Monday, May 21, 2007

BALLETT / POLEN 2: CULLBERG BALLET-WIRBEL IN "ALUMINIUM" und "WALKING MAD"

In Mats Eks Aluminium ist die expressive Johanna Lindh vom Cullberg Ballett eine Frau, die es in ihrer Rolle/Partnerschaft nicht mehr aushält. (Aluminium-Fotos © Lesley Leslie-Spinks)
Die Tänzer strömen als massiver Gefühlswirbel herein, der irgendwann zerbricht, wie die Teller der Frau...
... und wie ihre Liebe zu ihrem Mann (Rafi Sadi).
Da kann man sich vor den Scherben des Pechs nur verbiegen und wundern!

Johan Inger stellt zwischen dem Paar in Walking Mad bildwörtlich eine Wand auf - sie ist zwischen ihnen, dient manchmal einem von ihnen aber auch als Halt, wenn´s hart auf hart geht, etwa ... (Walking Mad-Fotos © Urban Jörén)
Manche Frau setzt ihrem Mann auch einfach Hörner auf; mancher Mann nimmt die Launen seiner Frau andererseits auch mit Humor...
... wenn sie auf der Kippe ihres Partnerschaftsproblems (der Wand) herum balanciert.


GROSSES THEATER LODZ VON EINEM INTERNATIONALEN BALLETT-FESTIVAL, WIE ES IN POLEN DREI WOCHEN LANG LÄUFT, KANN MAN IN WIEN NUR TRÄUMEN. EINE TOP-FORMATION TRAT ETWA MIT SCHWEDENS CULLBERG BALLET AUF: IN MATS EKS ALUMINIUM ZUR MUSIK VON JOHN ADAMS UND JOHAN INGERS WALKING MAD ZU MAURICE RAVEL UND ARVO PÄRT, ZEIGTE ES, WAS INTERNATIONALE TANZKUNST HEISST

In Wien kennt der Tanzfreund zwei Richtungen: jene des Balletts der Wiener Staatsoper und Volksoper - großteils in grausamen modernen oder in vermoderten Klassik-Choreografien und jene des zeitgenössischen Tanzes. Er kennt also tatsächlich keinen wirklich guten Tanz, kann daher auch kein echter Tanzfreund sein. - Es sei denn, er ist in einer Community, die sich gern bewegt und darüber ihre (soziale) Psychotherapie abhält. Dank des Theaters an der Wien kennt man mittlerweile aber wenigstens einen John Neumeier und sein Hamburg Ballett - er allein befriedigt Tanz-Neugierde auf Dauer aber auch nicht.
Das sommerliche ImPulsTanz-Festival andererseits bereichert sein Programm selten durch Klassisch-Modernes Ballett, und wenn, dann nur durch zwei, wenn auch anerkannte Namen: das Ballett der Pariser Oper und NDT. - Die Wiener kennen also tatsächlich so gut wie nichts an gutem Tanz. - Vorwürfen, dass bestimmte internationale Kompagnien nicht eingeladen werden, wird meist mit Argumenten wie "fehlendes Budget" ausgewichen. Tatsächlich liegt es aber auch an eingefahrenen Partnerschaften, an denen aus emotionalen Gründen festgehalten wird, anstatt Neues zu wagen.

Wie dem auch sei: Polen jedenfalls, kann sich als "armes", sich im Wirtschaftsaufbau befindliches Land, ein alljährliches Internationales Ballettfestival leisten. Und Festivaldirektor Stanislaw Dyzbardis beweist in der Programmation viel Sinn für echte, internationale Qualität neben strategischem Kalkül, den eigenen nationalen Querschnitt samt Nachbarschaftspflege zu präsentieren. Mit dem Effekt, dass die Polen - die Tanzenden selbst, die Künstler, die Kritiker und das Publikum - am Ende wissen, wo sie mit ihrem Tanz im internationalen Vergleich stehen. Das nennt man verantwortungsbewußte Kulturentwicklung eines Landes, die sich letztenendes in Sachen Niveau nur positiv steigern kann.

Internationales Ballettfestival - weltweit qualitätsrepresäntativ zusammen gestellt

So präsentiert sich also die eigene Tradition mit dem surrealistisch theatral-narrativen Ballett des Grossen Theaters in Lodz unter Edyta Waslowska, das mit Giorgio Madias klassisch-moderner Cinderella-Uraufführug (Kritik siehe unten) gewitzt und ruhmreich das Festival eröffnete, mit dem russisch-literarischen Ballett des Grossen Theaters in Warschau unter Jolanta Rybarska mit John Crankos klassisch-expressivem Onegin, dem Ballett des Grossen Theaters in Poznan unter Liliana Kowalska mit Antal Fodors klassisch-modernem Proba (The Rehearsal), sowie der Oper Pánstwowa Baltycka aus dem nördlichen Danzig unter Slawomir Gidel mit seiner modernen Edith-Choreografie, und schließlich mit dem Nachbarn: dem Ungarischen Nationalballett unter Gabor Keveházi mit Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung in László Seregis Choreografie.

Und folgende qualitativ herausragende Kompagnien gesellen sich aus dem internationalen Raum hinzu: Aus Asien kommt die Korea Nationalballett Company unter In-ja Park mit einem für das Land typisch perfekt getanzten klassischen Schwanensee, aus Amerika das Complexions Contemporary Ballet unter Dwight Rhoden und Desmond Richardson mit einem ebenso typischen modernen, von Rhoden choreografierten 10-Stücke-Mix zu Musik von Bach, Piazzolla, Gershwin bis Aretha Franklin und Prince (!), und aus Westeuropa das französische Nationalballett von Marseille unter Frédéric Flamand mit einem weniger aufregenden, aber dennoch anerkannten dreiteiligen Klassikprogramm, sowie das expressive, modern-klassische Cullberg Ballet aus Schweden unter Direktor Johan Inger.

Spotlight auf den Auftritt des Cullberg Ballet

Mats Ek ist in der Ballettwelt ein Begriff. Als leitender Choreograf und Sohn der Companygründerin Birgit Cullberg hat er Schwedens Cullberg Ballet bis 1993 zur modernen theatral-expressiven Weltklasse erzogen, woran nun Choreograf Johan Inger seit 2003 als neuer Direktor anknüpft und erweiternd aufbaut. Das zeigte sich auch im Gastspiel, das am dritten Tag mit der Mats-Ek-Choreografie Aluminium aus dem Jahr 2005 begann und mit der Johan-Inger- Choreografie Walking Mad aus dem Jahr 2001 (erstmals von NDT getanzt, zu dem sowohl Ek als auch Inger eine starke Beziehung hat) endete, was wie eine Fortsetzungsinterpretation anmutete, obwohl zweiteres zuerst entstanden ist.

Interessant ist nun, dass Mats Eks Aluminium aber noch abstrakter und tänzerischer als Ingers vergleichsweise theatrales Walking Mad ist, obwohl Ek biografisch mehr Einflüsse vom Theater hat und Inger wiederum vom Tanz. Für beide gilt aber prinzipiell das, wofür das Cullberg Ballet so bekannt ist: die besondere Art von Ausdruckstanz, sprich Gefühle auszudrücken, indem sie in ungewöhnlich radikalen Bewegungen, aber mit technischer Brillanz und Schönheit, gleich einem Wirbel in rasendem Fluss ausgestoßen werden.

Aluminium von Mats Ek

Zum Lachen ist Mats Eks Aluminium nicht. Aber anmutig ist es, wie zeitgenössisch-moderne Musik, deren Noten mit Beinen, Händen, Kopf, Rumpf und Po über Gestik, Haltung, Biegung und Mimik direkt in Fahrten, Schwüngen, Zuckungen und Sprüngen in den Raum geschrieben werden, anstatt zuerst auf das Blatt Papier. Diese Tänzer-Musik erzählt ihre Geschichte daher ganz unmittelbar: Da ist eine Frau, die sich bei den langsam beginnenden, minimalistischen Klängen des amerikanischen Komponisten John Adams gegen etwas wehrt. Ihre verzerrte, sperrige Haltung drückt das offen, aber ohne die Stelle zu verlassen, aus. Neben ihr steht ein Stapel Teller, offenbar das Objekt ihrer Wut, weshalb sie mit Anwachsen der akustischen Raumfülle bei clusterhaft übereinander gespielten, sich wiederholenden Musiksequenzen irgendwann den Stapel aggressiv mit lautem Knall zerschlägt. So wie zu den Tellern verhält sie sich auch gegenüber ihrem Mann, dem sie eine Szene macht, in handfestem Streit zwischen Abwehr und Ringen, in fließend schnell vollzogener Release-Technik, der typischen Wiederholungsmethode im zeitgenössischen Tanz. Und mit dem Wirbel der Musik, strömen in wirbelwindhafter Tutti-Formation weitere Tänzer herbei, um bald schon genauso so zu zerschellen, wie die Teller zuvor. Denn ihre Formation ist zerbrechlich wie es die Gefühle in Partnerschaften sind; nur der Tanz ist es am Ende nicht. Er ist stark, abstrakt und perfekt, in akrobatisch-gezierten, rasanten Bewegungen.

So auch im zweiten Teil des Stücks, wo zwei Männer versetzt, jeder an einem langen Tisch mit Lampe, im leeren Raum sitzen. Der Mann bei der Arbeit, also. Und die Frau dahinter, die stört und die gleichzeitig der Leuchte in seinem Dasein entspricht, so wie jene, die vor ihm steht. Ist die Frau kurz weg, sehnt er sich nach ihr, wie sein zitternder, ruckender Körper klagt. Und wieder strömt ein synchron perfekter Tänzerwirbel herbei, in wildem Crescendo gemäß der Musik sorgt er für Tumult, die Tische prallen durch Stoßkraft in brutalem Ruck aufeinander, sodass der ganze Raum aufstöhnt. Das Signal also, dass die Frau endgültig ausbrechen muss. Sie verabschiedet sich von ihm, mit einer Geste, die kaum bemerkbar, aber deutlich ist. Die anderen Tänzer bleiben noch, als Zeichen für eine mögliche neue Liebe. Es ist Zeit zu gehen. Und doch ist es die Frau, die am Ende im Raum alleine bleibt.

Walking Mad von Johan Inger

Johan Ingers Walking Mad ist zum Lachen. Und das ist zu Maurice Ravels Bolero neu. Zwischen Mann und Frau steht jetzt eine Wand, selbst wenn sie beide meistens auf einer Seite beieinander "streiten". Clownesk und theatral agieren sowohl die Tänzer, als auch die "Wand", die für allerhand Hindernisse zwischen den Beiden einmal vertikal, einmal horizontal, einmal oben, einmal unten steht. Wahrscheinlich sind die spitzen Hüte, die die Männer dann tragen, Metaphern für Hörner, die ihnen ihre Frauen aufsetzen. Denn eine dieser Frauen scheint fremd zu gehen, also lieber mit "anonymen" Herren zusammen zu sein, in Mantel und Hut, wo Untreue Spaß macht, weil man scheinbar niemandem nahe kommen muss und niemanden "verletzt". Ausser eben den Betrogenen. Und das drückt in der Folge das leidenschaftlich-expressive Pas de Deux zur sensiblen Musik Arvo Pärts aus, als letztes Aufbäumen der Liebe des Paars, was jeodch damit endet, dass der Mann über die Wand springt und endgültig das Weite sucht. Auch diese Frau hat also das Spiel zu weit getrieben, sie bleibt allein zurück, mit nichts als (s)einem Mantel in der Hand. e.o./a.c.


DAS URTEIL WIE EXPRESSIV, INNOVATIV, GEFÜHLSINTENSIV UND DAMIT AUSDRUCKSSTARK BALLETT SEIN KANN, ZEIGT DIESE PROFILSTARKE, ABSTRAKTE, ABSOLUT INTERNATIONALE TOP-KOMPAGNIE: DAS CULLBERG BALLET UNTER JOHAN INGER. - DAS IST UNGESCHMINKTE MUSIK AUF MENSCHENBEINEN!

Das Internationale Ballett Festival in Lodz laeuft bis 3.6.2007 * Infos: www.teatr-wielki.lodz.pl

Friday, May 18, 2007

BALLETT / POLEN 1: STANDING OVATIONS FÜR GIORGIO MADIA UND TAPETEN - "CINDERELLA"

Die Vorgeschichte als Schattentanz. Für Zwischenszenen wie Fahrten oder unheimliche Hofgesellschaftscharakterisierungen erfindet Giorgio Madia lustige und gesellschaftskritische Tableaux Vivants. (Fotos © Ch. Zielinski)
Cinderella (Monika Maciejewska) bekommt in ihrem Tapetenalltag - formale Basis der Inszenierung - dank der Fee (Beata Brozek) die Möglichkeit, auf den Ball zu gehen.
Der Ball ist licht und in rosa-hellblauem Pastell der Inbegriff aller Urträume von freier Liebe und Fortpflanzung: Dort besticht Aschenputtel eher wegen der unsichtbaren Energie zwischen ihr und dem Prinzen als wegen des Kleids.
Huch, schon 12 Uhr, bei der Liebe vergißt man ja gerne die Zeit, aber die Fee ist da sehr genau! - Und es ist ja auch eine Prüfung ...
... ob der Prinz Cinderella tatsächlich liebt - indem er sie ohne Kleid wieder erkennt. Er tut es: bei den plumpen Männer-Stiefschwestern (A. Miedwiediew, J. Gesikowski in Gelb) ist das aber auch nicht schwer. Obwohl die Stiefmutter (M. Caban) mit ihren Tapetenlakeien (J. Lukasiewicz, K. Pabjanczyk) dagegen arbeitet.


GROSSES THEATER LODZ GIORGIO MADIA PACKT ASCHENPUTTEL IN EINE TAPETE - EINE GROTESKE SENSIBILITÄT, FÜR DIE ER ALS ERÖFFNUNGSSTÜCK DES INTERNATIONALEN BALLETTFESTIVALS IN POLEN DAUERAPPLAUS KASSIERTE. - EINE VORORT-LIVE-KRITIK

Grotesk-schwungvoll, subtil-sensibel – diese konträren Linien unter einen Hut zu bringen, sodass der Hut am Ende paßt, das schafft auch nur Choreograf Giorgio Madia. Nach seinem, mit dem höchsten, polnischen Kritikerpreis ausgezeichneten Dornröschen am Grossen Theater in Lodz, müsste er mit seiner heurigen Uraufführung erst recht Anwärter auf die Auszeichnung sein. Dieses klassisch-moderne Aschenputtel (Cinderella / Kopciuszek) ist so perfekt, präzise und charakterstark getanzt, choreografiert und designt, dass es nicht nur zur würdigen Eröffnungszeremonie des 19. Internationalen Ballettfestivals Polens taugte, sondern auch zum wahrscheinlich bisher intellektuellsten Stück Madias in wundersam harmonischer Weise wurde: als ein in sich geschlossenes, ästhetisches System voll fließenden, humorreichen Eigenlebens.

System mit Tapetenhülle

Die Basis dieses Systems bildet "die Hülle einer Tapete“. Entlehnt dem (in Polen) momentan oft vorkommenden Motiv der bildenden Kunst, als Mensch vom Lebensraum „verschluckt“ zu werden, verpassen Madia und seine Bühnenbildnerin Cordelia Matthes dem Kleid des Aschenputtels sowie jenem der Lakeien das selbe blumengraue Stoffmuster, wie es die Wände um sie herum ziert. Als Raum, in dem sie leben, und der bestimmt wird, durch die Allmacht der vereinnahmenden und unterdrückenden Stiefmutter. Je nachdem, wie weit sich jemand nun ihrem Machtbereich zu entziehen vermag, verändert sich auch der Stoff: Gehen etwa die Stiefschwestern aus, bleibt zwar das Muster der Kleider erhalten, die Farbe ist aber rot geworden. - Eine optisch wunderschön verdichtende Idee, die von der Form auf den Inhalt schließen lässt, und von psychologisch gezielter Suggestionskraft ist: Treten die humoristisch trocken und technisch exakt tanzenden Stoff-Lakeien (Jan Lukasiewicz, Krzysztof Pabjanczyk) als personifizierter Stiefmutter-Willen aus den Stoff-Wänden, um die widerstrebenden gelbbestofften Schwestern zur Schuh-Anprobe zu zwingen, erkennt der Prinz das völlig "versteckte" Aschenputtel, obwohl er es mit einem über den Kopf aufgesetztem Tapeteneimer nicht sollte! Seine Augen der Liebe sind es also, die das Wahrhafte erkennen.

Und werden die Tapetenlakeien schließlich auch noch von anderen Tänzern als unsichtbare Möbelobjekte zu revolutionären Körperbildern benutzt, steht der Dreieinigkeit zum künstlerischen Werk nichts mehr im Wege: hiermit sind Sinn, Stil und Charakter auf einen Wurf gelungen.

Vom Witz zur Gefühlstiefe

So weit also zum subtilen, geistreichen Witz durch die zugrundeliegende Form. Zum herzhaften Lacher steigert ihn der italienische Choreograf zusätzlich durch seine Charakterinterpretationen: Denn die Stiefmutter (Mariusz Caban) und –schwestern (Aleksander Miedwiediew, Jerzy Gesikowski) sind mit Männern besetzt, was deren Härte, Selbstgefälligkeit und Plumpheit in Spiel und Bewegung gegenüber dem demütig-eleganten Aschenputtel ins kontraststark Groteske lenkt. Verletzlich und schutzsuchend tanzt Monika Maciejeska ihre klassisch versierten Soli: als ein Mädchen voller Eleganz und Zärtlichkeit, das in seinen einsamen Stunden ausdrückt, wie deplatziert unter seiner Würde es in diesem Blumendekor existieren muss.

In kongenialer Ausstrahlung erwidert Prinz Gintautas Potockas ihr Gefühl in wind-umwehtem Sehnsuchtstanz, nachdem er sie treffen und auch schon wieder verlieren musste. Als die Beiden im Pas de Deux endlich zueinander finden, strömt daraus so große Innigkeit, wie sie sich der Mensch von der Liebe nur erträumen kann. Eine Liebe, die nur ihnen gehört, wo keine fremden Blicke zugelassen werden. Wie wichtig Madia diese Liebesdefintion ist, betont er durch einen transparenten Vorhang, mit dem er ihre Liebe genauso vor dem Voyeurismus des Publikums schützt, wie zuvor vor jenem der neugierigen Hofgesellschaft, wo sie sich nur zum Narren machten. Denn Liebe bedarf der Intimität. Und dass sie letztlich auch nur durch etwas Unsichtbares entzündet wird, sagt die wohl romantischste Szene: Indem der Prinz nicht auf Aschenputtel abfährt, weil sie, wie meist im Märchen, wegen ihres besonderen Kleides als Schönste auffällt - denn sie unterscheidet sich zwar von ihren Stiefschwestern, aber kaum von der übrigen Hofgesellschaft -, sondern weil eine augenblickliche, unbeschreibbare Magie zwischen ihr als Frau und ihm als Mann aufkommt: und das zeigt nichts als der spielerisch-charmante Tanz des Angezogen-werdens des Prinzen.

Tableaux Vivants mit Gesellschaftskritik

Doch was wären kleinbürgerlicher Alltagstrott und pastell-lichter Romantiktraum am Hof ohne die Übergangsszenen dazwischen, die Wege also vom Hier zum Dort: Sie dienen in der Narration zum Spannungsaufbau und betonen im Psychologischen das aktive Tun für das angepeilte Sehnsuchtsziel: daraus werden zum Staunen angehaltene Momentaufnahmen in bewegten Bildern: Ein Schattentanz rafft die Vorgeschichte, wie Aschenputtel in ihre bedauerliche Situation kommt. Für die Kutschenfahrt zur Ballnacht steht eine rosa Kutsche mit am Stand drehenden Schirmen als Räder, gezogen von Männern als trabende Pferde, vor vorbei schwebenden Wolken, Möwen und Bäumen, die den Effekt der Fortbewegung vortäuschen. Und am stärksten - da metapherhaft eingesetzt - wirkt wohl die stosshaft-verzögert tanzende Hofgesellschaft, die zu kunstvoll missgebildeten Liliputaner-Marionetten wie aus dem Figurenkabinett stilisiert wurde, als Sinnbild für das opportunistische Mitläufertum der High Society.

Deren in der Gesellschaft auf diese Weise als echt entlarvte Verhaltensdeformation nimmt auch bei ihrem ersten Auftritt die clowneske, ständig mutierende Fee (Beata Brozek) als Mensch ohne Rumpf an, die den Opportunismus der Masse gerade wegen ihrer eigenen Fähigkeit dazu, zu steuern vermag. Genauso, wie wiederum Giorgio Madia als Artist sein eigenes Werk lenken kann und sich dabei vor allem eines anderen Künstlers bedient, wie es ihm nur so passt: der Musik Giacchino Rossinis. Der Choreograf hat seine gesungenen Opernarien, Streichquartette bis -soli mitsamt Geräuschen, doch mit feinem Gespür für musikalische Erzählkraft, zur „Filmmusik“ der Tanzhandlung zusammen geschnitten. - Grosses Kompliment also an den Zaubermeister: er ist einer der wenigen, der mit immer neuen Ideen nie langweilig wird. e.o. / a.c.



DAS URTEIL MIT JEDEM GIORGIO-MADIA-WERK WÄCHST UNSER RESPEKT VOR DIESEM KÜNSTLER MEHR: EIN ÄSTHETISCH DICHTES, BILDER- UND METAPHERREICHES, LUSTIGES UND SENSIBLES THEATER-TANZ-KUNSTWERK!

MODERNES BALLETT Cinderella (Kopciuszek) * Von: Giorgio Madia * Musik: Giacchino Rossini * Bühne und Kostüme: Cordelia Matthes * Mit: Monika Maciejewska, Gintautas Potockas, Beata Brozek, Mariusz Caban, u.a. * Ort: Grosses Theater Lodz * Zeit: 10.6.2007: 18h

Das Internationale Ballett Festival in Lodz läuft bis 3.6.2007 * Infos: www.teatr-wielki.lodz.pl

Saturday, May 12, 2007

THEATER: RAMIN GRAY MIT KARGEM "AM STRAND DER WEITEN WELT" VON SIMON STEPHENS

Ein Generationen-Stück, insbesondere über Väter: Charlie Holmes (Gerd Rigauer) gehört noch zu jener Spezies, die sich mit Gewalt das Sagen erstreitet: bei seiner Frau (Silvia Fenz, links: Martin Vischer als deren Enkel)

Im Krankenhaus kommt es zur Aussprache zwischen Vater und Sohn Peter (Alexander Strobele), der schon viel "gleichberechtigter" eingestellt ist, aber trotzdem noch genug Probleme hat.

Peters Frau Alice (Therese Affolter) verliebt sich ausgerechnet in den, der ihrer Familie eine Schicksalsprüfung auferlegt: in den, der ihren Sohn überfahren hat. Doch sie kommt zu ihrem Mann zurück. (Fotos © Gabriela Brandenstein)


VOLKSTHEATER MICHAEL SCHOTTENBERG BRINGT MIT SIMON STEPHENS TYPISCH BRITISCHE MODERNE NACH WIEN. SCHÖN, UNTER DER REGIE VON RAMIN GRAY DIE SCHAUSPIELER EINMAL ANDERS ZU SEHEN

Wunderbar, Alexander Strobele einmal anders zu sehen. Meist ist er der zerknirschte Antiheld, der Drückeberger, der hinterfotzige Schleimer, der Opportunist. Diesmal ist er ein liebender Vater, der sich aufrichtig um seine Kinder kümmert. Aber auch in Am Strand der weiten Welt lässt ihn die Aura des Mitläufers, die prinzipielle Angst vor Führungsverantwortung, nicht ganz los. Und da ist er in dem für das Volkstheater a-typisch modernen, englischen Stück des jungen Autors Simon Stephens diesbezüglich nicht der Einzige. Alle Menschen laufen hier in gewisser Weise mit, und zwar mit der Zeit, die ihnen in ihren Generationen jeweils andere Verhaltensweisen und -anpassungen im Paarleben abverlangt.

Genau genommen geht es um drei unterschiedliche Mann-Frau-Beziehungen und ihre Entsprechungen gegenüber Vater, Mutter und Kindern. Und dann ist da auch noch die subtile Nuance von Emanzipation, mit Auswirkungen auf "männlicher bzw. cooler" werdende Frauen und "weiblicher bzw. einfühlsamer" werdende Männer, ohne es abwertend oder homosexuell zu sehen. Ja, Simon Stephens hat große Hoffnung in die Zukunft, indem er meint, mit jeder Generation würden - insbesondere Väter - zu besseren.

Brillante Schauspieler in allzu alltäglichem Sprechspiegel

Tatsächlich ist der brillante Schauspieler Gerd Rigauer als Charlie Holmes noch ein Mann, der seine Frau Ellen (Silvia Fenz) mit handgreiflicher Gewalt unter Druck setzt - allerdings so, dass nie ganz klar wird, ob er sie tatsächlich geschlagen hat - dank der die Schauspieler verhalten führenden Hand von Regisseur Ramin Gray, der für diesen insgesamten Ausdruck auch eine karge Bühne geschaffen hat. Obwohl des Patriarchen Gewalttätigkeit von den Familienmitgliedern also beklagt wird, kommt es - typisch für diese Generation - nie deutlich heraus. Da nun Stephens aber so hoffnungsvoll ist, paßt sich "dieser Vater" am Ende sogar von selbst an die jüngeren Generationen an, indem er, so gut er kann, den Tisch mitdecken wird. - Das ist wohl die einzige Utopie, die sich dieses Stück leistet.

Denn insgesamt bleibt es ein Spiegel der Realität. Wer im Theater Fantasie und Alltagsferne liebt, wird hier spätestens nach der Pause unbefriedigt sein. Obwohl formal witzig gelöst, indem ein Klappenknall einen Szenenausschnitt nach dem anderen einläutet, sodass es sogar Musik- und Filmcharakter bekommt, bleibt es ein allzu naturalistischer Spiegel dessen, was wir alle zuhause vorfinden. Man fragt sich also: Bin ich deshalb ins Theater gegangen, um das vorgeführt zu bekommen, was ich eh schon kenne? Durch die karge Inszenierungsaura und gewöhnlichen Dialoge, die inhaltlich nie zu überraschen vermögen, bleibt es sprachlich etwas oberflächlich Erzähltes, ohne je ein tiefes Innenleben zu entblößen.

Aber die Schauspieler faszinieren. Vor allem die älteren Kaliber, die in letzter Zeit am Volkstheater ein wenig zu kurz kommen: Neben den erwähnten "Vätern" zeigt vor allem Therese Affolter, was eine Charakterschauspielerin ist. Und die Jugend ist auch ziemlich anders: Raphael von Bargen ist als Generation-X-Sohn Alex Holmes kaum wieder zu erkennen, der sich mit der eher erkennbaren Katharina Straßer liiert, als Girl von nebenan, wie man sie schon öfter im Volkstheater bewundern konnte. Susa Meyer hat eine anmutige Ausstrahlung, als außenstehende, mitfühlende Schwangere, die für den Fortlauf der Menschheit steht. a.c.


DAS URTEIL WER DEM ALLTAG ENTFLIEHEN WILL, SOLLTE SICH DIESES NATURALISTISCHE STÜCK NICHT ANSEHEN. WER ABER MAL ETWAS "ANDERES" IM (VOLKS)THEATER SEHEN WILL, KANN VORBEISCHAUN: BEI SCHNELLEN SZENENSPRÜNGEN, GUTEN SCHAUSPIELERN.

THEATER Am Strand der weiten Welt * Von: Simon Stephens * Regie und Bühne: Ramin Gray * Mit: Peter Holmes, Alexander Strobele, Therese Affolter, Gerd Rigauer, Silvia Fenz, Raphael von Bargen, Katharina Straßer, Paul Matic, u.a. * Ort: Volkstheater Wien * Zeit: 15., 20.5.: 18., 22.6.2007: 19h30

Monday, May 07, 2007

TANZ: MATHILDE MONNIER UND CHRISTINE ANGOT IM "LA PLACE DU SINGE"-TEXTKAMPF

Wenn Christine Angot liest, "Aufstehen (=widersprechen) war in Mathildes Familie ausgeschlossen", verbiegt sich auch schon Mathilde Monniers widersetzender Körper. (Fotos © Marc Coudrais)



Mathilde bekommt so eine "Wut", dass sie die Worte (in ihrem Kopf) wie ein verspieltes Kind, erschießen will.
















Am besten ist, man entledigt sich dessen, was einen ärgert - so wie der Kleider und Nationalitäten.



TANZQUARTIER
MATHILDE MONNIER, DIE STARKE FRANZÖSISCHE - ECHTE - AUSNAHME - CHOREOGRAFIN WAR MIT EINEM SOLO IN WIEN: IN LA PLACE DU SINGE TANZT SIE MIT NICHTS ANDEREM ALS MIT UND GEGEN WORTE(N) - DER AUTORIN CHRISTINE ANGOT


Mathilde Monnier "liebt Literatur". Wenn man das von einer zeitgenössischen Tänzerin hört, möchte man eher nicht in ihre Vorstellung gehen. Denn zu befürchten ist: Wieder so eine, die über ihr "Werk" mehr quatscht, als es von selbst zu "sagen" in der Lage ist. Es ist unglaublich, wie mancher zeitgenössische Tänzer (Künstler) sich dadurch hinauf zu hieven versteht. Unverschämt unglaublich ist das. Mathilde Monnier nun aber, gehört nicht zu dieser Type. Denn sie "tanzt" und artikuliert Literatur auf der Bühne. Als eine der edelsten Erscheinungen im Tanzgeschehen weiß sie sich als Persönlichkeit genauso wie in unaufdringlich expressiver Weise auszudrücken. Ihr Frère et Soeur war letzten Sommer neben Ismael Ivos Solo das stärkste Ereignis des ImPulsTanz-Festivals.

"Menschlich" vergehen 55 Minuten schnell

Und jetzt kam sie mit dem "kleinen Stück" La Place du singe ins Wiener Tanzquartier.
55 Minuten können im zeitgenössischen Tanz lang sein. Wenn man nicht erkennt, was die Tänzer ansprechen oder wenn sie sich in Wiederholungen verlieren. Bei Mathilde Monnier kann man jede Bewegung nachvollziehen, obwohl ihre Bewegungen sperrig sind. Darin liegt die Kunst. Das ist bewegte Erzählung. Das ist interessant. Das ist kurzweilig. Das ist menschlich. Und wenn Mathilde Monnier selbst tanzt, liebt man sie auch als Mensch. Aber eben als sehr edlen! Denn ihre Bewegung ist von einer Anmut, einer Leichtigkeit, einer Gut-Erzogenheit, wie man sie hierzulande eigentlich überhaupt nicht findet. Und gerade die "gute Erziehung" ist nun aber ihr Thema, die von ihrer Herkunft stammt und in den Text ihrer Co-Partnerin, der Autorin Christine Angot, neben anderen Biografien zu einer verwoben wurde.

Der abgelegte Traum von der Bürgerlichkeit

Während die eine nun liest, die andere tanzt, möchte man glauben, der Text beschreibe jede von ihnen. Sie beide. Gut, Mathilde Monnier fast noch ein bißchen mehr: die "Angestellten"-Mutter käme aus einer jüdischen, mittellosen Familie, der Vater als großer Industriellen-Boss aus dem rassistischen Grossbürgertum, bei zuvor geäußerter Annahme, dass gerade solche Familien gerne ihre Familientradition "regelten". Deshalb hätte sie, die Bastard-Tochter, eigentlich immer lieber zur Familie des Vaters - den Besseren der Gesellschaft - gehört. - Sie lebten "angenehm" und "bequem", alles war gut "organisiert", und doch emotions- und spannungslos. Das war der Punkt, der Monnier tatsächlich betraf, wie sie in einem Interview erzählt. Und deshalb wurde sie Künstlerin. Weil sie das Bürgerliche, dessen Humorlosigkeit, dessen Schein-vor-Wahrheit-Manierlichkeit anwiderte.

Der gefährliche Traum von der Eigenständigkeit

Genau das tanzt Mathilde Monnier, während Christine Angot liest. Anfangs "knallt" sie übermütig in der Gestik eines kleinen Jungen, der eine Pistole hält und den Schuß aus dem Mund abfeuert, um sich, und auf die lesende Autorin. Selbstverständlich ist aber bereits das von einer Feinheit, wie sie nur eine Dame mit Witz haben kann. Und dann zieht sie sich aus, entledigt sich wortwörtlich ihrer Herkunft, steht mit schwarzer Unterhose da. Und was man sieht, ist sehr schön. Ein zartgliedriger, schmaler, der weiten Welt ausgelieferter Körper, aber mit trainierter und deshalb widerstandsfähiger, femininer Muskulatur, der sich frei und glücklich bewegt. Als er selbst. Behende balanciert die Zierliche über herein gestoßene und arrangierte Tische, deren Beine brennende Kerzen tragen. Und droht, abzurutschen, dazwischen zu fallen, weil sie im Stand nachgeben. Fiele sie durch, würde sie verbrennen. Auf diesem "unsicheren Boden", den sie nun "ohne Herkunft" ganz allein und ohne Rückhalt zu überqueren hat. Sie zieht sich also besser wieder an: eine Jeans, die ihr sehr gut paßt, einen roten Pulli, ein rosa Jäckchen, und "tanzt" zusammen mit der Autorin, mit dem Mikro in der Hand, einen rebellischen Rock-Song. - Auch so eine Art Boden, den man sich aufbauen kann.

Und der Kampf beginnt von vorn

"Ich beneide die Stiefgeschwister noch heute", liest Angot weiter, und Monniers Körper widerstrebt und hinterfragt sie von Neuem. Mit subtilem Witz tänzelt sie einen Kampf mit ihr aus, ohne sie je zu berühren. Denn ihre Worte, ihre Behauptungen sind ihre Gegner, als Stimmen in ihrem Kopf. Doch sie nimmt den Kampf gleichzeitig gelassen: es ist ernst und komisch zugleich, was sie da tanzt. Kann man auch nichts machen, hat ja jeder so seine Herkunft. Und es ist auch eine Ironie, dass Monnier ausgerechnet ihre Eleganz mit ihrer Eleganz austreiben will...

Tatsächlich denkt Monnier, dass die Herkunft heute gesellschaftlich keine Rolle mehr spielt, sagt sie im Interview: alles was zähle, sei Geld-zu-haben und berühmt-zu-sein. Hinzu kommt - und das sagt nun die Schreiberin dieses Kommentars -, dass solche Entweder-Oder-Behauptungen nur in der Kunst vorkommen, weil sie aus ästhetischen Kontrastgründen aufgestellt werden müssen. In Wahrheit ist das Wunschbild von einem selbst doch einem steten Wandel, dem ständigen Hin-und-Her, unterworfen. Aber das ist unwichtig: Schön war die Performance. e.o.


DAS URTEIL WAS IST DAS NUR FÜR EINE SEXY FRAU, DIESE MATHILDE MONNIER. ALS MANN MÜSSTE MAN SIE VERFÜHREN. ALS ZUSCHAUER MUSS MAN SIE, IHRE BEWEGUNG, IHRE ÄSTHETIK UND IHRE EIGENSTÄNDIGKEIT BEWUNDERN.

TANZ gustavia * "Humor" von und mit: Mathilde Monnier & La Ribot * Ort: Akademietheater, im Rahmen von ImPulsTanz Wien * Zeit: 15., 18.7.2008: 21h

Sunday, May 06, 2007

OPERETTE: DAVID POUNTNEY MACHT KURT WEILLS "DER KUHHANDEL" NICHT WIEN-FEIN

Der General (Rolf Haunstein, Fotos: © Dimo Dimov / Volksoper Wien) wird nach der Machtergreifung genauso liederlich wie sein Vorgänger. Wobei er auch noch ins Bordell geht... Übrigens: wer ist die Tänzerin ganz rechts? ...

... die Tänzerin rechts ist nicht nur hier am Bild ein leidenschaftlicher, körperschöner Augenschmaus, sondern auch auf der Bühne - Könnte demnächst die Volksoper nicht auch die Namen der Ballettleute anführen? Sie haben doch Namen, oder? Ansonsten auf dem Bild: Rolf Haunstein, Wolfgang Gratschmaier (mit Sonnenbrille); und das Liebespaar auf der Kuh: Ursula Pfitzner, Dietmar Kerschbaum


VOLKSOPER DAVID POUNTNEY HATTE MIT KURT WEILLS DER KUHHANDEL IN WIEN PREMIERE. DAS IST EINE OPERETTE, WIE MAN SIE SICH KLASSISCH-ÜPPIG VORSTELLT. MIT VIEL TANZ, VIELEN MENSCHEN AUF DER BÜHNE, ABER MIT VIEL MEHR BÖSARTIGKEIT ALS ÜBLICH

Kurt Weills Der Kuhhandel war die Produktion, mit der David Pountney im Sommer 2004 sein Einstandsjahr bei den Bregenzer Festspielen feierte, mit der er Vorarlberg sozusagen Operetten-tauglich machte. Seitdem ist die allsommerlich gespielte "Operette" im Kornmarkttheater ausverkauft. Das Stück nun in der Wiener Volksoper gezeigt - könnte man nörgeln - hätte ruhig ein wenig stadtfeiner adaptiert werden können. Andererseits: Für einen Briten, wie es David Pountney einer ist, ist Vorarlberg oder Wien wahrscheinlich - g´hupft wie gsprung´n - immer "die Alpenrepublik Österreich" - die als solche eben mit Kühen zu wirtschaften hat. (Abgesehen davon, dass es die Kühe schon im Libretto von Robert Vambery gegeben haben muss.) Dazu gehört auch bestens getanzter Schuhplattler, der sich schmissig mit Walzerklängen vereint, und Männer, die sagen: "Die Brüste der Frauen haben entweder die Form von Äpfeln oder von Birnen - und ich bevorzuge ersteres." - Na, wenn das nicht sämtliche Feministinnen Wiens auf die Palme bringt...

Österreicher, Briten ... die Weltpolitiker sind gemeint

Damit all das also nicht ins falsche Ohr dringt, muss von vornherein gesagt werden: Hierbei handelt es sich um eine Komplettgroteske: hier geht es nicht gegen Vorarlberg, gegen Wien oder gar Österreich, sondern schlicht gegen die ganz große Weltpolitik. Und die besteht meistens aus müden Präsidenten, Einsagern (den eigentlichen Lenkern), und Dritten, die sich ein Geschäft mit jenen erhoffen. Es gäbe nun die Möglichkeit, mit Landwirtschaftsmaschinen zu handeln, man entscheidet sich aber doch lieber für Waffen. Und damit man sieht, wie generell Pountney das sieht, nimmt er auch gleich sein eigenes Herkunftsland mit auf die Schippe - was er in Sachen "Humor" naturgemäß auch am besten versteht: der Präsident (köstlich Carlo Hartmann) ist ein müder "britischer Royal" mit Backenbart, der hysterisch rufend auf seine "Prinzipien" pocht und sich dann doch immer wieder über den Tisch ziehen läßt. Bis er durch einen Putsch seinem General das Regierungszepter überlassen muss, dem zweitbesten "Schauspieler" des Abends: Rolf Haunstein. Dessen Wandlung vom Machthungrigen zu jenem, der mit der Macht immer mehr dem liederlichen Leben verfällt, ist intensiv zu beobachten: er vergnügt sich im Bordell, mit Alkohol, und endet in wachsender Überheblichkeit bei Kurzschlußbefehlen.

Weills zuhaufe eingebauten Hymnen in die rhythmisch ironische Revue-Chanson-Opernkomposition mit großen Choreinlagen, wo auch mal Gitarrenklänge und Kastagnetten bis zu Cancan vorkommen, untermalen die Metamorphose, lebhaft dirigiert von Christoph Eberle, als befände man sich auf einem Musikkarussell. Doch als erneut das korrupt aufgebaute Staatsgeflecht zusammen zu brechen droht, weiss sich der zum Volk zu sprechen aufgeforderte General gleich wieder zu helfen: "Eine Rede halten, das kann ich. Ich bin ja Politiker. Was kümmert mich das Schicksal von gestern?"

Wegen Korruption vom Kuhstall ins Bordell

Dem entgegen gesetzt ist die Liebe eines bescheiden lebenden Paars (Ursula Pfitzner hat ihre stimmlichen Hoch-Zeiten nur in den Höhen, Dietmar Kerschbaum singt passabel), das zur Eheschließung nur eine sie ernährende Kuh benötigt. Da nun aber die "Regierung" für die Waffenkäufe vom Ausland über eingeführte "Wohlstandssteuern" Geld einfordert, wird ihnen nicht nur einmal die Kuh gepfändet. Und schließlich beruft sie auch noch den Mann in den Krieg, sodass nun die Frau im Bordell das Geld für eine neue Kuh verdienen muss: und da geht es mit Transvestiten und sexy Ballettgirls rund. Die TänzerInnen Bernhard Bläuel, Ekaterina Davydova, Patrik Hullman, Florian Hurler, Silvia Schreger, Josephine Tyler bringen überhaupt die ganze Produktion unter der Choreographie von Craig Revel Horwood zum Fetzen. Ob sie nun im Bordell oder im Dirndl oder als Henker tanzen... Nur das Gerenne durch die Zuschauerreihen zu Beginn des zweiten Akts ist überflüssig - aber das ist eine Frage der Regie.

Eine klassische Operette mit allem Drum und Dran und mit Details

David Pountney hat überhaupt üppig inszeniert. Da ist alles drinnen, was zu einer Operette gehört, von der großräumigen, dramatisch-elipsoiden Bühne (Duncan Haylor), mit zuweilen tanzender, bunter Wäsche auf der Leine, bis zum Massenaufgebot an Darstellern. Insofern könnte man sagen: eine klassisch inszenierte Operette, mit viel Erotik, aber eben auch mit groteskem Zynismus. Und das macht sie ungemein unterhaltsam. Mit feinen oder interpretatorisch subtilen Details: etwa Fliegen, die über der Kuh schwirren; der während des ganzen ersten Akts über der Bühne schwebend auf einem Bett schlafende (= regierende) Präsident; der Sarkophag, den der Liebende wie zu pharaonenzeiten sklavenhaft schleppen muss, der dann plötzlich die Waffenrakete (Eurofighter) entblößt; eine sich zeitlupenhaft im Hintergrund bewegende Mitläufer-Festgesellschaft, während sich vorne die hungernden Liebenden im Krieg Briefe schreiben; und ein Zoom auf - den widerständigen Möchtegern-Ehemann abknallen wollende - Soldaten mit Riesengewehren, die aber nicht funktionieren, womit der ganze Staatsdeal für die Katz war.

Umzuschulen: zwei deklamierend sprechende Sänger

Schuld daran ist der korrupte Mr. Jones, der mit des Präsidenten falschem Berater Ximenez den Deal ins Laufen gebracht hat. Michael Kraus und Wolfgang Gratschmaier stechen als aalglatte Herren in schwarzem bzw. weißem Anzug und schwarzen Sonnenbrillen hervor. Leider gehen sie einem aber nicht nur als Negativcharaktere auf die Nerven, sondern auch in ihrer Art zu Deklamieren. Sie haben noch nicht gelernt, was heutige Schauspieler-Sänger können sollten: Normal sprechen und agieren und trotzdem gut singen. Diese beiden sind passable Sänger. Ihrem gesprochenen Gebrüll ist dagegen kaum zu folgen. So freut man sich wirklich, als sich wenigstens Jones noch vor dem Schluß per (witziger) "Hubschrauber-Leiter" aus dem Staub machen muss. - Selbst wenn der Unheilbringer - so typisch für diese Welt - hiermit einmal mehr davon kommt. r.r./e.o.

Regisseur David Pountney ist in seiner Funktion als Intendant der Bregenzer Festspiele demnächst im Interview auf www.intimacy-art.com / aKtuell / REALNEWS / INTERVIEW zu lesen.


DAS URTEIL GEMÄSS DES DRAMATISCHEN VERLAUFS TREFFEND ÜPPIG UND GROTESK. HAT MAN DAS GECHECKT, LÄSST MAN SICH AUF DIESE DETAILREICHE ÜBERRASCHUGSLAUNE GERNE EIN. AM LUSTIGSTEN: DER PRÄSIDENT CARLO HARTMANN, AM MITREISSENDSTEN: DAS SEXY BALLETT, INSGESAMT STIMMIG: DIE REGIE, ABWECHSLUNGSREICH: WEILLS MUSIK.

OPERETTE Der Kuhhandel * Von: Kurt Weill / Text: Robert Vambery * Regie: David Pountney * Dirigat: Christoph Eberle * Choreographie: Craig Revel Horwood * Mit: Carlo Hartmann, Rolf Haunstein, u.a. * Mit: Chor und Orchester der Volksoper Wien * Mit: Das Ballett der Wiener Staatsoper und Volksoper (Bernhard Bläuel, Ekaterina Davydova, Patrik Hullman, Florian Hurler, Silvia Schreger, Josephine Tyler) * Ort: Volksoper Wien * Zeit: 7., 10., 24.5.; 11., 20.6.2007: 19h

THEATER: NIKLAUS HELBLINGS UND DIMITRÉ DINEVS "DAS HAUS DES RICHTERS" FÜR INSIDER



Metaphorische Wendung Dinevs: Der doppelt besetzte Dietmar König (Foto © Reinhard Werner - rechts und links mit Maske) tötet sich als ungewollter Seitensprung-Sohn (Minotaurus) als Dieb (Theseus) selbst. Lösen sich Fehlhandlungen also irgendwann selbst auf? - Und reinigen sie auch die Umwelt (oben): Meister (Daidalos, Martin Reinke), Richter (Michael König), Iko (Daniel Jesch) und Wera (Dorothee Hartinger)?


AKADEMIETHEATER NIKLAUS HELBLING INSZENIERT MIT DIMITRÉ DINEVS DAS HAUS DES RICHTERS EIN STÜCK FÜR INSIDER DER GRIECHISCHEN MYTHOLOGIE. ALLE ANDEREN WERDEN EIN WENIG ENTTÄUSCHT SEIN

Sieht man sich des 1990 nach Wien emigrierten Erfolgsautors (Engelszungen) - Dimitré Dinev - Burgtheater-Auftragswerk Das Haus des Richters an, ohne den Minotaurus-Mythos zu kennen, wird man enttäuscht sein. Weniger, wenn man ihn kennt. Der kreative Akt liegt in der Aufstellung der neuzeitlich umbenannten Mythen-Figuren, und vielleicht noch, in der endgültigen ethischen Conclusio. Die dramatische Entwicklung selbst ist kaum aufregend, da sie auf das Publikum stellenweise zu "alltäglich" und platt, zu "durchschnittsmenschlich" weder durch Figuren, Geschichte, noch Darsteller imponierend wirkt.

Untreue - ein ewiges Thema

Was von Regisseur Niklaus Helbling in der Charakterführung der Darsteller prinzipiell klar und gut heraus gearbeitet wird, ist die Ur-Debatte der Liebesbindung, wenn es zur Untreue kommt - sei es aus bloßem Nicht-Widerstehen können, instinktiver Lusterfüllung oder aus echtem neuen Verlieben. So ist nicht nur unklar, von welchem Vater - Richter (Minos) oder Meister (Daidalos) - das "Monster" Minotaurus der Sohn ist; Sondern das Hin und Her von Liebe, Verrat und Betrug weitet sich auf alle anderen Figuren aus. Da kommt es auch zur einen oder anderen Verwechslungskomik, da sich alle abwechselnd beim Sex den Stierkopf (den historisch eigentlich Minotaurus trug) aufsetzen. Die Liebesfähigkeit (bzw. Treue) interpretiert der Zuschauer am Ende als "Charakter"-abhängig. - Ganz nach dem Motto: Es prüfe, wer sich ewig bindet. Und ist man sich des anderen sicher, kann man sich dennoch nie ganz sicher sein. Was wiederum bedingt, dass man sich stets um den Anderen bemühen wird müssen ...

Der Richter (Michael König) wurde also nicht nur einst von seiner Frau (Pasiphae) betrogen, sondern betrügt auch selbst: mit der Erzieherin Wera (Dorothee Hartinger). Die Halbgöttinnen Ariadne (Alexandra Henkel), Phädra (Mareike Sedl) und Xenodike (Nicola Kirsch) macht Dinev zu den "standesgemäßen" Töchtern des Richters, Ada, Phädi und Xeni, die dann der Mythologie entsprechend lieben, herzlos verführen oder betrogen werden. Der, der durch zwei Frauen gleitet, die eine liebend, die andere nur wegen des Sexes, ist Iko (= Ikarus, Daniel Jesch), der Sohn des Daidalos, der mit seinem Vater das Labyrinth bauen muss, wo Minotaurus versteckt gehalten werden soll. - Eine klare Metapher für das schuldbewußte Verbergen-Wollen des Menschen ungeplanter "Beweise" für Handlungen (Kinder), die nicht geschehen hätten sollen.

Der Bastard rehabilitiert sich selbst

Gelungen, obwohl zunächst fragwürdig, ist, dass sich Minotaurus in Dinevs Fassung durch den vom selben Darsteller, Dietmar König, verkörperten Theseus als "Dieb" über Video selbst umbringt. Das hieße also: das Ungewollte löst sich früher oder später selbst auf. Es führt sogar dazu, eingefahrene "Familienverlogenheiten" aufzudecken und zu reinigen, selbst wenn sie schmerzhaft sind. Was diesen Dinev-Minotaurus in den echten Helden-Status erhebt.

Störend aufgesetzt wirkt nur die Ausländer-Thematik: Denn der Architekt Daidalos ist ein Flüchtling aus dem Balkan (mit DDR- oder zumindest deutschem Akzent!), und sein Sohn Iko "bereits" in Österreich geboren. Die Ausländerfrage wird noch einmal bekräftigt, indem die auf der Bühne ständig präsenten Balkan-Musiker, Martin Lubenov und Imre Bozoki-Lichtenberger, während einer Familienfeier als Musikanten engagiert werden und mit "Gut, Chef" antworten. - Abgesehen davon, dass diese Musiker in Österreich anerkannt und geschätzt sind. - Wirklich übertrieben und insgesamt Stück-abwertend.a.c./e.o.


DAS URTEIL DIE QUALITÄT VON DINEVS MINOTAURUS-FASSUNG ENTDECKT MAN ERST IM DIREKTEN VERGLEICH MIT DEM UR-STOFF. DANN BEGINNT MAN ÜBER MENSCHLICHE UR-FRAGEN NACHZUDENKEN. OB DAS ABER FÜR EINEN THEATERABEND GENÜGT, WIRD ZUM GROSSEN FRAGEZEICHEN.

THEATER Das Haus des Richter * Von: Dimitré Dinev * Regie: Niklaus Helbling * Mit: Michael König, Barbara Petritsch, Alexandra Henkel, Mareike Sedl, Nicola Kirsch, Dietmar König, Dorothée Hartinger, Martin Reinke, Daniel Jesch, Imre Bozoki-Lichtenberger, Martin Lubenov * Ort: Akademietheater * Zeit: 23.9+3.10.2008: 20h + 24.9.2008: 19h30