Thursday, May 26, 2011

OPER: GIORGIO MADIA LIEBESMYTHISCH IN "LE PAUVRE MATELOT" UND "VENUS IN AFRICA"


Weil sie so treu ist, hängt die Liebende (Diana Higbee) in Le pauvre matelot der alten Liebe, dem lange gegangenen Matrosen (re: Pablo Cameselle), nach, anstatt den neuen Anwärter (li.: Andreas Jankowitsch) zuzulassen ...
Es ist nötig, "Licht" in ihre verdrehte, dunkle Seele zu bringen: der Matrose kommt "entstellt" zurück ...
... und will sie prüfen, ob sie für ihre Treue untreu wird: sie soll sich für Perlen verkaufen, um ihn zurück zu bekommen. Sie entscheidet sich besser: sie bringt den fremd gewordenen Geliebten (unterbewußt) um und sagt es dem unvermögenden Vater (Mentu Nubia).

Um irritierende Gefühle ins Bewußtsein zu holen und richtig zu deuten, ist es manchmal gut, jene aufzuschreiben: fürs Publikum tun das in Venus in Africa die streitsam Liebenden Yvonne (Diana Higbee) und Charles (Andreas Jankowitsch) ...
... manch einen könnte der Streit im Ringkampf so verunsichern, dass er sich fragt, ob diese Partnerin wirklich die Richtige ist, ...







... das sagt Charles dann die verführerische Venus (Nazanin Ezazi), die ihm eigentlich als Partnerin viel lieber wäre, obwohl sie untreu
und rastlos ist und ihn unfrei macht. Doch sie scheint besser aussprechen zu können, was ihn wirklich ängstigt. Bis auch er es weiß. (Fotos © Christian Husar)



 

WIENER KAMMEROPER MIT DER LIEBE UMGEHEN ZU LERNEN IST FÜR MANN UND FRAU EINE LEBENSAUFGABE. WIE ABSTRAKT MAN DABEI DENKEN LERNT, EBENSO. - BEIM FRANZÖSISCHEN KOMPONISTEN MILHAUD UND AMERIKANISCHEN ANTHEIL WIRD BEIDES UNTER GIORGIO MADIAS REGIE ZUM SPANNENDEN VERGNÜGEN


Treffende Sätze über die verwirrenden Gefühle einer Liebesprojektion erzählt zu bekommen, ist immer wieder anregend für den Menschen, wenn er selbst schon ein paar mehr oder weniger heftige solcher Episoden erleben mußte. Man könnte aus der Distanz auch sagen: durfte. Denn eine im Moment des Erlebens quälende Liebeserfahrung eröffnet dem Betroffenen eine abstrakte Dimension des Fühlens, zu der nur der Mensch fähig ist. Sie ist spannend, weil sie für ihn ein Rätsel ist. Manch einer könnte diese Befindlichkeitslage auch als psychisch krank bezeichnen, denn alles, was der "Liebende" hier tut und denkt, ist wortwörtlich "ver-rückt" unvernünftig. Und Vernunft soll im Gegensatz dazu ja auch des Menschen Eigenschaft sein, zu der er seit der Epoche der Aufklärung tendiert. Das ausgelieferte Objekt wird durch seine Vernunft zum bestimmenden Subjekt. Der Unterlegene zum Herrn. Um jedoch die Vernunft, oder anders gesagt, den Verstand in Anspruch nehmen zu können, muß der Betroffene seine Gefühle zuerst verstehen.

Wenn die verwirrte Frau liebt

Inmitten dieses Verwirrspiels befindet man sich in der Wiener Kammeroper bei den Stücken Le pauvre matelot von Darius Milhaud und Venus in Africa von George Antheil. Eine äußerst geglückte Doppelinszenierung von Giorgio Madia, mit ähnlich intelligenten Verbindungen wie sie 2007 Nicola Raab im Dove-Maxwell-Davies-Zweierabend (siehe Kritik-Nachlese) machte, nur dass der Regie-Gesamtstil bei Madia purer und edler anmutet und dass die Doppelbesetzungen der Darsteller eine zusätzliche Interpretation ermöglichen. In dem, obwohl szenisch reduzierten, dramaturgisch raffinierteren ersten Stück Le pauvre matelot, worin eine von einem Matrosen verlassene Liebende (Schönsängerin Diana Higbee) jahrelang auf ihren Geliebten wartet, sodass sich ihr Liebesobjekt inzwischen in eine Wahnvorstellung verschoben haben muss, fallen hochinteressante Sätze an ihren Vater (eindringlicher Bass: Mentu Nubia) wie: "Ich könnte ihn betrügen, wenn sein Foto nicht auf dem Nachttisch stünde."

Die folgende Geschichte läßt sich als Produkt ihres Geistes verstehen, worin sie versucht, den sie zurückwerfenden, in ihrem Herzen selbst-errichteten moralischen Stillstandsklotz, los zu werden. Dafür steht auch das abrupte Ende. Denn in ihrem konzentrierten Wahn, wo der Geist ständig um dasselbe kreist - Madia versinnbildlicht das durch eine permanente kleine Drehbühne mitten auf der gerahmten (= eingekapselten) Bühne, wo die Darsteller, und vor allem die Frau, auf- und abgehen - kommt der Matrose (nicht sehr männlich, aber gesanglich o.k.: Tenor Pablo Cameselle) völlig entstellt zurück, um ihr eine Treue-Prüfung aufzuerlegen: er will wissen, ob sie bereit sei, sich für Geld (bzw. eine Perlenkette) zu verkaufen, um mit dem Erlös ihren Geliebten zurück zu bekommen.

Ihr seelischer Befreiungsschlag kann nur eintreten, wenn sie für sich einsieht, dass der "Geliebte" seinerseits selbst untreu war und "moralisch" weit weniger wert ist als sie. Für diesen Gewissenskampf stehen die einzigen zwei Farben des Stücks: schwarz und weiß. Nicht umsonst ist ihr Objekt der Begierde ja ein Matrose, das Mythos für den Ungebundenen auf Reisen schlechthin. Tatsächlich erschlägt sie - nach einer handlungsrhythmisch einschneidenden, entscheidungsfindenden Erleuchtungsdrehung - den insgeheim erkannten fremden Geliebten, also den für ihre Absichten als falsch beschlossenen Liebespartner. Damit ist sie endlich frei und offen für eine neue Liebe (sehr männlich und gesanglich gut: Andreas Jankowitsch) oder auch das Licht, das sie aus dem psychischen Dunkel führt - ein ebenfalls gesetztes Stilmittel des Regisseurs (spannendes Lichtdesign: Christian Weißkirchner).

Wenn der verwirrte Mann liebt

Den Kern dieser Obsession, der Sehnsucht nach absoluter und garantiert ewiger Liebe, trifft Madia in seinem Vorwort auch in Bezug auf das folgende Antheil-Stück Venus in Africa: "Um sich von der lustvollen Last zu befreien, Venus ausweglos verfallen zu sein, ist es nötig, ihre Unnahbarkeit anzuerkennen." Im Gegensatz zur - typisch weiblichen - Liebenden im ersten Stück, bezieht sich die krankhafte Sehnsucht hier auf den - typisch männlichen - Liebenden, Charles. Charles ist mit Yvonne zusammen, die für ihn etliche Opfer gebracht hat: sie hat sich die Haare gefärbt, ihren Hund, ihr Haus und ihren Freund verlassen. Ohne zu wissen, was für Zweifel und Ängste er eigentlich hat, kommt es zwischen ihnen, an einer "unsicher" von der Decke hängenden überlangen Theke, zum Streit. Es fällt der für eine Anfangsliebe typische Satz, "was ist eigentlich passiert? Wir waren nie richtig zusammen."

Um die Worte realer ins Bewußtsein zu holen, als sie es den beiden sind, werden ihre Sätze auf Tafeln ins Publikum gehalten. Die Gefühle sind einfach nicht zu begreifen und machen, vor allem ihm, Angst. Charles greift zu einer Lektion und schickt Yvonne mit vom - auch eine Perlenkette anbietenden - Matrosen des Vorstücks gekauftem Falschgeld in ein Hotel. Mit einem, "man muss diese verdammt weibliche Unabhängigkeit austreiben" bleibt er zurück, traurig konstatierend, "ich habe gewonnen und bin allein". In seiner Ratlosigkeit erscheint ihm Venus. Er verfällt ihren, mit einem langen Band symbolisierten Verführungskünsten auf einer mit bunten Lichtern bepflasterten Showbühne (für die treffenden Bühnendetails ist wieder Cordelia Matthes zuständig), ihr, "dem Rastplatz für Männer", die von der Alternative, viele Weiber zu haben, spricht, und wo er sich fragen kann, "bist du real?". Da sticht ihm, wie dem Publikum, das grelle Licht ins Gesicht, und Venus meint: "Alle Liebenden sind kurzsichtig."

Sie schläft mit ihm, er ist hingerissen, und sie verläßt ihn, auf Yvonne verweisend, die ihm im Gegensatz zu ihr doch treu sei. Und langsam siegt die Vernunft über ihn, Yvonne wird immer mehr zu seiner Venus (sie trägt deren Umhang), selbst wenn, oder gerade weil er mit ihr im Ringkampf steht (superkurze, witzige Szene). Denn die wieder beschilderte "Liebe" bedeute "Kampf, Schmerz, Mühsal", und "dem Wesen zu vertrauen, das dir wehtut". Mit dieser Erkenntnis tanzen alle übermütig heiter und vergnügt, Venus (einzig neue Darstellerin: Nazanin Ezazi) mit dem Falschgeldverkäufer (dem "Matrosen" Cameselle), der Barkeeper (Nubia), Yvonne (Higbee) mit Charles (Jankowitsch). Zu guter Letzt stellt sich sogar das Falschgeld als echt heraus, weil die zuvor als falsch vermutete Liebe doch echt war. Und das heißt denn auch für den Mann: für die Frau und ihre beider Nachkommen finanziell aufkommen zu müssen. Oder: es mit dieser Sicherheit auch zu wollen.

Zu Unrecht verdrängte Musik

Bei dem Verfolgen des spannenden Textes und Geschehens vergißt man leider, bewußt auf die Musik zu hören. Man sollte sich das Ganze daher ein zweites Mal ansehen. Dennoch, Milhaud ist abstrakter (und minimaler) als Antheil, und Antheil weit weniger abstrakt als man von ihm, dem Co-Erfinder der ungestörten Mobiltelefonie, im Allgemeinen glaubt. Beide Komponisten unterstreichen mit ihrem Klang die Handlung, und besonders Antheil nutzt Jazz und Varietémusik. Außerdem: bei beiden fällt in Sachen Musik kurz das Themen-bezogene Motiv der Juden-Konnotation auf: Obwohl Milhaud (1892-1974) aus einer wohlhabenden, jüdisch-provenzalischen Familie stammte, was für ihn ein Leben lang von stark prägendem Einfluß war, läßt Librettist Jean Cocteau den Matrosen in ihrem Stück (UA 1927) zur Liebenden sagen: "Sie sind stolz. Morgen werde ich einen Juden finden, der die Perlen schätzt." Und später erklingt im Venus-Stück Antheils (UA 1957) mit dem Auftritt des Falschgeld-Verkäufers jüdisch-östliche Klezmer-Musik ... Dabei emigrierte Franzose Milhaud nach Ausbruch des zweiten Weltkriegs in die USA, und Amerikaner Antheil kehrte 1933 von Paris in die USA zurück, weil seine Musik unter den Nationalsozialisten nicht mehr verkäuflich war. e.o.


DAS URTEIL EIN KLAR ERZÄHLTES, RAFFINIERT SYMBOLREICHES OPERNDOPPEL ÜBER DIE LIEBE. TEXTLICH UND INSZENATORISCH SO EDEL, SPANNEND UND LEHRREICH, DASS MAN GANZ VERGISST, AUF DIE SCHÖNE MUSIK ZU ACHTEN.

OPER Le pauvre matelot / Venus in Africa * Von: Darius Milhaud / George Antheil * Regie: Giorgio Madia * Musikalische Leitung: Daniel Hoyem-Cavazza * Mit: Kammerensemble der Wiener Kammeroper * Bühne & Kostüme: Cordelia Matthes * Mit: Mentu Nubia, Diana Higbee, Andreas Jankowitsch, Pablo Cameselle, Nazanin Ezazi * Ort: Wiener Kammeroper * Zeit: 26., 28., 31.5., 2., 4., 7., 9.,11.6. 2011: 19h30