich die Wirtschaft für die Politik nicht verantwortlich ... Und er ergänzt im zynischen Nachsatz: "Wie wunderbar ist es doch, heute ein junger Mensch zu sein!" - Das Erschütternde daran ist: Willems ist in seinem Anzug und hübschen Gesicht so ein typisch charmanter Wirtschafts-Alpha-Mann, dass er wahrscheinlich jeden einkaufen könnte. Genau so, wie es andauernd geschieht, und obwohl jeder weiß, was eigentlich dahinter steckt. Selbst wenn er (Willems sich selbst) dem zweifelnden Philosophen im Schlussbild brutaler als alle anderen das Wasser ins Gesicht schüttet! e.o./a.c.
DAS URTEIL AIRAN BERG HAT ALS ABSCHLUSS SEINER SCHAUSPIELHAUS-ZEIT EIN TOP- (LEIDER NUR 3-TAGES) - PROGRAMM AUSGESUCHT: ZWEI STIMMEN IST NOCH IMMER EINES DER MITREISSENDSTEN, WENN NICHT "DAS GRÖSSTE" THEATEREREIGNIS DES LETZTEN JAHRZEHNTS. WEGEN JEROEN WILLEMS, DER MIT SEINER TYPEN-VERFREMDUNG-DURCH-SICH-SELBST ZURECHT ALS BESTER SCHAUSPIELER EUROPAS GILT!