Friday, July 29, 2016

impulstanz 2016 – Tagebuch 3: WIM VANDEKEYBUS´ MÄNNER-ARCHETYPEN IN „REVIVAL: IN SPITE OF WISHING AND WANTING“

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Wim Vandekeybus ist als schwarzer, unbändiger Hengst noch immer eine faszinierende Erscheinung innerhalb seiner Männerwelt ....
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... die so voller archetypischer Traumpoesie ist ...
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... und voller lässig-erotischer Energie in einer archaischen Szenerie ...
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... wo infantile, hysterische Angst, dass die Zähne zu schwarzen Ungeheuern auswachsen könnten, auch nicht fehlen darf. (Fotos © Danny Willems)
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Vandekeybus´ wunderschöner, langer Blockbuster





16.7., gegen 23h20, im Wiener Volkstheater:




Gibt es das, dass etwas visuell so ungemein Verzauberndes wie psychologisch Tiefgründiges zu lange dauern kann? – Weil man nach zwei Stunden in hohen Schuhen Sitzen einfach darauf wartet, wieder Blut in den seit gut 30 Minuten schmerzenden Füßen und Beinen zu spüren? Das eigene Kind neben einem hat sich ja schon lange geholfen. Wann immer die tanzanimierende Musik von David Byrne ertönte und die atemberaubend choreografierten Gruppentanzpassagen einsetzten, sprang es auf und tanzte einfach vor dem Sitzplatz seine persönliche Interpretation. Dazwischen wurde es von den trotz ihres höheren Sinns momentweise barbarischen Vorgängen auf der Bühne zwar ein wenig verstört, sodass man versucht war, es mit dem Vater nach Hause zu schicken. Es meinte aber dann doch, „ich will nicht gehen, ich will bleiben!“

So eine direkte Energie im Platzumfeld kann einen also beeinflussen. Vor allem, wenn man sich mit dem Stück im Vorfeld theoretisch intensiv befasst hat, man wusste und erwartete, dass es genial werden würde. Die beiden Parameter, Talking-Heads-Legende David Byrne und der frühe Vandekeybus, müssen einfach einschlagen wie der Blitz nach zu langer Hitze. – Den Musiker, dessen einzigartige Stimme ich bereits als Teenager liebte, durfte ich 2004 live beim Donaufestival in der Alten Werft in Korneuburg in DAVID BYRNE featuring The Tosca Strings - My Backwards Life Tour erleben, was zu meinen stärksten drei Konzerten all meiner umfassenden Musikbegegnungen wurde.

Und
tatsächlich: Revival: In Spite of Wishing and Wanting fängt faszinierend allegorisch an. Noch bevor alle Besucher im vollbesetzten Volkstheater Platz genommen haben, hört man Fußtritte gegen Holzwände knallen, als wären wilde Hengste gegen ihren Willen in zu enge Boxen eingesperrt. Zwei Sessel stehen auf der Bühne, worauf zwei mit Zaumzeug in den Mündern miteinander verbundene, italienisch ins Mikro sprechende  Männer verkünden, „lasst uns auf eine Reise gehen, dann werden wir essen und trinken ...“, und schon galoppiert eine Horde übermütiger Pferdemänner mit ihren Hemdkragen in den Mäulern einher, unter ihnen der unbändige Wim Vandekeybus höchstpersönlich, wie schon 1999, als er ganz in Schwarz das Stück mit seiner damaligen Truppe kreiert hatte, deren Charaktere jetzt von zehn neuen Tänzern interpretiert werden.

Die kraftvolle Potenz des freiheitsliebenden Mannes wird da in ihrer ganzen Archaik offenbart, schon das ist so anziehend und politisch, wie die gezähmten Reittiere, die einst vom Menschen ihrer Freiheit beraubt und zum sittsamen Nutzgegenstand degradiert wurden. Jetzt dürfen diese animalisch verkörperten Urinstinkte noch einmal hinaus, in die unendliche Weite der Natur, in der Gemeinschaft ihresgleichen. In der Abwesenheit von Frauen erfahren die Männer, wie ihre erotischen und insgeheimen Träume aussehen, indem sie ihnen in den Bildern und in den Gedanken des Schlafs begegnen. Dann, wenn sie rasten, sprechen sie über ihr Verlangen, über ihre Sehnsüchte, aber auch über ihre Ängste. Dass es dabei zwangsläufig zu Machtphantasien und -kämpfen kommt, liegt auf der Hand. Denn Anführen und Folgen scheinen ebenso naturgegeben, wie Rivalität und Kameradschaft. Deshalb werden die Hengste von einem despotischen Aufpasser begleitet: ihre Wildheit darf nicht aus den Ufern geraten.

Kontrolliert gebaut ist deshalb das Stück: so wie Guiseppe Verdi seine Opern aus einer Abfolge von später bekannten Arien komponierte, so ist auch von Vandekeybus eine Nummer nach der anderen ein erkennbarer, in sich abgeschlossener Tanz-Hit: nichts schert in den Tutti-Nummern aus, nichts ist dem Zufall überlassen, und so ist jede Nummer für sich ästhetisch und effektbezogen unglaublich schön anzusehen. Besonders in Erinnerung bleiben die symbolhaft archetypisch strahlenden Choreographien, wenn die Männer in griechischen, langen Wickelröcken oder inmitten von fliegenden Federn tanzen, sie sich über passende Orangenhälften den Wunsch vom Traumpartner erfüllen, sowie die kämpferisch-eleganten Paartänze zwischen den Männern, die etwas äußerst Seltenes im Tanz zu zeigen vermögen: sexy männliche Energie ohne jede Homoerotik. Zum intensiven Eindruck trägt Byrnes einfühlsame und rhythmisch exakt sitzende Musik bei, wobei der Komponist pro Nummer eine eigene, unkonventionelle Klangfarbe kreiert.

Dazwischen folgen Blöcke mit Sprechpassagen sowie ein faszinierend surrealistischer Filmteil in der Mitte und gegen Ende der Aufführung, der eine Botschaft enthält und der dem nur psychologisch vermuteten Stück eine evolutionär wichtige machtpolitische Deutung verleiht: in Anspielung an die staatspolitische Regierungsentwicklung seit den Griechen (750 bis 500 v. Chr., Zeitperiode der Archaik), wo Tyrannen regierten, die dann von der spartanischen Männergesellschaft als Frühform der Demokratie abgelöst wurden.

Auf den Werken des argentinischen Autors Julio Cortázar basierend, erzählt der kamera- und schnitttechnisch horrorstilistisch gemachte, geniale Film in historischer Szenerie von einem italienisch sprechenden Magier, der einem englisch sprechenden Tyrannen dessen letzte Worte vor seiner Exekution verkaufen möchte. Daraufhin sind die pöbelnden italienischen Untertanen so neugierig, jene zu erfahren, dass sie den Despoten töten, und sogleich den Magier überfallen und ihn ebenso köpfen, ohne die Worte zu erfahren. Der Putsch der Rebellen in Sachen gerechter Regierungsutopie scheitert, weil jene weder gebildet, noch human sind: deshalb finden auch sie selbst den Tod. – Auf der Bühne springt indessen nur noch der wild scharrende und stampfende Wim Vandekeybus umher, der sich sozusagen als Künstler zum einzigen Freien der heutigen und ewigen Männer-Politlandschaft erklärt.

Die kleine Schwäche an diesem epochalen Werk liegt allein am Spannungsbogen des Erzählverlaufs, der keine Pause erlaubt und deshalb nach einer erträglichen Sitzdauer verlangen würde. Die Spannung begrenzt sich – bis auf den inhaltlichen Höhepunkt am Schluss - auf die jeweils überraschend poesievolle Idee der Sujet-Blöcke, die dann in der Ausführung zu lange dauern. Kürzen wäre daher eine Option. – Anhand des frenetischen Applauses könnte man allerdings jetzt nicht behaupten, dass das gesamte, alle Menschentypen und Alter ansprechende Publikum so empfunden hätte. Es soll sogar einzelne Enthusiasten gegeben haben, die diese Aufführung gerne noch länger gesehen hätten.  e.o.




DAS URTEIL WIM VANDEKEYBUS UND DAVID BYRNE SIND IM DUETT EINE KOMBINATION DER GANZ HOHEN KUNST.  DENN SIE SIND IN SACHEN POESIE UND ARCHAIK KOMPATIBEL. DAS VERSPRICHT GÄNSEHAUT-EFFEKT, SELBST WENN MAN DEM STÜCK UND DER MUSIK IHRE 17 JAHRE ANMERKT. MÖGLICHERWEISE WÄREN DIE EINZELNEN NUMMERN GEKÜRZT ZUGUNSTEN DER SPANNUNG IM GESAMTSTÜCK NOCH STÄRKER. IN ERINNERUNG BLEIBEN WUNDERSCHÖNE TANZBILDER IM EINDRUCK DER VERZÜCKUNG. UND NATÜRLICH DIESER WAHNSINNIG GENIALE SURREALISTISCHE FILM!

TANZ Revival: In Spite of Wishing and Wanting * Von: Wim Vandekeybus / Ultima Vez * Mit: Eddie Oroyan, Yassin Mrabtifi, Guilhem Chatir, Grégoire Malandain, Luke Jessop, Luke Murphy, Flavio D´Andrea, Knut Vikström Precht, Cheng-An Wu, Baldo Ruiz, Wim Vandekeybus * Musik & Soundscape: David Byrne * Film The Last Words: Wim Vandekeybus * Ort: Volkstheater Wien * Zeit: 16., 18.7.2016, 21h




Monday, July 25, 2016

impulstanz 2016 – Tagebuch 2: ANNE TERESA DE KEERSMAEKER SPRICHT „DIE WEISE VON LIEBE UND TOD DES CORNETS CHRISTOPH RILKE“

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Die Liebe des jungen Cornets spielt sich eher nur textlich im Kopf von Tänzer Michael Pomero ab; und Anne Teresa De Keersmaeker zeigt weniger dessen 15 Jahre ältere Geliebte ...

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... als die ältere, berühmte Choreografin, die sich innerlich romantisieren lässt, um dann ein intellektuelles, reflektiertes Werk zu schaffen. Und doch rührt „sie“ als fragile Ikone Anne Teresa De Keersmaeker, die als ältere Frau und Mutter mitleidet. (Fotos © Anne Van Aerschot)
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Wie sie einen doch immer wieder bewegen kann ...




15.7., gegen 22h30, im Wiener Odeon:



„Im nächsten Frühjahr (es kam traurig  und kalt) ritt ein Kurier des Freiherrn von Pirovano langsam in Langenau ein. Dort hat er eine alte Frau weinen sehen.“ – So lauten die letzten Worte des „sehr langen“ Gedichts, das eine innerlich sichtlich zutiefst bewegte Anne Teresa De Keersmaeker an diesem zweiten Aufführungstag des ImPulsTanz-Festivals 2016 vorträgt. – Vorträgt, nicht etwa vortanzt. Sie spricht auch insgesamt mehr, als sie sich bewegt. Das hat in diesem Fall trotzdem mehr mit Tanzen zu tun, als es oberflächlich betrachtet scheint.

Hat man das in diesem intimen Rahmen für relativ wenig Zuschauer verstanden, ist es dennoch Anne Teresa De Keersmaeker, die jetzt in ihrer Gesamtheit als Tanzikone betroffen macht: weil hier eine reife, angegraute Frau über das vergangene Spektakuläre der Liebe nachsinnieren mag, sowie über das Großartige all dessen, was einer jungen Tänzerin und Choreographin an Aufregung und Ruhm passiert. Und jede Frau und jeder Mann im Theatersaal jenseits der 45 fühlt mit ihr mit, weil irgendwann die größte Dramatik nur noch im Kopf stattfindet. Das erlebte Gefühl kann dadurch intensiver sein, als wenn man es tatsächlich erlebt. Gleichzeitig wird es aber von der Nostalgie einer verlorenen Zeit begleitet, was den Beigeschmack der Melancholie erklärt. (Weinen deshalb alte Menschen so schnell?)


Dabei ist in dem Gedicht mit der am Ende „alten, weinenden Frau“ nicht einmal die Vortragende selbst gemeint. Sondern höchstwahrscheinlich eine Mutter, die über ihren, im Krieg gefallenen, 18-jährigen Sohn trauert. Über den Tod des Cornets Christoph Rilke, Verwandter des Dichters der Ballade, Rainer Maria Rilke. Diesem wiederfährt auf seinem Ritt zum Kriegsfeld ein Geschenk: während einer Rast in einem Schloss verbringt er eine Liebesnacht mit der um 15 Jahre älteren Schlossherrin.


Jetzt wäre es naheliegend, den jungen Tänzer Michael Pomero mit dem Cornetten Rilke gleichzusetzen, und De Keersmaeker mit der älteren Schlossherrin. Stattdessen sind die Assoziationen und Absichten jedoch eher so, dass die Choreographin lediglich ausdrückt, inwiefern sich der Sprachinhalt, dessen Sinn und Melodie in zeitgenössische Tanzbewegungen umsetzen lassen. Dass das nicht primär über Charaktere läuft, liegt insbesondere bei De Keersmaeker auf der Hand.


Der belgischen Choreografin ist es darüber hinaus so wichtig, dass auch das Publikum den Text, dessen Atmosphäre und Rhythmus bereits im Aufführungsvorfeld versteht, dass er über die ImPulsTanz-Homepage bei ihrer Stückankündigung herunter zu laden war, Kartenbesitzer per e-mail damit versorgt wurden, und letztlich während der Vorstellung die einzelnen Seiten auf die Bühnenrückwand auf Deutsch und Englisch projiziert werden. Diese dreifache Absicherung wird inhaltlich noch einmal getoppt durch den abermaligen Vortrag von De Keersmaeker höchstpersönlich, den sie nach und zwischen ihrem Tanz - und nicht etwa begleitend – auswendig gelernt absolviert.


Das hat seinen Sinn: erst so wird klar, inwiefern ihr künstlerisch interpretiertes und erlebtes Sprechen sich vom auf bloßes Verständnis bedachten Lesen des Zuschauers unterscheidet, und wie ident ihre Art der Bewegung mit ihrer Art der Textbetonung (die so professionell ist wie von einer einschlägigen Schauspielerin) im Grunde ist. In beiden Fällen ist wiederum die verhaltene Ausdruckweise von De Keersmaeker charakteristisch, ihre Sprache enthält jedoch um einiges mehr an Emotion, als man in den spröden Bewegungen vermuten würde. (Wobei andere Stücke De Keersmaekers aber sehr viel Gefühl offenbaren, selbst wenn sie intellektuell gebaut sind.) Gleich sind die Präzision der Bewegung und der Aussprache, die Fehlerlosigkeit des Vokabulars (De Keersmaeker sagte nur einmal ein anderes Wort als im Text), sowie Spannungshaltung und -betonung im dramatischen Prozedere.


Die beiden weiteren Charaktere des Abends, die Querflötistin Chryssi Dimitriou und Co-Tänzer Michael Pomero, interpretierten den Text auch dementsprechend. Nur am Rande verkörpert der Tänzer den jungen Soldaten. Als meine er: „Wenn ich schon den Soldaten mimen soll, dann in der romantischen Sicht eines jungen, in den Drehungen kräftig springenden Menschen, der auf eine geheimnisvolle, abenteuerliche Liebesaffäre hofft.“ Die Querflötistin begleitet die mehrseitige Leseaufgabe des Publikums bis zu der Stelle, bevor der adelige Cornet auf die Gräfin stößt: kurzatmig rhythmisch pustend und repetitiv, ohne melodisch klingenden Ton (Musikstück: Opera per flauto von Salvatore Sciarrino: Imagine fenicia, All´auro in una lontananza). Die nahende, inhaltliche Melodramatik suggeriert hauptsächlich ihr unaufhörlich gequälter, angestrengter Gesichtsausdruck.


Das aus sich wiederholenden Phrasen bestehende Tanzduett von De Keersmaeker und Pomero danach ist eine Ankündigung hinsichtlich der kommenden Affäre, keine echte Begegnung, so, als ob sich beide, unabhängig von einander, die Liebesnacht vorstellen würden: es ist ein unpersönliches Treffen, in kurzen, synchronen Momenten, ohne richtige Berührung und gegenseitigen Blickkontakt. – Hier wollen sich zwei Menschen nicht kennen lernen, sondern einander einfach geben, was sie gerade brauchen. Unterstrichen wird die Anonymisierung durch die Unscheinbarkeit der Farbe Grau, die beide tragen. Die identen Kleider von Hose und T-Shirt verheißen darüber hinaus die Belanglosigkeit von Geschlechtern und Konventionen in diesem Moment, wo doch nur noch der Tod wartet. Alle Erinnerungen an diese Liebesnacht gehen verloren ... sowie ihr Leben in der Grauzone, wo nichts Persönliches bleibt, als ein, sein Leben opfernder Mann, der ein Familienerbe hinterlässt. 


Interessant ist – wie immer bei ImPulsTanz, das je nach Stück, ein vollkommen anderes Publikum anzuziehen vermag –, hier innerhalb dieser älteren „Konzerthaus- und Literaturgesellschaft“-Besucher Kulturstadtrat Andreas Mailath Pokorny neben seinen Subventionsgebern anzutreffen. Haben diese Leute das Stück in seiner Gesamtheit begriffen, dann können wir stolz sein, solche Kulturpolitiker in Wien zu haben. Denn dafür braucht es ein gewisses Hintergrundwissen. Aber: ein antikes Gedicht (Urfassung 1899) über die Zeit der Türkenbelagerung (1663) zu hören, ist an sich ja auch anregend. Insbesondere in der heutigen Zeit. e.o.






DAS URTEIL DE KEERSMAEKER ZEIGT SICH IN IHRER RILKE-UMSETZUNG ROMANTISCH, OHNE ROMANTISCHES EINZUSETZEN. MAN ERFÄHRT, WELCHE GEFÜHLE SICH IN IHREM KOPF ABSPIELEN, WENN SIE IHREN KÜHLEN TANZ DARBIETET. MAN IST GERÜHRT UND SCHÄTZT, DASS SIE AUS IHREM ALTER KEIN GEHEIMNIS MACHT. - KEINE GRAUE, SONDERN EINE ZIEMLICH SPANNENDE ZONE!





TANZ Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke * Von: Anne Teresa De Keersmaeker * Kreation und Performance: A.T. De Keersmaeker, Michael Pomero, Chryssi Dimitriou * Text: Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke von Rainer Maria Rilke * Musik: Opera per flauto, Salvatore Sciarrino Imagine fenicia, All´aure in una lontananza * Ort: Odeon Wien * Zeit: 15., 17., 18.7.2016, 21h

Tuesday, July 19, 2016

impulstanz 2016 – Tagebuch 1: JAHRHUNDERT-ERÖFFNUNG MIT DER KÖNIGIN DER ZEITGENOSSEN: MAGUY MARIN UND „BIT“


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BiT ... Das menschliche Zusammenleben ist ein beschwingter Volkstanz, wo alle gleichberechtigt im Kreis tanzen ...

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... oder doch eine Schlange bilden, und einer der Anführer ist: dessen Qualität bestimmt weder, ob er ein Mann, noch, ob er eine Frau ist, sondern dessen Gefühl für das verantwortungsvolle Miteinander in einer gesunden Welt. (Fotos © Hervé Deroo)
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Ganz schön unheimlich.



14.7., 22h30, im Wiener Volkstheater:

Ist es nun ein polarisierter
oder ein tosender Applaus?

Auf jeden Fall ist er verdient.

Die Französin, Maguy Marin,
verleiht
mit BiT
im Wiener Volkstheater
dem europäischen Aushängeschild
für zeitgenössischen Tanz,
dem österreichischen ImPulsTanz
seinen gebührenden Glanz.
Das ist nicht selbstverständlich.
Letztes Jahr war das Hungerjahr,
da konnte man zusehen,
wie ein ausgemergeltes Festival dahin siecht.
Als Anhängsel der bildenden Museumslandschaft.
So etwas zu verantworten,
ist ein kulturpolitisches Armutszeugnis.
Tanz ist eine eigenständige Kunstrichtung,
kein Beiwerk,
weder des Musiktheaters,
noch der Bildenden Kunst.

Davon überzeugen kann man sich jetzt, 2016:
schon an den ersten drei Festivaltagen
nach Marin
auch mit den Größen
De Keersmaeker und Vandekeybus.



Leider war Maguy Marin  bisher nicht oft bei ImPulsTanz zu Gast:
1997 mit May B – da war ich gerade mit meinem Publizistik-Theaterwissenschaft-Studium fertig und noch kein ImPulsTanz-Besucher.
2006 mit Umwelt. - Das sah ich mit dem wunderbaren Ballett-Choreografen Giorgio Madia. Wir waren „beide“ unendlich beeindruckt. Das ist bei Giorgio in zeitgenössischer Hinsicht so gut wie unmöglich. Diesen Insider zu begeistern, muss also auf echter Leistung beruhen.
Als 2009 neben dem wiederholt gezeigten Umwelt die Stücke May B und Description d´un combat dargeboten wurden, konnte ich zu meinem großen Bedauern leider nicht ins Theater gehen, da ich im Mai gerade mein Kind bekommen hatte. Allerdings wurde mir die Ehre zuteil, mit Maguin Marin ein Telefoninterview für die Falter-ImPulsTanz-Beilage zu machen. Ein sehr gutes Interview übrigens. (Ich muss – endlich mein „Best of“ veröffentlichen!)



Deshalb freute ich mich heuer wahnsinnig auf die Compagnie Maguy Marin. Und auch jetzt, am Ende, von BiT, im Hall des Applauses, ist sie für mich das Gesicht, die Königin des zeitgenössischen Tanzes schlechthin. So nimmt man dieses Genre ernst, weil man merkt, dass hier eine Choreografin arbeitet, die es ebenso ernst angeht. Zumindest hat man bei ihr nicht das Gefühl, dass sie viel nebenbei produziert. Weil ihre Werke in der Regel so verinnerlicht und präzise umgesetzt werden und dabei trotz makabrer Schwere in der Aussage musisch leicht erscheinen. Daran muss sie lange gearbeitet haben.

Über ihre Tänzerpersönlichkeiten sagte sie im Interview: „Brillante Performer und Tänzer, die entschlossen und schnell zum Punkt kommen, mochte ich nie. Und ich war selbst auch nie so. Wenn die Leute viel arbeiten, um irgendwohin zu gelangen, und es manchmal nicht schaffen, rührt mich das viel mehr: wenn der Mensch an seinem äußersten Schwächepunkt angelangt ist.“ – Von Schwäche im Ausdruck und in der Körperarbeit kann bei diesen Tänzern jedoch keine Rede sein. Selten sieht man derart charismatische Individuen, die gleichsam im Detail vollendet synchron erscheinen. „Jeder Mensch ist innerhalb der Gruppe anders. Deshalb tun auf der Bühne alle dasselbe, in derselben Geste sind sie aber ein bisschen unterschiedlich. Das mag ich: dasselbe, aber anders“, so Marin. „Dafür brauche ich die Mischung des klassischen Ballettsoldaten und des individuellen Zeitgenossen.“


Vom menschlichen Zusammenleben dieser Welt

 

Die sechsköpfige Tänzergruppe
- Ulises Alvarez, Daphné Koutsafti, Francoise Leick, Cathy Polo, Ennio Sammarco, Marcelo Sepulvedo –
steht in BiT (Uraufführung 2014)
für die Gemeinschaft der Menschen,
für deren Zusammenleben in sexueller Hinsicht
sowie im Team.
„Bit“ bedeutet auf Französisch ausgesprochen „Beat“
und andererseits meint es „bite“,
auf derbe Art den männlichen „Schwanz“.

Diese Gesellschaft (die man sich hinsichtlich der Vertrautheit auch gut bei einem Pariser Abendessen vorstellen könnte, wo sich drei
einander dreißig Jahre kennende Paare um die großteils 50 Jahre (!) wieder einmal treffen) wandelt bei durchgehend lautem rhythmisierendem Technobeat
über, unter und vor sechs schräg aufgestellten metall-bemalten Bretterebenen:
den steilen Lebenswegen eines jeden.

Sie halten sich meist an einander fest, schritttechnisch wie im französischen Volkstanz Farandole, jedoch mit der griechischen Syrtaki-Attitüde eines Anthony Quinn alias Alexis Zorbas, insbesondere, wenn die Männer zu Beginn des Stücks am Anfang und am Ende der Schlange stehen.
Das heißt: schon hier nehmen die Herren der Schöpfung die großgestisch tonangebende Rolle ein, was sich in den sexuellen Paarszenen noch einmal konkretisiert. Sie gehen ihre Schritte zunächst zeitangehalten, schleichend schwebend und leichtfüßig, trotz des bergigen Auf-und-Abstiegs. Mit steigender Beschwingtheit entledigen sie sich in wilden Wurfgesten des einen oder anderen Kleidungsstücks.

Bis ein Mann und eine Frau zurück bleiben, ein intimes Paar, wie es scheint, wo der Mann das Liebesgeschehen emotionslos verläßt, als hätter er gerade sein Geschäft verrichtet. Steigerung erfährt diese schale Emotion durch ein verse/chs/xt/fachtes Körperhybrid, das von einer Holzschräge auf rotem Teppich rutscht. Daraus schälen sich zwei, nur mit String-Tanga bekleidete Männer in Amphibien-Stellung heraus. Sie rivalisieren und bedrohen einander wie zwei Eidechsen vor der Begattung, die für gewöhnlich der Lohn der Anstrengung ist.


In mystischer Atmosphäre und in schneller Abfolge huschen plötzlich zwei religiöse Kuttenträger hervor, abgelöst von einer symbolischen Männer- sowie Frauenfigur, geschlechtsspezifisch betont durch schwarzes Gewand und jeweils weißer Maske. Drei Weberinnen in Kleidern mit Glockenröcken betonen die historisch gewachsene, traditionelle Rolle der Frau. In Folge besteigen und schänden fünf Mönchsgestalten nach einander in Missionarsstellung eine Frau, die das Geschehen regungslos über sich ergehen
lässt.

Eine Unmenge an Gold schmettert von einer Ebene herunter. Worauf eine glitzernde Partygesellschaft folgt. Bemerkenswert sind die nach Pumps nun Stöckelschuhe tragenden Frauen, die den steilen Berg, wie zu Beginn, in der Farandole-Syrtaki-Schlange herab tanzen, ohne zu stolpern. Und noch ein Unterschied ist auffällig: die Gruppe wird jetzt von einer „Anführerin“ sowie von einem "weiblichen" Schlusslicht geleitet, die ebenso großgestisch agieren wie zuvor die Männer.


Wir scheinen uns also in der fortgeschrittenen Gegenwart zu befinden. Der Gruppentanz wird immer übermütiger und ausgelassener, bis eine Frau aus Versehen hinterrücks von der Ebene fällt. Eine zweite Person stürzt ebenso unabsichtlich hinunter. Die weiteren springen nach einander wie die Lemminge hinter her. Mit dem letzten „Selbstmörder“ werden abrupt Ton und Licht abgedreht. Was für ein effektreiches Ende!



Was lässt sich daraus lesen: die kapitalistische Dekadenz von heute hat zu keiner Gleichberechtigung der Geschlechter und Menschen geführt. Und ob dieses Ziel überhaupt das Ziel ist, das die Heilung bringt, ist fragwürdig. Alles, was man und frau tun kann, ist: nach eigenem Gutdünken, jedoch mit Umsicht auf die anderen so verantwortungsvoll wie möglich die individuelle Bergwanderung des Lebens erklimmen. Um nicht vorzeitig abzustürzen und andere dabei mitzureißen.


Wie unheimlich!



14.7. 22h45, in Nizza,
da, wo die Schickeria Frankreichs verkehrt.

Ein 31-jähriger Tunesier
reißt im Namen der Terrororganisation IS
mit einem LKW 84 Menschen in den Tod
und verantwortet 200 zum Teil Schwerverletzte.
Angeblich wurde er erst vor kurzem radikalisiert;
er tat es für Geld, das er zuvor seiner Familie zukommen lassen hatte,
die ihn auf Initiative der Ehefrau wegen seiner Brutalität verlassen hatte.
– Was ist bei diesem "Lemming" schief gelaufen?
Auf jeden Fall liegt das Dilemma auch hier
in Marins grundlegender Weisheit,
die sie aus Samuel Beckett gewonnen hat:
„Die menschlichen Beziehungen messen sich
andauernd an der Macht des Stärkeren.“
  e.o.



DAS URTEIL STÄRKER UND EDLER LÄSST SICH EIN ZEITGENÖSSISCHES TANZFESTIVAL KAUM ERÖFFNEN. MAGUY MARIN IST MIT IHREN 65 JAHREN WEISER ALS METHUSALEM UND MUSISCHER ALS APOLLO, (MUSIK-)ÄSTHETISCH UND IN SACHEN SUJET-RADIKALITÄT JEDOCH MUTIGER ALS JEDER NEWCOMER. WENN DER ZEITGENÖSSISCHE TANZ EIN GESICHT HAT, DANN TRÄGT ER DAS IHRE.


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TANZ BiT * Choreografie und Regie: Maguy Marin * Mit: Ulises Alvarez, Daphné Koutsafti, Francoise Leick, Cathy Polo, Ennio Sammarco, Marcelo Sepulvedo * Musik: Charlie Aubry * Ort: Volkstheater Wien * Zeit: 14.7.2016, 21h