Thursday, September 28, 2006

THEATER: PETER KERNS PROTEST DER BRUTALEN HOMOSEXUALITÄT



Photos: Oliver Rosskopf bringt in Liebesgesänge als Mörder "Java" seinen Geliebten, den romantisch-singenden Sexualverbrecher "Lucien" (Andreas Bieber) um. - Ein bewußt provokantes Spiel für Voyeure, die auch vor intimem Infight mit Kloschüsseln nicht zurückschrecken. (© Caroline Haider)


LIVE AUS WIEN UND BERLIN
PETER KERN TRIFFT MIT SEINER EXTREMEN PROVOKATION IN JEAN GENETS LIEBESGESÄNGE DAS PROBLEM UNSERER ZEIT: SODASS MAN FAST SCHON HOMOSEXUELL WERDEN MUSS. EIN GRENZGANG.


Seine Homosexualität und Kriminalität
(Diebstahl, Prostitution, Schwarzhandel) verteidigte der am 19.12.1919 in Paris geborene Roman- und Theaterautor, Jean Genet, als persönliche Rache am bestehenden "Normalen" sowie als gelebte Negation daran. "So stieß ich mit Entschiedenheit eine Welt von mir, die mich verstoßen hatte", meinte der mit sechzehn ins Erziehungsheim gekommene Genet. Seine Stücke entsprechen als Theater anarchistischer Vitalität wie keine anderen Werke dem theoretisch entworfenen "Theater der Grausamkeit" Antonin Artauds.

Homosexualität als Protest an unserer Zeit


Da aufgezwungene Etiketten und Zwang zu einem engen, oberflächlichen Muster an Bürgerlichkeit in Österreich wie auch in anderen Ländern der Welt mehr denn je den Ton angeben, trifft Peter Kerns Inszenierung Liebesgesänge im Wiener Künstlerhaus - und jetzt auch in Berlin, Hamburg und Zürich - einen wunden Punkt unserer Zeit. Dass die immer häufiger vorkommende Homosexualität als Gegenbewegung eine Form von Protest sein kann, ist dabei fast logisch.

Wir sehen in Peter Kerns Interpretation im ersten Teil ein wortlos gestisches Körperspiel mit Geräuschen von Häftlingen in ihren Einzelzellen, wo nichts steht als je eine Kloschüssel für jeden - die auch fleissig für jede Form von "Nähe" genutzt wird: neben einem dritten psychisch gestörten Insassen, von Java (als an die Substanz gehend gespielter Mörder Oliver Rosskopf) und Lucien (als gut singender Sexualverbrecher Andreas Bieber). Zitat: "Scheiß mich zu, damit ich die Führer dieses Landes ertragen kann. Die kommen auch noch dran."

Brutaler Sex als Ventil gegen Psychodruck

Ab und zu kommt der die Häftlinge ständig überwachende Aufseher Heinrich Herki vorbei, um dem einen ins Bein zu schießen und ihn dann zu vergewaltigen oder sich einen blasen zu lassen, was wiederum die anderen stimuliert, die sich dann selbst befriedigen. Eine kalte, gefühllose Form von Macht und Erniedrigung, die einzige Form von Lustgewinn, die man diesen Menschen beibringt und die sie künftig in ihrem Liebesbedürfnis prägen wird. So wie Lucien singt: "Each man kills the thing he loves."

Romantische Momente liegen überhaupt nur in Javas Gesang, wogegen die in ihrer Wichtigkeit von Genet betonten Symbole von Hoffnung für eine bessere Welt - wie der Blumenstrauß, der vor dem Zellengitter hängt und der Strohhalm, durch den sich Lucien und Java austauschen - in Kerns Fassung zur wenig sensiblen Andeutung verkümmern.

Heutige Künstler müssen pervers sein, um "vorzukommen"


Der beiden Männer Bekenntnis zum Bösen bis zu Mord und Vergewaltigung ist daher vom menschlichen Umfeld ausgelöst und findet sich in der Figur des "Altstars" (Miriam Goldschmidt, die in der Wiener Derniere am 23.9. bestens von Traute Furtner vertreten wurde) wieder.

Diese von Kern entwickelte Parallele ist ein zynisch treffender Folgegedanke, der einerseits auf die kunstlos-entartete ORF-Seitenblicke-Starwelt schielt, bei deren Präsentation und Promi-Vorkommen der Intellektuelle den Kopf schütteln muss; und andererseits steht sie für jene Künstler, denen als Ausdrucksform nur perverse Extremmittel wie etwa Mordinszenierungen bleiben, sowie möglicherweise auch die massenorientierte Sensationskultur (denn die so genannte Eventkultur ist oftmals ebenso widerliche Qual). Deshalb bleiben gleichzeitige Anklagen an die Künstler, daran auch schuld zu sein, nicht aus, woraus wiederum deren Lust erwächst, durch brutalen Sex bestraft und damit erlöst zu werden. Diese Schuld wird aber auch auf das Publikum geworfen: denn das sind die Voyeure, wie es zuvor noch der Gefängniswärter war. (a.c.)
für essayistische Vertiefung in das Thema "homosexuelle Künstler" click --> www.intimacy-art.com/aKtuell/metanews/gossip


DAS URTEIL ZIEMLICH KRANK PETER KERNS STÜCK, WAHRSCHEINLICH HAT ER ABER RECHT, IN DIESEN ZEITEN. GUT GESPIELT, MIT GEWALTVOLLEM HOMOSEX, DEN MAN SO DIREKT ALS HETERO KAUM NOCH GESEHEN HAT.

THEATER Liebesgesänge * Regie: Peter Kern * Mit: Oliver Rosskopf, Andreas Bieber, Miriam Goldschmidt, Heinrich Herki, Günter Bubbik * Musik: Baltazar Fisher * Ort: Ballhaus Ost, Berlin * Zeit: 28.9.-1.10.06

Sunday, September 24, 2006

BALLETT+LIVE-ORCHESTER: GYULA HARANGOZÓ SCHEITERT DIESMAL AN DER KLASSIK



Photos: Bilder versprechen manchmal mehr als sie halten:
Solistinnen-Zuwachs Olga Esina (oben), technisch zweifellos begabt, leider aber in nichtssagender Regie: in Paquita während der Wiener Ballett Gala. Eine geschmackvolle Wohltat dagegen: András Lukács und Dagmar Kronberger in Connection.
(© Das Ballett der Wiener Staatsoper und Volksoper/Dimo Dimov)


BALLETT GALA IN DER VOLKSOPER DAS BALLETT DER WIENER STAATSOPER UND VOLKSOPER PRÄSENTIERT SEINE KLASSIK- SOLISTEN WIE IM ZIRKUS, AUF ERNST ZU NEHMENDE TANZKUNST LAESST NUR DIE MODERNE HOFFEN

"NACH PIMPI UND ROCCO SEHEN SIE JETZT JUMBO, IN UNSERER GROSSEN MANEGE-NUMMER!"
- Hatten wir uns Donnerstag-Abend in der Volksoper im Zirkus verirrt, oder waren das tatsächlich die Ballettstars der Wiener Staats- und Volksoper, die hier während der Ballett Gala in den klassischen Werken ihre Nummern rissen, als wären sie dressierte Tiere? Der Herr neben der Kritikerin, Alter Meister der Bildenden Kunst, meinte noch: "Ob sich ein Mann wohl gut fühlt, wenn er auf Befehl hüpft wie ein Blöder?"

Klassische Soli ohne Charakter

Der Vergleich war treffend, denn schließlich hätte es sich bei diesen Manege-Sprüngen um Ausschnitte literarischer Ballettklassiker handeln sollen. Schwanensee, Le Corsaire, Taras Bulba und Dornröschen erzählen für gewöhnlich "Geschichten menschlicher Charaktere", selbst bei den gezeigten Choreografie-Variationen von Lew Iwanov, Marius Petipa, Tschekrygin/Tschabukiani und Rostislaw Sacharow. Halbsolist Ivan Popov/Russ als Prinz Siegfried, Gastsolist Giuseppe Picone/I als Prinz Florimund, Gastsolist Rainer Krenstetter/A und Solotänzer Gregor Hatala/A als Sklavenmarktbesitzer, sowie Corps-ballerino Denys Cherevychko/Ukraine als ukrainischer Freiheitskämpfer waren von einander aber kaum zu unterscheiden, außer dass letzterer am dynamischsten seine Runden schlug. - Wo bleibt bitte die Rollengestaltung?

Bei den Frauen war es nicht anders, sie trippelten als Puppen ohne Innenleben und übten sich in schulmädchenhaften Pirouetten: Corps-Ballerina Elisabeth Golibina/Russ als Schwan, Solistin Irina Tsymbal/Russ als Dornröschen Aurora, die Solotänzerinnen Kathrin Czerny/A und Alina Tanikpaeva/Kasachstan als Sklavinnen Gulnare waren nur an Körperform und Gesicht zu erkennen. - Womit haben es diese großartigen Tänzerpersönlichkeiten verdient, in der standard-technischen Fertigkeit vorgeführt zu werden, als hätten sie sich bei der Abschlußprüfung ihrer Ausbildung zu beweisen, sodass möglicherweise dann sogar die ganz Jungen besser wirken?

Regie, Bühne und Musik aus der Rumpelkammer
Bei der verkümmerten Regie von Ballettdirektor Gyula Harangozó gab es auch in den Pas de Deux nicht den geringsten kommunikativen Funken zwischen den Tänzerpaaren. Und der als klassisches Highlight des Abends angekündigte "Grand Pas aus Paquita" von Petipa war so modrig, langweilig und zum Vergessen, dass wir nur berichten können: die neue, russische Solistin Olga Esina ist fähig, viele, auf einander folgende, "leere" Pirouetten zu drehen ... Ähnliches gilt für das als modernes Highlight angekündigte P.O.G.L.A.C.E, Uraufführung von Tunesier Raza Hammadi, das an ein einwöchiges Workshop-Resultat mit Jazztanz-Anfängern in russischem Disco-Licht erinnert. Bedenkt man, dass hier großteils das expressive Ensemble des ehemaligen Volksopernballettdirektors Giorgio Madia beteiligt ist, wird umso klarer, wie wichtig für ein Tänzerindividuum die passende Führung ist.

Kongenial, als hätte man zur Entrümpelung freigegebene kommunistische Requisiten wieder verwerten wollen, passte das Bühnenbild: Geschmacklose Riesenluster schwebten zuweilen über der schwammig ausgeleuchteten Bühne, farblich so monoton mit den Kostümen verwässert, dass die Tänzer noch nichts-sagender wirkten. Aber getoppt wurde all das dann doch noch vom Dirigat Andreas Schüllers, unter dessen Führung das Orchester der Volksoper zur tscheppernden Dorfkapelle mutierte - dafür kassierte er am Ende auch Buhs. (Gyula Harangozó kam erst gar nicht auf die Bühne ...)

Zwei kleine Hoffnungsschimmer


Aus diesem muffigen Grundtenor leuchtete Ungar András Lukács mit den zwei modernen Kurzstücken Whirling und Connection hervor. Ein gutes Auge für Dramatik in Licht, Bühne und Kostümen, hatte er schon in seinem letztjährigen Tabula Rasa bewiesen, diesmal war auch der Tanz ausgereift. Ballettinsider konnten ihm zwar wieder vorwerfen, mit seinem Faible für Minimalismus zu sehr an den 80-er Jahren zu hängen - wobei die Choreographie Whirling auch noch eins-zu-eins von Forsythe abgekupfert scheint - doch ist Lukács´ Arbeit in sich schlüssig und sauber, vom Inhalt über die Form zur Tänzerauswahl bis zum Tanz selbst:

Vom Film The Hours über die Schriftstellerin Virgina Woolf inspiriert, die sich mit Steinen beschwerend im Fluß ertränkte, ist Whirling (UA 2005) ein schwungvolles Duo der mit langem blondem Haar anziehenden Halbsolistin Karina Sarkissova/Russ und ihres ebenso attraktiven, dunklen Partners, des Halbsolisten Mihail Sosnovschi/Moldawien, in schwarzen, schenkelkurzen (Lack)anzügen. Als würden ihre soghaften Kreisbewegungen zur Filmmusik von Philip Glass (glücklicherweise vom Tonband!) sagen, "halten wir uns an einander fest, um uns die kurze Zeit, die uns bleibt, noch alle Kraft und alles Leben zu schenken, wozu wir fähig sind", wirbeln sie gezielt und in erdiger Harmonie, voll gegenseitigem Vertrauen und Zuversicht ihrem Schicksal entgegen, das sie alsdann zur endgültigen Aufgabe zwingt.

Durchtränken die Schönheit dieses Werks Erotik und Schmerz, so ist jene in Connection (UA 1999) nüchtern und kühl: Lukács tanzt selbst - ein überdurchschnittlich guter Tänzer - und nimmt sich Halbsolistin Dagmar Kronberger/A zur Partnerin. Die puristische Statik der Bewegungen mutet stark und entrückt an, dank der exakten Synchronität des Paares, die vom Kopf auszugehen scheint, wobei die Körper- obwohl Mann und Frau - gleich erscheinen. - Möglicherweise lebt dieses Werk nur vom simplen Trick der Monotonie basierend auf der musikalischen Wiederholungsmotivik Michael Nymans, aber immerhin: es wirkt!

Kleiner Daniil Simkin - große Entdeckung

Pantomimisches Talent und damit einzigartigen Charakter zeigte an diesem Abend nur der neue Halbsolist Daniil Simkin/Russ. In Chansonier Jacques Brels Les Bourgeoises und der Choreographie Ben van Cauwenberghs gab er einen rauchenden, sich über das Bürgertum lustig machenden Bohemien. Mit seinen leichten und doch sicheren Bewegungen ist ihm jedes klassische Werk zuzumuten. Nur hat er dabei wohl ein Handicap: Statur, Größe und zu starke, weibliche Konnotationen lassen ihn weder als "Prinz" noch vor einem Ensemble gut wirken. Doch an seinen Sprüngen, die wie selbstverständlich nebenbei in die zu erzählende Geschichte verwoben sind, sollte sich jeder Choreograf und Einstudierende ein Beispiel nehmen. (e.o.)
Für nähere Info zu Daniil Simkin, click --> www.intimacy-art.com; aKtuell/metanews/talents


DAS URTEIL
DAS SCHLECHTE KLASSIKPROGRAMM BEI SCHLECHTEM LIVE-ORCHESTER SIEHT NEBEN DEN AMBITIONIERTEN CHOREOGRAPHIEN VON ANDRÁS LUKÁCZ UND DER STARKEN PANTOMIME DANIIL SIMKINS MÜDE AUS. WAS SIE ALSO AN DIESEM ABEND BRAUCHEN WERDEN: VIEL GALGENHUMOR, WENIG STAUNEN, WENIG RÜHRUNG.

Ballett: Ballett Gala der Wiener Staatsoper und Volksoper * Mit: Daniil Simkin, András Lukács, Dagmar Kronberger, Karina Sarkissova * Künstlerische Leitung:
Gyula Harangozó * Dirigent: Andreas Schüller * Ort: Volksoper Wien * Zeit: 28.9., 20.10., 7./11.11.06, jeweils 19h

Sunday, September 17, 2006

CHORMUSIK+BALLETT: GOTT UND JOHN NEUMEIER WAREN DA




Photos: Die französische Erste Solistin Joelle Boulogne und Partner Peter Dingle "erleben" einander am Lebensbaum (rechts): in der Requiem- Choreografie von John Neumeier, die so perfekt ist, dass man sich nicht einmal zu atmen traut ... Auf den kleinen Bildern oben sind zwei von Neumeiers Ensemble- Formationen zu sehen, für deren grafische Schönheit er bekannt ist.
© Holger Badekow Colonnaden 36 20354 Hamburg


THEATER AN DER WIEN JOHN NEUMEIERS MÖGLICHERWEISE ZU PERFEKTES HAMBURG BALLETT TANZTE ZU ERWIN ORTNERS GENIALEM DIRIGAT IN MOZARTS REQUIEM.

Sollte es einen Gott geben, dann steckte er von Freitag bis Sonntag, 15.-17.9.2006, in den Instrumenten des Wiener Kammerorchesters sowie in den Kehlen des Arnold Schönberg Chors unter der Leitung von Erwin Ortner. Selten ertönte Mozarts Requiem trotz des Todesthemas lebendiger. Erzielt wurde dieser Effekt durch die Abwechslung mit Gregorianischen Chorälen der Wiener-Hofburgkapelle-Choralschola: und so oft Mozart darauf mit und ohne Solistenstimmen einsetzte, wurde man sich wieder dieses musikalischen Komponisten-Genies bewußt.

Im Grunde spiegelt jener Musik-Kontrast aber nur die unterschiedliche Ästhetik von Religion und Kunst in den historischen Epochen wieder und wirft die provokante Frage auf, wieviel Poesie und Leidenschaft die Geschichte Jesu tatsächlich ertragen mag. Wir sind der Meinung: so viel wie nur möglich!

Liebe ist überraschend = unkontrollierter

Die Jesu-Geschichte interessierte John Neumeier - mit seinem Hamburg Ballett das eigentliche Zugpferd des Abends - allerdings weniger. Eher war es der Kontrast von Leben und Tod, den er tänzerisch durch furios ruckartige Bewegungsabläufe auf abrupt statische Posen bis zur Starre löste, räumlich durch einen einsam-beleuchteten Baum in leerer Bühnenlandschaft gestaltete, und farblich durch Schwarz und Weiss von Typen und Kostümen intensivierte. Und dann war da noch seine Andeutung von "Liebe". Die allerdings bei Mozart in jedem Moment und noch um vieles stärker - da unkontrollierter - enthalten ist. Nur sie vermag es, in das Leben zu führen, und in christlichem Sinne vielleicht sogar in den verdienten Tod. So ruft in der Mitte des Stückes auch ein Tänzer: "Johannes von Kreuz sagte: "Am Abend Deines Lebens wird man Dich an Deiner Liebe prüfen.""

Wieviel Perfektion ertragen Lust und Liebe?

Wir ringen uns also in ästhetischer Perfektion durch den eineinhalbstündigen Abend. Im Anblick von Tänzer-Körpern, deren Sehnen, Muskeln, Formationen, Bewegungen und Gesten, ident wie von eineiigen Zwillingen, und aus Gemälden wie Leanordo da Vincis Das letzte Abendmahl oder renaissancezeitlichen Jesu-Sterbeszenen entsprungen scheinen. Alles wirkt so übernatürlich, dass kein Huster des Publikums zu stören traut. So erleuchtet von göttlicher "Gewalt", dass kein Mensch zu atmen wagt.

Und doch, bevor der Rebell daran erstickt, sehnt er sich in den letzten zehn Minuten zurück ins Leben. - Mag das Blasphemie sein oder doch nur der Wille zur tatsächlichen Liebe, die nur aus der Unperfektion (innerhalb der stilistisch-manirierten Perfektion) entspringen kann? (e.o.)


DAS URTEIL ETWAS MEHR BAROCK UND WENIGER RENAISSANCE HÄTTE DEN TANZ DES GROSSARTIGEN JOHN NEUMEIER MENSCHLICHER GEMACHT. SO LEBENDIG WIE DEN GENIALEN - DA UNPERFEKTEN - MOZART.

BALLETT Ein Totentanz * frei nach der Novelle von Thomas Mann * MUSIK VON JOHANN SEBASTIAN BACH UND RICHARD WAGNER * Choreographie & Regie: John Neumeier / Guest performance by Hamburg Ballett * Klavier Elizabeth Cooper * Ort: Theater an der Wien * Zeit: 30., 31.1.2009: 20h

AUSSTELLUNG: MARKUS LUEPERTZ IST EIN FABULIER-DENKER






Bilder: Markus Lüpertz und zwei seiner jüngeren Werke, die eher durch Form und Farbe als Fantasie bestechen, wovon der Malerfürst aber ebenso viel hat. Oben: Nach Marées - Gelber Kopf, 2002; Unten Rückenakt, 2004.
Beide sind im Besitz der Courtesy Galerie Michael Werner, Köln und New York.


VERKAUFEN LÄSST SICH MARKUS LÜPERTZ MÖGLICHERWEISE SCHLECHTER ALS AUS- STELLEN: DAS BA-CA KUNSTFORUM HAT SEINE NETTEN SEITEN GUT GETROFFEN.

"Ein Markus Lüpertz war in den 80-ern weitaus teurer als ein Gerhard Richter. Heute aber ist der Richter Teil der Kunstgeschichte und der wahrscheinlich bestbezahlte lebende Maler, während es schwierig ist, einen Lüpertz überhaupt zu verkaufen. Aber dass ein Neo Rauch mit seinen jungen Jahren heute zweimal so viel verdient wie ein Lüpertz - und da mag man nun ein Lüpertz-Fan sein oder nicht - ist wahrscheinlich weder richtig noch fair...", meinte Gerard A. Goodrow, Leiter der Art Cologne, während der Viennafair-Kunstmesse 2005.

So viel zum Marktwert des Malerfürsten Markus Lüpertz (geb. am 25.4. 1941 in Böhmen), der erst mit seiner Mozart-Skulptur Salzburg schockierte und jetzt mit einer Auswahl seines Lebenswerks im Wiener BA-CA-Kunstforum zu sehen ist. Bekannt ist auch, dass die Kunstsammler Essl, zumindest früher einmal, eifrige Lüpertz-Käufer waren - summa-summarum kann daher konstatiert werden: Österreich mag den Lüpertz doch sehr ...

Lüpertz: liest Nazi-Mützen figurativ-abstrakt

Das Schöne ist, dass man bei gut ausgewählten Lebenswerk-Querschnitten tatsächlich erkennt, was einen Künstler ausmacht: und da finden wir einen sturen, eigenwilligen, uneitlen und daher unbestechlichen, sowie humorvollen und daher liebenswerten Zeitdenker vor. Alles, was Lüpertz im Leben begegnet, findet direkten Niederschlag in seiner Arbeit, was er in seiner Frühzeit (1968) durch folgendes Manifest untermauert: Die Anmut des 20. Jahrhunderts wird durch die von mir erfundene Dithyrambe sichtbar gemacht.

Lüpertz Dithyrambe vereint genau genommen die beiden scheinbar widersprüchlichen Richtungen "figurativ" und "abstrakt" zum "sowohl als auch" bzw. "dazwischen" - was Lüpertz bis heute auf eigentümliche Art beibehält. Gleichzeitig reflektiert bzw. verfremdet er historisch besetzte Symbole wie etwa einen "NS-Stahlhelm". Lüpertz: "Man kann in eine Nazi-Offiziersmütze viel hineinlesen." Formal löst er das, indem er den Helm zweimal "scheinbar ident" malt, und erst bei genauerem Hinsehen erkennt man die Unterschiede.

Lüpertz: (un)logisch wie Lewis Carrolls Alice

Zahlreiche Paraphrasen machte Lüpertz über Gemälde von Nicolas Poussin, Cézanne bis Picasso, schlicht, um ihnen seinen Stil aufzudrücken. Er sieht sich als "abstrakter Maler", ohne sich an irgendwelche formalen Gesetze ("Ismen" der Geschichte) - außer die eigenen selbstverständlich - zu halten.

Besonders charakteristisch ist seine Herangehensweise an den Alice im Wunderland-Stoff: Zwei Skulpuren (1981) von undefinierbarem Äußerem heißen etwa Du weißt nicht viel, versetzte die Herzogin bzw. Nein, das kann ich nicht, versetzte die Raupe. Eine Figur mit einer "Schneckenform" trägt den Titel Weil es eine Grinsekatze ist., eine andere: Ess! Versetzte die Maus ziemlich scharf. - Lewis Carrolls abstrakte Sprach-Logarithmen schlagen sich also formal als abstrakt-verdoppelte Mal-Logarithmen Lüpertzs nieder.

In den späten 80-ern kann eine Titelserie wie Zwischenraumgespenster dann aber massen-wahrnehmungs- bezogen eindeutiger sein.
Und von männlichem Wunschdenken ist wohl Lüpertzs Figur "Daphne" geprägt: floh jene laut griechischer Mythologie vor dem liebestollen Apoll unter einen Baum, so bekommt sie von Lüpertz einen vor Scham erröteten Kopf verpaßt (als hätte sie im Grunde also doch wahnsinnige Lust auf den Mann gehabt!).

Mozart: mit Busen und steifem Penishaar

Und sieht man dann die Salzburger Mozartfigur schließlich live, erscheint sie weit durchdachter als zuvor noch aus den Medien angenommen: das beweisen die vielen, zeichnerisch gekonnten Skizzen, über die Lüpertz zu seinem Zwitter-Fabelwesen "Mozart" fand, was genau genommen heißt: Mozarts Haarpracht hat die Form eines erigierten Penis; seine Nase, Hüfte und Brust jene einer Frau.... (r.r.)


DAS URTEIL ALLES IN ALLEM EIN URIGER KERL DIESER LÜPERTZ: DAS ZEIGT DIE LIEBEVOLLE WERKAUSWAHL.

Ausstellung: Markus Lüpertz * Kuratiert von Ingried Brugger, Florian Steininger * 6.9.-5.11.2006 * Ort: BA-CA Kunstforum Wien * täglich 10-19h, Freitag bis 21h

Friday, September 08, 2006

BALLETT: DORNRÖSCHEN - MATCH ZWISCHEN GIORGIO MADIA & GYULA HARANGOZÓ

Photo: "Aurora" Joanna Jablonska und "Prinz Desiré" Piotr Ratajewski im leidenschaftlichen Finale von Giorgio Madias fantasie- voll-ästhetischer Ballett-Groteske Dornröschen
(© Chwalislaw Zielinski / Lodz)


LIVE AUS LODZ/POLEN
GIORGIO MADIAS INNOVATIVES DORNRÖSCHEN, DAS IM MAI URAUFFÜHRUNG FEIERTE UND PROMPT MIT DEM BEGEHRTEN THEATERPREIS "DIE GOLDENE MASKE" AUSGEZEICHNET WURDE, STEHT IM OKTOBER WIEDER AUF DEM PROGRAMM.
IN WIEN SEHEN WIR DORNRÖSCHEN, FASSUNG "ALT".


Dornröschen in Lodz und im Schmalformat in Wien: Das zur russischen Ballettklassik mutierte Wien - gerade hat Ballettdirektor Gyula Harangozó wieder um drei neue russische Solisten aufgestockt - schielt im Oktober neidvoll nach Lodz. Denn die polnische Stadt hat etwas, das zuvor noch die Wiener Volksoper körperpräsent voran getrieben hatte: Modernes Ballett, choreografiert von Giorgio Madia.

Läuft also nun im Großen Theater Lodz - nach jenem in Warschau das zweitbedeutendste Haus des jungen EU-Landes - Madias radikal heutiges und dennoch ästhetisch bezauberndes Dornröschen, kann man sich sicher sein, ab September im Wiener Pas-de-Deux-Auszug während der Wiener-Staatsballett-Gala, keine Neu-Interpretation des Petipa-Stoffes vorgeführt zu bekommen. Fazit: In Wien wird uns - trotz kleiner Hoffnung im Patchwork-Abend durch P.O.G.L.A.C.E. (Uraufführung von Raza Hammadi im „jazz-contemporain“- Stil über Die sieben Todsünden) - Klassiknostalgie aufgezwungen, Lodz dagegen schreit nach Aufbruch.

Tanz-Match zwischen Harangozó und Madia

So toll Madias Inszenierung aber ist, vom tänzerischen Vermögen her, mußte er sich aus finanziellen Gründen leider mit der B-Liga begnügen. Und wieder denken wir an seine unglaubliche Company aus Wiener Tagen, die um vieles persönlicher und expressiver tanzte. Besonders bei den klassischen Passagen im ersten Teil fällt der lediglich "bessere Standard" auf. - Nun denn, vielleicht hat Harangozó diesmal diesbezüglich ja die bessere Karte.- Wir werden sehen.

Doch Madia holt dennoch, wie immer, das Beste aus seinem Ensemble heraus: es ist extrem motiviert und tanzt sich im Modern Dance dann auch in überraschende Höhen, sodass man sich von den leidenschaftlichen Gefühlen mitreißen lassen kann. Persönliche Ausstrahlung verströmt dabei die junge "Prinzessin Aurora", Joanna Jablonska: auf sie wartet mit ihrer eleganten Grace-Kelly-Aura, Leichtfüßigkeit und schmalen Silhouette, sicherlich eine Prima-Ballerina-Zukunft. Nur muß sie dafür noch mehr von der Erotik in ihr investieren.

In der Inszenierung gewinnt Madia

Was Madias grotesk-witzigen Abend in hellem Bühnenlicht und weiß-ausgestellten Kostümen so spannend, originell und kurzweilig macht, ist die dem Stummfilm entlehnte Erzähltechnik: Auf Takt geschnittene Hinterglaszeichnungen liefern als Videoblöcke die Erklärungen zum Geschehen. Die fantasieanregenden Linienschwünge von Bühnenbildner Daniel Ioan Roman, verleihen dem Ganzen eine zusätzliche, tiefenpsychologische Dimension. Denn Aurora wird von der bösen, ungeladenen und deshalb erzürnten Fee, Carabosse zum hundertjährigen Schlaf unter einem Wolkentuch verflucht (tolle Akrobatikleistung der Direktorin der Company, Edyta Waslowska, die auf Springstelzen und ganz in Schwarz durch die effektvolle Kinderballett-Festgesellschaft stürzt). Aurora erliegt dem Fluch allerdings nicht nach einem Spindelstich, sondern durch Drogen.- Ein Jugendproblem, mit dem der Westen momentan noch stärker konfrontiert ist als der Osten. Und Madias feine Ironie dabei: Aurora nimmmt als 16-jähriges, "westlich"verwöhntes Luxusmarken-Girl "westliche" Designerdrogen. Deshalb muß sie dann nach den hundert Jahren auch heftig Charakterarbeit leisten, bevor sie sich die Liebe des Prinzen sichern kann. Und er sich im qualvollen Umwerben via Pas de Deux und Soli ihre ebenso.

L(i)eben statt Drogen

Wie schon bei Petipa sind auch Madias Choreografien eng mit Tschaikowskis Musik verwoben, alles fließt und entwickelt Spannung wie im Film. Das trifft sich mit der Affinität der Leute vorort, da sämtliche polnischen Regisseure - Polanski, Wajda, Kieslowski - Absolventen der Filmhochschule Lodz sind. Stehen jene Filmer nun für individuelle Wahrheiten, so findet auch Madia zu einer Erkenntnis, die er kurzerhand zu "seinem" dritten Akt erklärt: Darin deuten vermenschlichte Schachfiguren via charmant getanztem Schachspiel an, dass zum Leben auch der Kampf und das vermeintlich Böse gehören. Und so gerät am Ende der ganze Hofstaat - samt Aurora, dem Prinzen und der nun schwarz-weiss getupften (!) Carabosse erneut unter die Wolke, allerdings ist das jetzt die Wolke des L(i)ebens, mit all seinen Hochs und Tiefs, ganz ohne Ausgrenzung, und ohne Drogen ...

P.S.: Im Mai wird es in Lodz wieder eine abendfüllende Ballett-Neuproduktion von Madia geben. Wer kann, sollte hinfahren. Schon allein, da der Ort (á la "strange Hollywood-Western-Town", nur "östlich" gefärbt) das reinste Abenteuer ist ... Mit extremem Kontrast dazu, dem absolut modernen Ballett von Madia!
Trip-Gefühl garantiert! (e.o.)

Videolink zu Dornröschen-Ausschnitt auf YouTube


DAS URTEIL WIEN KÖNNTE SICH GUTE TÄNZER UND CHOREOGRAFEN LEISTEN - LODZ LEISTET SICH BEGABTE CHOREOGRAFEN (im Sinne von Qualität, nicht Gage ...)

Ballett-Gala in Wien * Mit dem Ballett der Wiener Staats- und Volksoper * Künstlerische Leitung: Gyula Harangozó * Ort: Volksoper Wien * Dirigent: Andreas Schüller * Termine: 21.+28.9., 20.10. * 19h

Spiaca Królewna (deutsch: Dornröschen) * Mit Edyta Waslowska, Joanna Jablonska * Von Giorgio Madia * Ort: Teatr Wielki w Lodzi * Termin: ab 6.10. * 19h