Tuesday, July 27, 2010

TANZ: MAILLOT UND HARING VERFÜHREN LES BALLETS DE MONTE CARLO










Sie hält seine Sehnsucht an der langen Leine: Anjara Ballesteros und Jeroen Verbruggen in Daphnis Et Chloé (Foto © Les Ballets de Monte-Carlo)



Er hat keine Sehnsüchte mehr: Gaetan Morlotti in Sacre: The Rite Thing. (Foto © Chris Haring)


ODEON - IMPULSTANZ DAPHNIS ET CHLOÉ MACHT EINEN INTERESSANTEN AUFTAKT, SACRE: THE RITE THING HAELT EINEN UNENDLICH IN ATEM

Es gibt im Tanz, im Theater und überhaupt in der Kunst nicht viele Wege, wie ein Werk einschlägt. Fast könnte man dann sagen, das funktioniert nach einem Schema. Das Problem dabei ist nur, geht jemand streng nach Schema vor, könnte das Werk steril und vorhersehbar werden. Und dann ist es schon wieder fad: es sich anzuhören, anzusehen, abzusitzen. Die Gratwanderung, ein Schema zu haben und dennoch spannend zu bleiben, wurde in zwei bestimmten, an einem Abend gezeigten ImPulsTanz-modernen Ballets-Russes-Inszenierungen mit Balletttänzern von Les Ballets De Monte Carlo erreicht: in jener des Ballettchoreographen Jean-Christophe Maillot und jener des zeitgenössischen Choreographen Chris Haring; und zwar in ansteigender Intensität.

Schema 1 der Bühnenwirkung: die Mehrdeutung

Zunächst stören in Ballettleiter Maillots neu interpretierter Teenagerliebe Daphnis et Chloé, worin zwei junge, temperamentvolle Ballettkünstler - intelligent-naiv (ver)führend Anjara Ballesteros und vital-sehnend Jeroen Verbruggen - "das erste Mal" erleben, zwei ältere und in Sachen Erotikspiele mit allen Wassern gewaschene Ballettkaliber: Gaetan Morlotti und Bernice Coppieters. Dankbarerweise, denn so bleibt der Kitsch einer pantomimisch betonten Koketterie-Beziehung nicht in den Kinderschuhen, sondern wächst zur Mehrinterpretation heran. In der Originalgeschichte manipulieren noch eindeutig Pan und Nymphen die Liebesanbahnung des jungen Hirtenpaars. Hier wirken die zwei älteren, erfahrenen Gespielen durch Provokation zu Eifersüchteleien durch Bevorzugung eines Anderen (der Junge flirtet - sprich: tanzt - meist mit der Älteren, und die anderen beiden - vor allem die noch nicht bereite Junge - schauen ihnen dabei zu) einerseits wie Sparingpartner, zuweilen aber auch wie das zeitversetzt reife Paar, sodass man die erste und die erfahrene Liebe parallel zu sehen glaubt. Als sagten die Beiden, "so wird es einmal mit uns, so war es einmal mit uns".

Damit ist das erste Schema der unbedingten Kunstwirkung - die Mehrdeutung - erreicht, indem der Zuschauer intellektuell einen Rückblick auf ein Leben sowie einen Blick auf die Geheimnisse reizvoller Erotik durch wechselnde Machtverhältnisse richten kann. Noch besser wäre allerdings gewesen, es hätte ihn zumindest einmal der magische Moment eines echten Liebesgefühls getroffen. Dazu kommt es bei aller perfekten Tanzerei nie, obwohl auch noch im Hintergrund schöne, auf drei weiße Wände projizierte Aktzeichnungen von Ernest Pignon-Ernest die Körper parallel immer mehr im Sexakt verschweißen wollen, jedoch im Versuch eines Ansatzes, Bild und Tanz zu vereinen, stecken bleiben.

Schema 2 der Bühnenwirkung: Effekt durch Einheit von Bild und Ton

Harings Sacre: The Rite Thing trifft danach mit seiner Anspielung auf den Ballettklassiker Le Sacre Du Printemps tatsächlich ins Magische einer Rezeptionswirkung: nicht weil da thematisch irgendetwas Gefühlvolles gezeigt würde, sondern weil das Zusammenspiel von Musik und lichtchangierendem Tanzbild auf absoluten Effekt eines Gesamtkunstwerks (Set Design: Thomas Jelinek) hin getrimmt ist, und das, ohne platt oder kommerziell zu werden. - Obschon es als amerikanischer Science-Fiction-Tanz in Neonfarben bezeichnet werden könnte. Die größte Spannung bringt über das ganze Stück hinweg die geniale Tonmischung mit zeitweisem "Sprechgesang der Tänzer" von Andreas Berger (Glim), in der der Zuhörer in einem verzerrten Techno-Klangteppich ständig ansatzweise mit dem berühmten Strawinsky-Auftakt geködert wird, sodass er fast zu zerspringen glaubt.

Die Verführung - das Kernthema des Originalstücks - läuft somit nur über die Musik, was die Aktionen auf der Bühne akustisch und optisch unterstreichen. Aktionen von Gesten und Schritten, die lediglich aus Versatzstücken, Sezierelementen bis zur grotesken Vernichtung bestehen. "Spring" wird zum Beispiel zur persönlichen Assoziationspoesie über den Frühling einer Tänzerin umgedeutet. Die erkennbar und exakt angerissenen altgriechischen Haltungen des Nijinsky-Originals werden originellerweise und wiederholt mit plumpen und kraftvollen Schritten kombiniert und akustisch durch ein verzerrtes Stampf-Echo so verstärkt, dass sie fast einzementiert zu sein scheinen. Da diese groben Schrittfolgen aber alle oder mehrere von den sieben Tänzern - entweder als Tutti, synchron oder spiegelverkehrt - in harmonischer Raumaufteilung machen, entsteht wieder so etwas wie ein grafisch-edles, neuzeitliches Bild. Genau genommen besteht die ganze Aufführung aus eindringlichen, gedehnten Momentaufnahmen, wobei Bild und Ton nie auseinander, sondern synchron verlaufen. (Der Effekt!) Und im Unterschied zu sonst, wenn Haring mit seinen zeitgenössischen Tänzern arbeitet, bekommt seine Arbeit mit diesen klassisch ausgebildeten Tänzern auch endlich den erhöhten Kunstcharakter, für den er bereits mit dem Goldenen Löwen der Biennale von Venedig ausgezeichnet worden ist. Mit einem Wort: Harings Arbeit ist jetzt nicht mehr "nur alternativ", sondern in der hohen Kunst angekommen.

Enttäuschende Finale

Schade ist bei beiden Werken das Ende. Ganz daneben und plump läßt Maillot seine beiden Teenager für das Ziel des Koitus im Hintergrund aufeinander liegen, während die projizierten Körperzeichnungen in Mehrfachlinien aufeinander klumpen. Man hätte sich eher gewünscht, der Choreograf hätte nach seiner über das ganze Stück konkreten Erzählweise ein ungewisses oder offenes Ende der Beiden gefunden.

Umgekehrt ist es bei Haring, der schon inhaltlich permanent das Originalthema - die Verführungsmetapher, worin ein junges Mädchen lüsternen alten Männern geopfert wird - entmachtet, indem er praktisch jedes Handlungsdetail und die gesamte Inszenierungsgeschichte des Ballettklassikers veräppelt, wie das Spitzentrippeln über Echo zu verstärken, einen Tänzer in Erinnerung an seine Sacre-Proben zum Zombie verkrümmen zu lassen, oder eine "romantische" Tänzerin als Kinderstimme zu verzerren, wenn sie sich danach sehnt, tot auf Männerhänden getragen zu werden. Und dann findet er auch noch so ein Ende: ein die Anderen dirigierender Tänzer, entpuppt sich als Teufel, der niemanden liebt und begehrt außer sich selbst (indem er sich ableckt). Schöner wäre es gewesen, auch ans Publikum zu denken und den heiß begehrten Strawinsky-Akkord endlich voll auszuspielen: denn wenn schon zeitgenössische Tänzer nicht mehr (von jemand anderem) befriedigt werden können, so heißt es noch lange nicht, dass die ganze Welt so selbstlos sein will. Abgesehen davon, dass ein temperamentvolles Ende das letzte Viertel kurzweiliger gemacht hätte ... e.o.


DAS URTEIL MAILLOT LIEFERT MIT DEM MONTE-CARLO-BALLETT EINE INTERESSANTE ARBEIT, WÄHREND HARING EINE UNGEMEINE SPANNUNG DURCH DIE MUSIK VON ANDREAS BERGER UND EFFEKTREICHE MOMENTAUFNAHMEN ERZEUGT. NUR DAS FINALE IST BEIDEN NICHT RECHT GELUNGEN.

TANZ Daphnis et Chloé * Musik: Maurice Ravel * Choreografie: Jean-Christophe Maillot * Mit: Ensemble Micrologus * Dramaturgie: Guy Cools * Mit: Les Ballets De Monte-Carlo: Anjara Ballesteros, Bernice Coppieters, Gaetan Morlotti, Jeroen Verbruggen * Ort: Odeon * Zeit: 19.-27.7.2010: 21h

TANZ Sacre: The Rite Thing * Choreografie: Chris Haring / Liquid Loft * Sound: Anreas Berger (Glim) * Licht: Thomas Jelinek * Text, Theorie: Nicole Haitzinger, Fritz Ostermayer * Mit: Les Ballets De Monte-Carlo: April Ball, Gioia Masala, Quinn Pendleton, Olivier Lucea, Giovanni Mongell, Gaetan Morlotti, Chris Roelandt * Ort: Odeon * Zeit: 19.-27.7.2010: 21h