Photos: Oliver Rosskopf bringt in Liebesgesänge als Mörder "Java" seinen Geliebten, den romantisch-singenden Sexualverbrecher "Lucien" (Andreas Bieber) um. - Ein bewußt provokantes Spiel für Voyeure, die auch vor intimem Infight mit Kloschüsseln nicht zurückschrecken. (© Caroline Haider)
LIVE AUS WIEN UND BERLIN PETER KERN TRIFFT MIT SEINER EXTREMEN PROVOKATION IN JEAN GENETS LIEBESGESÄNGE DAS PROBLEM UNSERER ZEIT: SODASS MAN FAST SCHON HOMOSEXUELL WERDEN MUSS. EIN GRENZGANG.
Seine Homosexualität und Kriminalität (Diebstahl, Prostitution, Schwarzhandel) verteidigte der am 19.12.1919 in Paris geborene Roman- und Theaterautor, Jean Genet, als persönliche Rache am bestehenden "Normalen" sowie als gelebte Negation daran. "So stieß ich mit Entschiedenheit eine Welt von mir, die mich verstoßen hatte", meinte der mit sechzehn ins Erziehungsheim gekommene Genet. Seine Stücke entsprechen als Theater anarchistischer Vitalität wie keine anderen Werke dem theoretisch entworfenen "Theater der Grausamkeit" Antonin Artauds.
Homosexualität als Protest an unserer Zeit
Da aufgezwungene Etiketten und Zwang zu einem engen, oberflächlichen Muster an Bürgerlichkeit in Österreich wie auch in anderen Ländern der Welt mehr denn je den Ton angeben, trifft Peter Kerns Inszenierung Liebesgesänge im Wiener Künstlerhaus - und jetzt auch in Berlin, Hamburg und Zürich - einen wunden Punkt unserer Zeit. Dass die immer häufiger vorkommende Homosexualität als Gegenbewegung eine Form von Protest sein kann, ist dabei fast logisch.
Wir sehen in Peter Kerns Interpretation im ersten Teil ein wortlos gestisches Körperspiel mit Geräuschen von Häftlingen in ihren Einzelzellen, wo nichts steht als je eine Kloschüssel für jeden - die auch fleissig für jede Form von "Nähe" genutzt wird: neben einem dritten psychisch gestörten Insassen, von Java (als an die Substanz gehend gespielter Mörder Oliver Rosskopf) und Lucien (als gut singender Sexualverbrecher Andreas Bieber). Zitat: "Scheiß mich zu, damit ich die Führer dieses Landes ertragen kann. Die kommen auch noch dran."
Brutaler Sex als Ventil gegen Psychodruck
Ab und zu kommt der die Häftlinge ständig überwachende Aufseher Heinrich Herki vorbei, um dem einen ins Bein zu schießen und ihn dann zu vergewaltigen oder sich einen blasen zu lassen, was wiederum die anderen stimuliert, die sich dann selbst befriedigen. Eine kalte, gefühllose Form von Macht und Erniedrigung, die einzige Form von Lustgewinn, die man diesen Menschen beibringt und die sie künftig in ihrem Liebesbedürfnis prägen wird. So wie Lucien singt: "Each man kills the thing he loves."
Romantische Momente liegen überhaupt nur in Javas Gesang, wogegen die in ihrer Wichtigkeit von Genet betonten Symbole von Hoffnung für eine bessere Welt - wie der Blumenstrauß, der vor dem Zellengitter hängt und der Strohhalm, durch den sich Lucien und Java austauschen - in Kerns Fassung zur wenig sensiblen Andeutung verkümmern.
Heutige Künstler müssen pervers sein, um "vorzukommen"
Der beiden Männer Bekenntnis zum Bösen bis zu Mord und Vergewaltigung ist daher vom menschlichen Umfeld ausgelöst und findet sich in der Figur des "Altstars" (Miriam Goldschmidt, die in der Wiener Derniere am 23.9. bestens von Traute Furtner vertreten wurde) wieder.
Diese von Kern entwickelte Parallele ist ein zynisch treffender Folgegedanke, der einerseits auf die kunstlos-entartete ORF-Seitenblicke-Starwelt schielt, bei deren Präsentation und Promi-Vorkommen der Intellektuelle den Kopf schütteln muss; und andererseits steht sie für jene Künstler, denen als Ausdrucksform nur perverse Extremmittel wie etwa Mordinszenierungen bleiben, sowie möglicherweise auch die massenorientierte Sensationskultur (denn die so genannte Eventkultur ist oftmals ebenso widerliche Qual). Deshalb bleiben gleichzeitige Anklagen an die Künstler, daran auch schuld zu sein, nicht aus, woraus wiederum deren Lust erwächst, durch brutalen Sex bestraft und damit erlöst zu werden. Diese Schuld wird aber auch auf das Publikum geworfen: denn das sind die Voyeure, wie es zuvor noch der Gefängniswärter war. (a.c.)
THEATER Liebesgesänge * Regie: Peter Kern * Mit: Oliver Rosskopf, Andreas Bieber, Miriam Goldschmidt, Heinrich Herki, Günter Bubbik * Musik: Baltazar Fisher * Ort: Ballhaus Ost, Berlin * Zeit: 28.9.-1.10.06