Friday, October 05, 2018

MUSIK-KRITIK: „SPANISH DAYDREAMS“ – PAMELIA STICKNEY und MARIE-THERES RAUBA IM ROTEN SALON WIEN

Spanish Daydreams-Plakat (© Plakat: Chi Rich 2017/Rauba, von OESTIG adaptiert)
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Sehr stimmig: Pamelia Stickney (Theremin) und Marie-Theres Rauba (Klavier) in Francis Poulencs „C´est ainsi que tu es“ (Ausschnitt link)
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Ein Highlight: Pamelia Stickney (Theremin) und Marie-Theres Rauba (Klavier) in Isaac Albeniz „Leyenda“ (Ausschnitt link) 
(Screenshots © Elfi Oberhuber)
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AM 17. NOVEMBER 2017 FÜHRTEN PAMELIA STICKNEY (THEREMIN) UND MARIE-THERES RAUBA (KLAVIER) DAS PUBLIKUM DES ROTEN SALONS DER OESTIG LSG NACH SPANIEN, VERMISCHT MIT FRANZÖSISCHEM FLAIR.      




„Spanische Tagträume“ sind das Motto. – Die Wienerin Marie-Theres Rauba beginnt das Konzert, das sie mit dem amerikanischen Weltstar am Theremin, Pamelia Stickney, zusammengestellt hat, bis zur Pause mit einem Solo. Es enthält Sonaten von Domenico Scarlatti. Da mag man sich fragen, was wohl der italienische Barockkomponist, der von 1685 bis 1757 gelebt hat, mit dem eigentlich programmierten Duett zu tun hat. Zumindest theoretisch kann Rauba den Bezug herstellen, wie sie einführend erklärt: Erstens spiele sie ihr Leben lang „Scarlatti“, und zweitens hätte jener am spanischen Königshof gelebt und spanische Volksmusik und Elemente verwendet. So weit, so gut, eine musikhistorische Frühentwicklung von „Spanish Daydreams“ also.


Für gewöhnlich ist bei guten Scarlatti-Interpreten die „sportliche Leistung“ an Fingerfertigkeit neben den Überkreuzungen der Hände und die Ausdauer in den schnellen Tonrepetitionen sowie das Tonleiterspiel in rasantem Tempo über mehrere Oktaven hinweg bestaunenswert. Rauba meistert diesen Anspruch weniger in der Virtuosität eines leicht scheinenden Spiels, als viel mehr in ihrer bewussten Tempo-Setzung: das Schnelle sitzt zwar nicht so exakt, sie hat aber, wenn es darauf ankommt, Mut zum Gefühl und sichtlich Freude am Spiel; sie vermag es, durch Verzögerung und Reduktion des Tempos eine spannende Betonung zu bewirken. – Man nimmt ihr den Scarlatti auch ab, weil bei ihr das Klavierspiel mit recht kräftigem Tastendruck eigentlich wie das Spiel eines Cembalos klingt, wofür der Komponist einst die Sonaten geschaffen hat. Und Rauba lernte das echte Cembalo zu spielen, noch bevor sie mit dreißig Jahren das Klavier richtig zu studieren begann.



DUETTE SCHÖNSTER LIEDER


Der Auftritt Stickneys hinter ihrem faszinierend ungewöhnlichen Instrument Theremin, das über elektromagnetische Schwingungen funktioniert, stielt Rauba natürlich zunächst die Show. Es scheint fast wie ein Wunder, was für mystisch schöne Töne die starr, fast wie eine Spastikerin wirkende Musikerin aus diesem Kasten hervorzuzaubern vermag. Insbesondere bei dieser wunderschönen Auswahl an Liedern, die man kaum gezielter treffen kann, um eine intellektuell und emotional elitäre, gebildete Atmosphäre von einer „Spanien-Haftigkeit“ zu erzeugen. Das wird noch besser herausgearbeitet, indem hier der Entwicklungszweig zwischen dem Spanischen und dem Französischen aufgezeigt wird. Zuerst spielen die beiden Frauen das zärtlich entrückte „Wiegenlied“ von Manuel de Falla, der 1876 in Spanien geboren und 1946 in Argentinien gestorben ist. Der südamerikanische Gedanke ist der Komposition anzumerken. Auch de Falla liebäugelte im Zuge seiner Kompositionsjahre mit dem Cembalo, weshalb sich dieser als Übergang zum Duett (zumindest theoretisch) sehr gut eignet. Dieser Titel ist aber vor allem entrückend schön und sensibel, was insbesondere das hochkonzentrierte Spiel Stickneys ausdrückt, die hier die Lead-Stimme übernimmt, während Rauba Grundstimme, Takt und Basis liefert. Beide Frauen aber hören einander zu, reagieren aufeinander, und das über das ganze Konzert hinweg. Das nimmt den Zuhörer gefangen, selbst wenn man vielleicht insgesamt noch mehr Gefühl, Sanftheit und Raffinesse hineingelegt haben wollte.



GROSSARTIGE STÜCKE-ZUSAMMENSTELLUNG



Darauf folgt das dreiteilige Chanson von Franzose Maurice Ravel (1875 bis 1937) „Don Quichotte
à Dulcinée“: „Chanson romanesque“, „Chanson épique“, „Chanson à boire“, wo der Spanien-Bezug einerseits durch den literarischen Inhalt besteht, als auch durch die spanischen Themen in der französischen Musik. Stickney und Rauba meistern diese jazzigen Stücke mit Volkslied-Elementen mehr humoristisch als virtuos, was aber auch seinen Reiz hat. Sehr stimmig spielen sie dafür Francis Poulencs (1899–1963)  „C´est ainsi que tu es“, sodass die emotionale Beziehung zweier Menschen getroffen und vermittelt wird.
Genau zur richtigen Zeit erfährt das Konzert darauf seine Höhepunkte, und zwar hintereinander: Mit Spanier Isaac Albeniz (1860–1909), der persönlich den Bogen nach Argentinien und Frankreich zog, gelingt „Leyenda“ auf einem sehr hohen Niveau. Zum rhythmisch schnellen, gut betonten Beginn Raubas summt Stickney subtil tief und hoch mit ihrem Theremin, worauf ein besinnlich langgezogener Zwischenteil mit spanischen Weisen folgt. Hier treffen sich die beiden Musikerinnen vor allem in ihrer gegenseitigen Laut-Leise-Reaktion. Äußerst spannend ist daraufhin „Walzer aus der Sonate für Theremin und Klavier Nr.1“. Es ist den beiden Damen praktisch auf den Leib geschrieben worden, und zwar von Kanadier Alexander Rapaport, dem 1957 geborenen, komponierenden Ehemann von Rauba. – Die beiden haben dieses modernste Stück des Abends sichtlich bereits öfter aufgeführt. Es trägt sowohl romantisch beschwingte, als auch intellektuell zeitdehnende Züge der Neuen Musik.

Darauf folgten schließlich ein verträumtes „Vocalise-Étude“ von Franzose Olivier Messiaen (1908 – 1992), sowie ein besinnliches „Asturiana“ von – wie zu Beginn der Duett-Reihe – Manuel de Falla. Und weil das Publikum nicht genug bekommen konnte, gab es als Zugabe noch den spanisch beschwingten „Dolores-Walzer“ des Franzosen Émile Waldteufel (gestorben 1915)!  a.c.



RESUMÉE PAMELIA STICKNEY UND MARIE-THERES RAUBA IST MIT SPANISH DAYDREAMS EINE SPANISCHE STIMMUNG QUER DURCH DIE MUSIKGESCHICHTE GELUNGEN: DIE BEIDEN MUSIKERINNEN GEHEN DARIN EINFÜHLSAM AUFEINANDER ZU, AGIEREN UND REAGIEREN, SODASS SIE DAS PUBLIKUM ZU GEWINNEN VERSTEHEN. DAS SCHÖNSTE DARAN IST DIE EKLEKTISCH ELITÄRE MUSIKAUSWAHL AUF FEINEM NIVEAU. UND NATÜRLICH DIE MYSTISCHE KOMBINATION VON KLAVIER MIT DEM THEREMIN DER EINZIGARTIGEN PAMELIA STICKNEY.

KONZERT „Spanish Daydreams“ * Von und mit: Pamelia Stickney, Theremin & Marie-Theres Rauba, Klavier * Ort: Roter Salon der OESTIG LSG, Wipplingerstraße 20, 1010 Wien * Zeit: 17.11.2017, 19h30
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Monday, August 20, 2018

MUSIK-KRITIK: "ROTE BRILLE KAMMERKONZERT" UM WALTER BACO, KURATIERT VON WERNER HACKL, IM ROTEN SALON WIEN

Walter Baco hat mit der Serie "Die rote Brille" im Roten Salon der OESTIG LSG einen echten Renner von musikhistorischer Größe erfunden: am 28.9.2017 kuratierte Werner Hackl das Programm ...  Baco selbst improvisierte in Magenta wie ein Freigeist (siehe Link) (© Plakat: OESTIG LSG Elfi Oberhuber, Fotos © privat)

Hemma Tuppy und Vladimir Kacar gelang mit Martha Schwediauers Uraufführung Two Bagatelles for bassoon and piano ein starkes Duett (Ausschnitt siehe link) neben ...

... Anna Mittermeier und Herbert Suchy in Heinrich Gattermeyers Duo für Viola und Kontrabass (Ausschnitt siehe link). Diese Duette waren überhaupt das Beste des Abends. Außer der jungen Solo-Flötistin Iva Mazanik, die in Wilfried Aigners Slapstick Blues beatboxte. - Ein echter Knüller! (Screenshots © Elfi Oberhuber)


DIE OESTIG LSG ERÖFFNET DEN NEU RENOVIERTEN ROTEN SALON MIT WALTER BACOS KONZERTREIHE, „DIE ROTE BRILLE“, KURATIERT VON WERNER HACKL.     




Es ist der 28. September 2017, als Walter Baco, Tausendsassa der genreübergreifenden Künste und doch in seinem Äußersten „Musiker“, im neu renovierten Roten Salon der OESTIG LSG eine weitere Ausgabe seiner Konzertreihe „Die Rote Brille“ präsentiert. Er will in diesem Forum Komponisten und Interpreten zusammenbringen und dies mit seiner selbst geschriebenen oder gelesenen Literatur bestücken. Kuratoren sorgen dabei für immer neue Zugänge hinsichtlich des Themas. Diese Aufgabe wurde diesmal Posaunist Werner Hackl (Präsident ÖGZM, Österreichische Gesellschaft für zeitgenössische Musik) zuteil. Er hat um Baco herum eine aufsehenerregende Auswahl an Instrumentalisten zusammengetrommelt. Sie interpretieren das Who-is-Who der unter Österreichs Insidern bekannten zeitgenössischen Komponistenszene – darunter viele Werke, die weder in der medialen Öffentlichkeit präsent oder jemals gespielt wurden: und das macht das Ganze spannend.




HIGHLIGHT: JUGEND



Dem Anspruch, im Sinne des Fortschritts einen Wegweiser hinsichtlich Werk und Darbietung auszumachen, sodass man sagen kann, „da ist zwischen Arnold Schönberg über Cartoon Network bis zum swingenden Hiphop alles enthalten, was denn auch noch von der Interpretation her einverleibt und im Moment absolut stimmig verstanden wirkte“ – muss man sagen –, wurde die jüngste Künstlerin des Abends am gerechtesten:  ja, die größte Überraschung war Iva Mazanik! Die Zehnjährige „beatboxte“ phasenweise geradezu mit ihrer Flöte durch den kammermusikalischen Slapstick Blues vom mit Nichts als durch seine digitale Medienpädagogik bekannten österreichischen Komponisten Wilfried Aigner. So dass die Akzente nur so funkten. Und das mit einer Selbstverständlichkeit, wie sie nur die natürliche Frechheit eines angehenden Teenagers mit sich bringen kann. Leider lag es an der Ignoranz des Berichterstatters, dass er von vornherein nicht annehmen wollte, dass ihn dieses Mädchen am meisten erstaunen würde, weshalb er die Video-Handy-Kamera erst zu spät drückte. Man kann diese zukunftsreiche Solistin, die trotz Kammermusikzugehörigkeit den Swing in sich und ihr Talent nachweislich mit der Muttermilch aufgesogen hat, nur ermuntern, dieses Stück noch einmal aufzuführen ...


A propos Muttermilch: Ihre in der Spielsicherheit ebenso begnadete Mutter, Martina Mazanik, trat später mit Querflöte auf. Nun ist das ein Instrument, das dem von ihr gespielten Schlangen-Thema Le Serpent noir leider klischeehaft gerecht wird. Nur dass man als Betrachter den Schlangenbeschwörer vor Augen hat, wenn jemand Flöte spielt, und nicht etwa – wie in der sensibel verträumten Komposition des Jazzers Stefan Pelzl – die tanzende, schwarze Schlange ... Ursprünglich hatte Pelzl das Stück mit zweistimmigen Streichern aufgenommen, die wie zwei sich nach oben tanzende, unbekümmerte Schlangen, mit sich in Abwandlung wiederholenden melodiösen Bewegungen raffiniert anmuten. Die einsame Mazanik wirkte dagegen trotz ihrer geraden und kraftvollen Pfeiftechnik etwas „dünn“.



HIGHLIGHT: DUETTE



Auch das Solo von Kontrabassistin Anna Mittermeier, die den Contrabass Dance von der Ukrainerin Bohdana Frolyak vorführte, ging nicht wirklich auf. Sie spielte unkoordiniert und phasenweise verhaspelt. Eine zusätzliche Unstimmigkeit ergab, dass man als Zuhörer unter einem „Tanz“ eine andere Art von Komposition vermutet hätte. Anna Mittermeier bekam aber noch einmal die Gelegenheit zu zeigen, was für eine mit punktgenauem Witz erzählerisch begabte, temperamentvolle Interpretin in ihr steckt – da erkannte man sie als Rock-Göre, die sie als Bandmitglied der Popgruppe N.I.K.O. einschlägig ist: im Duo für Viola (gespielt mit dem stimmführenden Tonkünstler-Orchester-Mitglied, Herbert Suchy) und Kontrabass vom österreichischen Komponisten und Musikpädagogen, Heinrich Gattermeyer. Sie schafften es gemeinsam, eine Spannung aufzubauen und jene im Zuge der drei Teile „Vivace – Larghetto – Vivo“ auch noch zu steigern. Die beiden Musiker, die in dieser Komposition sichtlich ihr jeweils eigenes, gleichzeitig ablaufendes, „männlich“ (ja, auch Anna Mittermeier war als Frau so stark!) souveränes Eigenleben zu führen hatten, lösten ihr bewusstes und doch passendes Gegen-einander-Laufen immer wieder im richtigen Moment bei versöhnenden Melodien auf.

Dass das Duett in der zeitgenössischen Kammermusik überhaupt der beste Nährboden für eine gelungene Kommunikation (nicht nur zwischen den Musikern, sondern auch mit dem Publikum) ist, bewiesen außerdem Fagottist Vladimir Kacar und Pianistin Hemma Tuppy. Ihre Two Bagatelles for Bassoon and Piano von der aus den USA stammenden Komponistin, Martha Schwediauer, war ein geradezu märchenhafter Tripp von einem tonangebenden Fagottisten und einer begleitenden Pianistin, die manchmal auch ein paar Töne vorpreschen durfte, worauf er sie wieder einholte. Eine mitreißende Begegnung von einander wohlgesinnten, eingespielten Partnern.



TOLLE KOMPLEXE KOMPOSITIONEN



Eine schwierige Aufgabe hatte das Frauen-Streichquartett Anima Ensemble (Andrea Frankenstein, 1. Vi. – Chizuko Shimotomai, 2. Vi. – Frolieb Tomsits-Stollwerck, Va. – Aristea Caridis, Vc.) mit  Karlheinz Schrödls vierteiliger Komposition Streichquartett Nr. 5 op. 147 zu meistern. Denn zu viert eine phasenweise sperrige und melodisch – schnell und wieder langsam, energisch und wieder verloren – gegenläufige Neue Musik so zusammenzubringen, so dass sie einen wirklich guten Zug nimmt, benötigt das kunstfertig höchste Tüpfelchen auf dem i. Dass diese Fahrt nicht wirklich losging, lag an der Lokomotive: der Auftakt der Leading-Violine Frankensteins war, gerade wenn es darauf ankam, zu wenig bestimmt und energisch. Wo die Vier einander aber doch immer wieder gut begegneten war die wiederkehrende rhythmische Anspielung auf Strawinkys Le Sacre du Printemps. Insgesamt war jedoch innerhalb der sichtlichen und aufs Publikum übertragenen Anstrengung die vielfältig komplexe und anspruchsvolle Komposition mit durchaus unterhaltsamen Elementen zu erkennen.


Leichter hätte auch das von Flip Philipp durch Joseph Haydn op. 33, Nr. 3 "Vogel" inspirierte „Streichquartett“ wirken können, das die vier Streicherinnen interpretierten. Denn es steckt eigentlich voll charmanter Ironie und Spitzfindigkeit, schon was die Titelabfolge des Komponisten, der auch in der Jazz-Musik beheimatet ist, betrifft: „Bird eats Cat – Cat loves  Bird – The empty Nest“. Der raffinierte Charme dieser inhaltlichen Dramatik blieb leider verborgen.


LEICHTE NEUE MUSIK



Für westliche Verhältnisse der Neuen Musik zu „brav“ und romantisch zu konventionell waren schließlich die Kompositionen der in Österreich lebenden Komponistin am Klavier, Elzbietea Wiedner-Zajac, selbst wenn „Wedding melody“ for piano hinsichtlich der Widmung einem schwulen Paar, Rainer und Thomas, Frechheit versprach, das sich gegenüber dem obligatorischen „Hochzeitlied für Klavier“ für meine Lieben Beata und Patrick zur Trauung, abheben hätte können. Wiedner-Zajacs nur mit linker Hand gespieltes „Oh ferner Vogel ...“, inspiriert  vom Nocturno von Jenö Takács und gesungen von Mezzosopronistin Alina Mazur hatte einen dramatisch spannenden gesprochenen Moment, während „Was sagst Du mir?“(„Co mi mowisz?“) nach dem Gedicht von Karol Wojtyla, komponiert anlässlich der Seligsprechung von Papst Johannes Paul II. sehr ernsthaft, vorwurfsvoll und leidend rüberkam, etwas „altmodisch“, aber mit großer Hingabe dargeboten.


Dagegen wirkte Walter Bacos Improvisation Magenta nach seiner gelesenen „Poesie“ – Ein Auszug aus seinem 2001 erschienenen Roman-Krimi Die Erhebung – wie der Geniestreich eines weisungsfreien Kindes. Er setzte sich spontan an sein Klavier, begann mit sich wiederholenden Klaviertropfen, die sich zu einem temperamentvollen Tonleiter-Spiel anfeuerten. Selbst wenn die Füße und die Hände taktmäßig manchmal nicht übereinstimmen wollten, gelang ihm ein Gefühl von Dramatik, Anspannung und zärtlicher Auflösung. -  Ein unverkrampfter Kontrapunkt innerhalb der in diesem Rahmen gezeigten Neuen-Musiker-Zunft mit höchstem Vorhaben und ebensolchen Zielen, der zeigt, „es kann auch einfach mal nur "so" gehen“. r.r.




RESUMÉE DIE ROTE BRILLE, ERFUNDEN VON WALTER BACO, IST DIE GELUNGENE AUSSTELLUNGSREIHE ÜBER DIE NEUE MUSIK IN ÖSTERREICH. DURCH WECHSELNDE KURATOREN KOMMT ES ZU IMMER WIEDER NEUEN BLICKEN AUF ENTWICKLUNGSTENDENZEN DER NEUEN MUSIK IN EINEM STIMMIGEN ABENDPROGRAMM. DARÜBERHINAUS TREFFEN SICH HIER LIVE INTERPRETEN, KOMPONISTEN UND BACOS LITERATURAUSWAHL! – KURATOR WERNER HACKL HAT SEINEN BESTEN BLICK AUF VIELVERSPRECHENDE JUNGE NEWCOMER- UND DUETT-INTERPRETEN UND AUF UNTERSCHIEDLICHE, IM RAHMEN DER NEUEN MUSIK DURCHAUS UNTERHALTSAME KOMPOSITIONSSTILE GERICHTET.

KONZERT Rote Brille Kammerkonzert um Walter Baco, kuratiert von Werner Hackl * Moderator und Kurator: Werner Hackl * Mit: Iva Mazanik, Flöte (Slapstick Blues von Wilfried Aigner), Anna Mittermeier, Kontrabass (Contrabass Dance für Kontrabass solo von Bohdana Frolyak), Elzbieta Wiedner-Zajac, Klavier („Wedding melody“ for piano, 2017 UA, Hochzeitslied für Klavier, 2007), Vladimir Kacar, Fagott – Hemma Tuppy, Klaiver (Two Bagatelles for Bassoon and Piano UA von Martha Schwediauer), Herbert Suchy, Viola, Anna Mittermeier, Kontrabass (Duo für Viola & Kontrabass. Vivace – Larghetto – Vivo von Heinrich Gattermeyer), Walter Baco, Klavier (Magenta), Anima Ensemble Wien: Andrea Frankenstein, 1.VL – Chizuko Shimotomai, 2. Vl. - Frolieb Tomsits-Stollwerck, Va. – Aristea Caridis, Vc. (Streichquartett (inspiriert von J. Haydn op 33, Nr. 3) Bird eats Cat – Cat loves Bird – The empty Nest von Flip Philipp), Martina Mazanik, Flöte (Le Serpent noir für Flöte solo von Stefan Pelzl), Alina Mazur, Mezzosopran – Elizbieta Wiedner-Zajac, Klavier (Oh ferner Vogel... (Vocalise) für Gesang und Klavier, linke Hand allein (2007) inspiriert vom Nocturno (II. Satz der Sonatine für Klavier) von Jenö Takács, Was sagst du mirm(„Co mi mowisz?“), Lied für Gesang und Klavier, nach dem Gedicht von Karol Wojtyla), Anima Ensemble Wien (Streichquartett Nr. 5 op. 147, Allegro burrascoso – Moderato – Quasi Tango – Schnell von Karlheinz Schrödl) * Ort: Roter Salon der OESTIG LSG, Wipplingerstraße 20, 1010 Wien * Zeit: 28.9.2017, 19h30

Tuesday, September 20, 2016

impulstanz 2016 – Tagebuch 9: WIM VANDEKEYBUS´ BLICK INS „SPEAK LOW IF YOU SPEAK LOVE ...“-UNBEWUSSTE

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--> Vandekeybus kehrt das Sprichwort „Liebe macht blind“ um: bei ihm sind die ohne Kopfstrumpfmaske die Sehenden: sie sehen ins Unbewusste, das die Liebe zulässt.
--> Solange die Menschen die Kopfmasken tragen, wehren sie sich gegen das verführerisch-zerstörerische Dirigat der Venus (Jazz-Sängerin Tutu Puoane in samtigen Operntönen), die sie mit dem Seil in ihren Liebesbann zieht. Denn sie ahnen, dass sie ihre süchtige Leidenschaft durch abrupte Paartrennung oder Seelenschmerz beenden wird.
--> Mit der Venus im Bunde steht der Teufel: Musiker Mauro Pawlowski. Er verführt wie sie mit seiner Musik.
--> Gegen die gefürchteten Qualen wappnen sich die Menschen in der Gruppe. Sie entledigen sich dank einheitlicher Frauenkleidung ihrer Herkunft, Geschlechter und Vorurteile ...
--> ... sie begeben sich in einen archaischen Kriegstanz, der dem irischen Volkstanz entlehnt ist und in eine allgemeingültige Tanzsprache transferiert wurde.
--> Der Entschluss, sich auf die ungewisse Reise der Liebe zu begeben, entspricht einem Wikinger, der sich per Schiff mit schützender Galionsfigur gegen das zu erwartende Unheil wappnet. (Fotos © Danny Willems)


Wie ein Traum, der einen vor Leidenschaft und Angst schwitzen lässt.


4.8., gegen 23h, im Wiener Volkstheater:




Keine Frage, die 16 Jahre sind erkennbar, die zwischen dem zu Beginn des ImPulsTanz-Festivals gezeigten Revival: In Spite of Wishing and Wanting und dem 2015 uraufgeführten Speak low if you speak love ... stehen. Wäre ja auch ungewöhnlich, wenn ein sensibler Mann wie Vandekeybus dramaturgisch nichts hinzu lernen würde. Im Gegensatz zum frühen Stück ist dieses neue Werk innerhalb der Szenen so verstrickt, dass eingeführte Elemente und Personen später wieder kehren oder eine Wendung erfahren. So wird die Erzählweise filmisch und spannend.

Zudem balanciert der Choreograf die Widersprüche  der, seinem Stück zugrunde liegenden, klassischen Stoffe gekonnt aus: das antike Mythos (sechs verschiedene Begriffe für sechs verschiedene Arten der Liebe bei den Griechen), Shakespeare („Speak low if you speak love“ ist ein Zitat aus Viel Lärm um nichts und bedeutet sinngemäß: „Sprich leise, wenn du es mit der Liebe ernst meinst“) sowie den Musicalursprung (dasselbe Zitat verwendete Kurt Weill im Schlüsselsong des Musicals One Touch of Venus). Das ganze Stück schwingt somit zwischen Himmel und Hölle, Rock und Lyrik, ohne die Gegensätze getrennt oder einander feindlich gesinnt, sondern von einander abhängig und sich bedingend darzustellen. Selten hat etwas so schön harmoniert wie hier, wenn klassisch ausgebildete Balletttänzer mit wagemutigen, persönlichkeitsstarken Ultima-Vez-Tänzern zur achtköpfigen Einheit verschmelzen: Jamil Attar, Livia Balazova, Chloé Beillevaire, David Ledger, Tomislav English, Nuhacet Guerra Segura, Sandra Geco Mercky und Maria Kolegova. Und doch erreicht diese Einheit durch die filigrane Ballettnote insbesondere der Damen, die hier in gewohnt temperamentvoller, leidenschaftlicher und alles gebender Vandekeybus-Sprache tanzen, erst jene edle Nuance, die das Stück für seinen archaischen Ausdruck und seine allgemein gültige Liebesbotschaft braucht.

Das Wesen der Liebe pendelt ebenso in einander bedingenden Gegensätzen von Beginn und Ende, Hoffnung und Enttäuschung, Leidenschaft und Leid. Es ist die mit schwarzer Afro-Stimme singende Venus Tutu Puoane, die den unberechenbaren Verlauf zwischen Glück und Unglück bringt. Sie steht im Bunde mit dem „Teufel“, dem Musiker Mauro Pawlowski, der mit seiner Gitarre zur darstellenden Besetzung gehört. Insofern begleitet hier die Musik nicht, sondern sie spielt das Geschehen steuernd und personalisiert „mit“.


Dieses Stück entspricht aus Sicht der Opern-Theater-Entwicklung einem echten Gesamtkunstwerk in Wagnerschem Sinne, das die Nummernoper eines Verdi (die ich erzähltechnisch in Revival: In Spite of Wishing and Wanting sah) als Vorläufer der heutigen zeitgenössischen Oper „ablöste“ (interessant, dass diese Komponisten gleichzeitig lebten, der eine in Deutschland, der andere in Italien). Wim Vandekeybus mit den Opernkomponisten Verdi und Wagner zu vergleichen, ist berechtigt, weil er wie beide von großen Gefühlen erzählt und wie Wagner Zeitdehnung betreibt. Kaum ein zeitgenössischer, Geschichten erzählender Choreograf macht heute noch so lange Stücke wie Vandekeybus: 110 bis 120 Minuten ohne Pause. Und sind Stücke lang, spielt eben die Spannungshaltung und das Ineinandergreifen von jedem kleinsten Element zu einem permanent fließenden Ganzen eine enorme Rolle.

Nach diesem Prinzip ergreifen dramatische Bilder tatsächlich: wenn zu Beginn ein mit Kopfstrumpf alltagsblinder Mann mit einem Wurfseil versucht, das Publikum auf die risikoreiche Liebesseite hinüber zu ziehen.
Dorthin, wo
der „Wald“ steht, der wie in der mythologischen Symbolik eines Shakespeare zum Finden der wahren Liebe beiträgt, indem er die eintreffenden Menschen von ihren Konventionen und herkunftsmäßigen Anlagen wie Geschlecht, Überzeugungen und Vorurteilen befreit.
Dorthin, wo
die Voodoo-Sirene Puoane ihre Befehle der Verführung gibt, wo Lust und Vertrauen nach großer Hingabe durch plötzlichen Entzug „bestraft“ werden.
Aber was kann das Leben der kopfstrumpfblinden Menschengruppe sonst bieten – einen existenzialistischen, grazilen Bodentanz, der auch ohne Sex und Liebe nur Angst und Gefahr bringt.
Da ist es doch für einen auserwählt Sehenden unter den Blinden besser, sich von der heimtückischen Venus den Schleier entfernen und sich mit vom Musikerteufel übergebenem Gold beschenken zu lassen, das auf den Boden fällt. Allein der Klang genügt, damit die anderen sich blind, instinktiv und gierig darauf stürzen. Daraufhin tanzt ein Paar zur Kirchenorgelmusik, während Pawlowski singt, „without my eyes, I keep on sleeping“.

Die Venus fängt mit ihrem Seil weitere Paare im blinden Schlafzustand ein, die ziehend dagegen ankämpfen, auch der einzige Sehende unter ihnen zittert vor Angst. Bis alle ihre Angst überwinden und ihre Kopfbinden abnehmen. Damit kann das bewusste Abenteuer ins Reich der unbewussten Gefühlsodyssee beginnen. Asiatisch-fremde Gitarrenklänge begleiten ein harmonisches Männerduett, das auf Dirigat der Venus von einer nackten Frau gestört wird. Dann quält die Venus einen Mann im Frauenkleid. Ein irisch-rhythmischer Torero-Stepptanz der ganzen Truppe in demselben Kleid mit „Hey“-Rufen zum Schlagzeug-Solo, zu dem auch Puoane im Afrotanz einstimmt, gleicht einem ästhetisch schönen, kriegerischen Aufruf, sich dem Risiko, der Gefahr und dem Schmerz zu stellen. Mit Hecht- und Rundsprüngen werfen sich die Paare hinein, in ein treibendes Musikuniversum aus zwei Schlagzeugen und einer Tabla, wobei ein Schlagzeug samt Spieler auf einem Teppich über die Bühne gezogen wird.

Daraufhin fährt ein Mann wie auf einem Schiff einher, vor seinem Mast eingespannt ist eine Frau, die als Galionsfigur den Kurs des Schiffes beobachten und vor Unglück bewahren soll. Der mit Holzbrettern auftretende Urtyp eines Mannes, Tomislav English, passt bestens dazu. Er erinnert an die ungestümen Wikinger-Seefahrer. Aus den Brettern wird später ein Sarg gemacht, in den sich ein Liebender legen muss, nachdem die Venus befunden hat, dass seine Liebe zu einer Frau plötzlich nicht mehr sein darf. Jene Frau weint dem Mann zunächst nach, begegnet dann aber einer neuen Liebe. Und auch der Mann im Sarg wird später schreiend aufwachen und weiter auf Liebessuche gehen. So wie etliche Paare, die Liebesschmerzen bis aufs Blut hinnehmen werden.


Atemberaubend elegant und geheimnisvoll spannend ist vor den wachsamen Augen eines Mannes das leidenschaftliche Duett der blonden Ballerinas in Herrenkleidung, Slowakin Livia Balazova und Russin Maria Kolegova, die eine mit langem Haar, die andere mit kurzem. Das Duett mündet in einem edlen Gruppentanz mit vier drehenden, heterogenen und gleichgeschlechtlichen Paaren. Ein kurzes Bild von einem Mann mit einer schwangeren Frau zeigt, dass hinter all dem dramatischen Beziehungsgeflecht – wie nebenbei – die Fortpflanzung stattfindet. Und doch möchte jeder dem Liebesleid entgehen.

Vandekeybus stellt in Aussicht, wie es wäre, wenn die Venus im Sarg weggesperrt würde: dann würde der nicht spielende, nur berechnende Teufel regieren, und das wäre weit deprimierender, weil die schöne, berauschende, Glückshormone ausschüttende Seite dann auch fehlen würde. Deshalb entkommt die Venus wieder, und das Spiel mit einer Tänzerin, die einen Zuschauer mit dem Lasso einfängt, kann von Neuem beginnen ... e.o.



DAS URTEIL EIN PERFEKT ABGESTIMMTES EMOTIONSABENTEUER DURCH DIE GEHEIMNISVOLLEN HÖHEN UND TIEFEN DER EROTIK UND LIEBE. EIN DRAMATISCHES GESAMTKUNSTWERK, GETANZT VON LEIDENSCHAFTLICH-FEINEN TANZKÖNNERN ZWISCHEN HIMMEL UND HÖLLE, ERHABENHEIT UND ERDIGKEIT. – ZEITGEMÄSSER UND DETAILBEDACHTER LÄSST SICH EIN SHAKESPEARE-MYTHOS KAUM DARSTELLEN.



TANZTHEATER Speak low if you speak love ... * Regie, Choreografie, Bühnenbild: Wim Vandekeybus * Von und mit: Jamil Attar, Livia Balazova, Chloé Beillevaire, David Ledger, Tomislav English, Nuhacet Guerra Segura, Sandra Geco Mercky und Maria Kolegova * Originalmusik (Live): Mauro Pawlowski, Elko Blijweert, Jeroen Stevens, Tutu Puoane * Künstl. Assistenz, Dramaturgie: Greet Van Poeck * Styling: Isabelle Lhoas * Lichtdesign: Davy Deschepper, Wim Vandekeybus * Ort: Volkstheater Wien * Zeit: 2.+ 4.8.2016, 21h

Tuesday, August 23, 2016

impulstanz 2016 – Tagebuch 8: „CLAPTRAP“-AMOUR FOU VON DER „JUNGEN“ MARION DUVAL MIT DEM „ALTEN“ MARCO BERRETTINI


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Was sich dieser Mann (Marco Berrettini) nicht alles gefallen lässt, von der mächtigen Frau (Marion Duval), die ihn ....

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... nicht einmal liebt. Oder vielleicht liebt, aber nur mit ihm arbeiten will ...
(Fotos © Yvonne Dickopf)

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Solange sie auf der Bühne stehen, läuft alles perfekt. Selbst die „größte“ Zaubernummer: da gibt Duval sogar seine Assistentin.

 
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Hinter der Bühne aber ist sie „Claptrap“, ein quasselnder, gefühlszerrissener Roboter zwischen Macht- und Ohnmacht-Obsessionen. Da kann sich Berrettini noch so sehr anpassen, sie will ihn als Liebespartner nicht erhören. (Fotos: © Dorothée Thébert Filliger)



Welch unmögliches, passendes Paar!




3.8., gegen 24h, im Wiener Schauspielhaus:




Was zählt für eine mittelalterliche Frau, wie mich, am Ende dieser 2h45min-dauernden Aufführung Claptrap?
– Das Dilemma der darin gezeigten Amour-fou-Beziehung.
Und dass ich ohne schlechtes Gewissen schmunzeln konnte.
Beides nicht selbstverständlich beim ImPulsTanz-Festival.

Beziehungen spielen sich hier in den Aftershow-Parties ab, zu denen ich nicht hingehe.
Ich bedanke mich an dieser Stelle, weil mich die Einladungen trotzdem freuen.
Die ImPulsTanz-Leute sind ja sehr angenehme Menschen ohne versteckte Aggressionen. Sie bewegen und diskutieren sich den Alltagsfrust sozusagen von der Seele.
Ginge ich hin, würde ich kein Wort über die Stücke schreiben.
Weil ich schon vieles ausgesprochen hätte.
Und alles Nur-Ausgesprochene wird in der Regel wieder vergessen.


Mich beschäftigt die „junge“ Marion Duval wegen ihres im Stück dargestellten Gefühlszustands.
Sowie der„erfahrene“ Marco Berrettini, wie er als Mann mit der ihm eigentümlichen Distanz auf „ihr“ Gefühlswirrwarr reagiert.
Ihr Altersunterschied von zwanzig Jahren erscheint mir nicht zu groß.
Wenn jüngere Frauen auf ältere Männer stehen, zeichnet sich das sowieso im Kindesalter ab.
Das ist so ähnlich wie mit der Homosexualität.
Der von Marion Duval empfundene Unterschied im Alter ist daher weniger der Grund für die Unmöglichkeit ihrer Beziehung als jener ihrer Charaktere.
Es gibt unterschiedliche Charaktere, die insgesamt harmonieren, und es gibt unterschiedliche Charaktere, die für eine gewisse Zeit für einander spannend sind, am Ende aber nicht harmonieren.


Da wird also das Stück von dieser selbst bezeichnet talentiert-geltungssüchtigen, quasselnden Künstlerin (eh schon 32 Jahre!) zwischen Bühne und Zuschauerreihen eröffnet. Neben ihr der etablierte, für gewöhnlich auf Reflexion bedachte Performance-„Star“ und ihr ehemaliger Geliebter, Marco Berrettini (eh erst 53!). Bei ihm sitzt jede Pointe, originell, kein Wort zu viel. Sie ist zerrissen, sowohl in plötzlich zwischen Manie und Depression kippenden Emotionsgegensätzen, als auch in ihren Gedanken.

Was sie an einander fasziniert, ist ihr („schweizerischer“) Humor, ihr Lachen über unmögliche, „geschmacklose“ Pointen. Deshalb auch das Prinzip der unpassenden Szenenabfolgen dieser „Groteske“. Möglicherweise liegt es an Duval, der „zuliebe“ sich Berrettini darauf einlässt: „Ich wäre ohne sie nicht da, weil ImPulsTanz „meine“ Show nicht gekauft hätte“, gibt er trocken während der Kommunikationseinführung mit dem Publikum zu bedenken. „Ohne entsprechende Stimmung kann das Stück nicht beginnen“, ergänzt sie, die hier für Regie und Konzept verantwortlich ist. „Pina ist tot, und Cunningham ist tot, und ich fühl mich dabei nicht so gut“, meint Berrettini über sich selbst lachend, „und das war noch mein bester Witz für heute“. Dann gibt´s noch ein paar Angriffe aufs österreichische Publikum, um die letzten Schranken zu brechen: „Vienna Calling, sagte Regensburger zu mir, Leute aus den 80ern verstehen das. Rock Me Amadeus ist kein Nazi-Spruch.“ Und die Aussicht: „Es wird noch richtige Drachen geben.“

Damit beginnt die eigentliche Show des einmal auch privaten Paares: Nach dem legeren Erstauftritt erscheint Berrettini im Smoking und animiert die im schwarzen Abendkleid mit sensationellem Dekolleté auftretende Duval zum übermäßigen Sektgenuss. Das ist der Auftakt zur slapstickhaften Doppelconférence, wo zwar klar ist, wer der klügere, aber nicht, wer der mächtigere ist. Sie ist mächtig, weil sie privat inzwischen einen anderen und hier die Führungsrolle hat. Sie raucht ihm ins Gesicht, er lässt es sich gefallen. Sie küsst ihn, aber ohne Zunge, was ihn stört. Darauf folgt eine Zauberer-Assistentin-Nummer zur Musik Nino Rotas, wo jeder konventionelle Trick in der Offensichtlichkeit endet. Jetzt erst öffnet sich der Bühnenvorhang und zwei riesige Papierdrachen erscheinen: Berrettini und Duval befinden sich in den Drachen, einander drohend umgarnend und bekämpfend. Bis die Bühne mit Schachbrettboden zusammenfällt. Pause.
 
Nach einem erfrischend leichten Gene-Kelly-Steppduett wird es spannend: die beiden Künstler ziehen sich auf der Bühne um, die jetzt zur Garderobe geworden ist. Als Duval ihren BH öffnet, ist man erst mal verblüfft, dass ihr Busen tatsächlich so übermäßig groß ist, sichtlich, ohne operiert worden zu sein. Vom schwarzen Hosenanzug wechseln sie ins weiße Paar-Outfit. Und alles, was das Publikum sieht, sind die Auf- und Abläufe über eine quergestellte Treppe, was es hört, sind Applaus und Dialoge von der seitlichen Hinterbühne. Wir erleben also die nüchterne Realität hinter der Illusion des schillerndes Ex-Pärchens, das da in angespannter zwischenmenschlicher Stimmung seinen Bühnenjob verrichtet.

Nach der Show zieht sich Duval Rollschuhe an, die ihre jugendliche Befindlichkeit verstärken. Er solle nicht bleiben, meint sie. Sie findet aber den Weg nicht hinaus und stolpert ununterbrochen über Stühle. Als sie hinter der Bühne verschwindet, kommt er mit einem zu ihren Rollen passenden Scooter in gut ausgefüllter Unterhose daher, deren Inhalt sich aber wenig später als Banane offenbart. – Duval ist mit ihrem Busen also „echt“ sexy, er tut nur so. – Sie erscheint in einer unförmig riesigen Schaumstoff-Roboter-Polsterung mit eckigem Gesichtsausschnitt, sodass sie, wenn auch geschützt vor Prellungen, noch ungelenker herumkugelt. Jetzt ist seine Zeit gekommen, wo „er“ ihr Herr sein kann: er tritt und hüpft auf sie drauf. Sein Liebesbekenntnis über das Mikrofon danach hilft nichts, „ich vertraue dir nicht“, sagt sie. „Ich bin deshalb noch in der Show, weil ich dich liebe“, antwortet er, und das klingt echt echt. Das knappe, gefühlsmäßige Verpassen ihrer beider Bedürfnisse zeigt ihre Kleidung, die sie wechseln, wobei er aber erst dann ihren Stil und ihre Farben trägt, wenn sie sich schon wieder umgekleidet hat. „Komm, lass uns ins Burgtheater gehen“, sagt der routinierte Berrettini, um das Spiel mit der After-Show-Party endlich zu beenden. Aber eben diese Routine reicht der Duval nicht, sie erkennt: „Ich will stärker und Opfer zugleich sein. Du bist alt, ich bin jung.“ Das hört er aber nicht mehr, und vielleicht ist das auch besser für ihn.

Ich lese später nach, was „Claptrap“ eigentlich bedeutet: Es handelt sich dabei um einen kleinen, schreckhaften Spielkonsolen-Roboter in der Form eines Kastens mit einem Bildschirm als Auge.
Wegen eines Programmierungsfehlers quasselt er ununterbrochen, schlicht, weil er alles, was er denkt, aussprechen muss.
Von akuter Geltungssucht geplagt, hält er sich für den Größten, sodass sein Spieler, dem er die Türen öffnet, immer nur Untertan sein kann.
Verblüffender Weise ist er trotz seiner Ungelenkigkeit von einem Rad als Beine ein guter Tänzer: er steppt virtuos, seine Schwäche sind jedoch Treppen.
– Es zeugt doch für große Selbstironie und Distanzfähigkeit, sich als Frau mit so etwas charakterlich gleichzusetzen.
Und vielleicht ist Fräulein Duval ja in Wahrheit weniger weit von Berrettini entfernt, als sie glaubt.


Schön, dass sich Berrettini und Duval trotz ihrer gefühlsmäßig deklarierten Unvereinbarkeit am Ende mit lachenden Gesichtern verbeugt haben. Denn, was ist schon echte Liebe? – Hauptsache, man kann etwas Intensives miteinander schaffen. e.o.




DAS URTEIL MARION DUVAL IST IN IHRER WEIBLICHEN GEFÜHLSZERRISSENHEIT UND -ÜBERLADUNG AUSSERGEWÖHNLICH KOMISCH. MARCO BERRETTINIS KNAPP UND EXAKT PLATZIERTE POINTEN SIND ABER DIE HÖHERE KUNST. WEIL EIN PRINZIP DER KUNST DAS WEGLASSEN IST. – DENNOCH EINE ERFRISCHENDE, DA WAHRHAFTIGE BEZIEHUNGSKISTE INNERHALB DES IMPULSTANZ-PROGRAMMS.



THEATER - PERFORMANCE Claptrap * Konzept & Text: Marion Duval * Performance: Marco Berrettini, Marion Duval * Künstlerische Mitarbeit: Louis Bonard* Bühnenbild: Florian Leduc * Kostüm: Severine Besson * Dramaturgie: Adina Secretan * Skulpturen: Djonam Saltani * Choreografie: Noémie Maton Dujardin * Ort: Schauspielhaus Wien * Zeit: 3.8., 21h; 5.8.2016, 23h