Sunday, April 27, 2008

MUSIK: JAMES MORRISON BRINGT JÄRVI´S TONKÜNSTLER INS "JAZZLAND"

Plugged-In heißt die Serie der Tonkünstler unter Dirigent Kristjan Järvi, wenn´s in den weltmusikalischen Jazz-Groove geht (Foto © Peter Rigaud) ...



















Nun, ans Strom geschlossen oder nicht: im dritten Teil Jazzland, bestimmt durch Trompetenass James Morrison (Foto © James Morrison Enterprises), raste der Strom auf alle Fälle: durchs Publikum!



MUSIKVEREIN WIEN JAMES MORRISON IM JAZZLAND ODER IN DER SYMPHONISCHEN PLUGGED-IN-SERIE - WAS AUCH IMMER, DAS AUSTRALISCHE BIG-ASS DER TROMPETE LIESS DAS TONKÜNSTLER ORCHESTER UNTER KRISTJAN JÄRVI SWINGEN UND GROOVEN

Es war nach All That Tango und A Night in Tunesia der dritte und vorerst letzte Teil der Plugged-In-Serie und hieß Jazzland. Und obwohl "dieser Jazz" des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich - an sich schon ein Widerspruch - im Musikverein stattfand, war das ein richtig gutes "Jazz"-Konzert. Sprich: trotz biederer Halle (mit toller Akustik), trotz Klassikorchester eines "Bundeslandes", trotz (wenn auch radikalem) Klassikdirigenten Kristjan Järvi. Denn angeregt wurde dieses Musikereignis vom australischen Jazztrompeter James Morrison, gleichermaßen Wahnsinnsblaskünstler wie Showmanwahnsinniger.

Von der sprungvereinten Antheil-Jazzsymphonie ...

Dabei begann zunächst alles "bekannt", mit einer Järvi-typischen Nummer: dem Titel A Jazz Symphony. Typisch, weil Järvi gerne Clusterstücke dirigiert, wo es scheint, als hätten sich viele bekannte Zitate in einem Stück verirrt, was denn lustig - heute würde man sagen "technoartig" - übereinandergelegt und theatral von ihm und seinem Orchester wiedergegeben wird. Als eine Art von geistiger Reflexion, als seien Musiker und junge Komponisten heute ob der grandiosen Vielfalt aus der Musikgeschichte einfach nur noch übersättigt, sodass sie nichts mehr hinzuzufügen haben, außer übersprudelnd-genußsüchtige Dankbarkeit gegenüber all der Fülle. - Diese Komposition könnte also genauso von einem John Adams stammen oder von einer in die Klassik ausgezogenen Formation Kruder & Dorfmeister. Sie stammt jedoch von einem anderen "bösen Jungen der Musik", von George Antheil (der kurioserweise und auch hörbar nachvollziehbar mit dem Wiener Hollywoodstar Hedy Lamarr das Frequenzsprungverfahren der heutigen Mobilfunktechnik erfunden hat); und - man glaubt es kaum - er schrieb diese sprungreife Komposition im Jahr 1925! In der Orchesterfassung 1955 spielt Järvi das auf Piano - umgeben von Xylophon, Schlagzeug und Trompete - zugespitzte Werk nun zum Auftakt des Abends mit einem 12-Mann-Bruchteil seiner Tonkünstler. Das klingt, als hätte sein New Yorker, nur aus Solisten bestehendes Zweitorchester, Absolute Ensemble, auf einen Abstecher vorbei geschaut, um diese Akustik eines revueartigen Klassikerverschnitts mit Strawinsky-Temperament zum meditativen Grooven zu bringen. Und doch läßt sich feststellen: nur das schnelle und allein-spielende Klaviersolo bringt zwischendurch mentale Klärung, etwas, das in diesem Stück sehr notwendig ist, und was am Ende noch einmal als kitschig-erleichternder Big-Band-Sound eintritt.

... zur symphonischen Big Band im Zoff mit dem Jazz

"Big Band" ist das Stichwort zum darauf folgenden Auftritt des internationalen, vom Publikum entsprechend laut empfangenen Gaststars, begleitet vom - jetzt - hundertköpfigen Tonkünstler-Orchester: James Morrison scherzt gleich gut gelaunt über sein Schizobassiac, "Concerto für Euphonium und Orchester": "Das ist ein australisch-schizophrenes Gebilde zwischen Jazz und Symphonie!" Dabei ordnet sich der freiheitsliebende Jazzer mit seinem leisen Baritonhorn sehr dem klassischen Spiel unter, einer sehr sanften, sehr getragenen, fast biederen Wohlklangmusik aus Querflöten und Celli. Selbst wenn er kurz reißaus nimmt, mit immer kürzeren Tönen, sich tief blasend als "Mann von der Straße" zu erkennen gibt, aber gleich wieder im leicht-fröhlichen Orchester aufzulösen gedenkt. Das ist so sehr Romantik, so sehr Lyrik, dass selbst ein lebenslustig-aufmüpfige Jazzer wie er klar und gedämpft dem tonalen Gefühl gehorchen muss. Richtig gut, wie man sich einen Musiktypen seines Kalibers vorstellt, wird er aber dann doch erst ab City Shift von Sean O´Boyle und ihm: Morrison rast wie auf der Jagd, gestützt von Schlagzeug und anarchischem Swing, eloquent und frech, sodass es zum Lachen anregt, vor allem wenn man den Kampf zwischen Jazz und Symphonie jetzt tatsächlich mitbekommt, und die Geigen nur mehr "komisch" klingen. Dem setzt Morrison mit verschmitztem, keinesfalls bösem Solo aus Hoch bis ganz Tief noch eins nach! Spätestens jetzt ist die Zeit reif für Duke Ellingtons und Juan Tizols reiner Jazz-Big-Band-Nummer Caravan, die von Morrison mit dominantem, - live etwas blechern klingendem - Schlagzeug arrangiert wurde, während instrumentenverkehrt der Bass den jazz-schnellen Rhythmus taktiert. Das ebenso schnelle Klaviersolo von Michael Starch swingt dazu, und steigert sich durch den wiederholten Refrain in verschiedenen Tonlagen zum Schwung. Da gelangt der Witz ins schauspielerischer Schwitzen, bis er im meleodramatischen Finale verschwimmt.

Kabarettreifer Showmaster greift zur digitalen Trompete

Kabarettreif zur Feier des Moments zieht Morrison daraufhin eine leuchtend-blaue, digitale Trompete hervor. Schließlich will er dem eingesteckten Motto der Konzertserie gerecht werden. Kein Tiefstapler, bezeichnet er sich von den drei möglichen Stufen an diesem Instrument zwischen "Anfänger, Durchschnitt und Experte" als Letzteres. Und er meint noch: "Mein Bruder beherrscht dieses Instrument auch - er ist Schlagzeuger ..." Und damit hat er auch schon das Computer-Geheimnis gelüftet und mimt ein "Huhn, das eine digitale Trompete spielt". Dann tritt der wahre Experte aber wirklich hervor: Morrison spielt das blaue Ding wie eine Panflöte, deren Schmerz sehr elegant in leichtem Swing aufgeht. Und doch ist sein klassisches Flügelhorn danach die reinste Wohltat, denn "der Jazz" kehrt damit endlich zum echten, guten, alten, wertvoll-erdigen Jazz zurück: Morrisons Enchanted, orchestriert von O'Boyle und dirigiert von Järvi, funktioniert nach dem typischen Jazz-Aufbau: auf das Flügelhorn-Solo folgt jenes des Pianos und jenes der Tonkünstler-Trompete. Järvi wird dabei tatsächlich so "enchanted", dass er sich ins Publikum dreht und einfach nur noch lacht. So "hingerissen" wird er auch selbst gleich "zum Publikum", denn er kann (muss) sich auf der Bühne setzen und zuhören, um sich von Morrison am - ebenso wie die Trompete beherrschten - Klavier das schlichte Jazz-Trio mit Schlagzeug und Bass von Andy Cowan, den Australian Folk Song, vorführen zu lassen. Sodass nun im Musikverein - im Unterschied zum Club, wo diese Art von Jazz sonst als Hintergrundsound läuft - tatsächlich jeder aufmerksam still zu sein hat, einschließlich der hundert Musiker auf der Bühne. Das ist fast reaktionär! Die Solisten steigern sich eloquent und elegant von leise zu laut in ein anwachsend grandioses Gefühl. Es kommt so perfekt kalkuliert, um bestens zum Finale anzufeuern: Zu Ellingtons Klassiker Harlem, arrangiert von Charles Coleman, jenem perfekten Big-Band-Stück für Trompete. Da passen selbst die gezupften Geigen, verführerisch wie Mata Hari erinnern sie an die Zeit der großen Filmstudios, wo Dramatik gleich leichter Swing bedeutete. Doch es wäre nicht Jazz, wenn nicht etwas Unvorhergesehenes passieren würde: auf den Rhythmuswechsel übernimmt die Bratsche den Part des Saxophons, und mit dem Klaviersolo trifft es die absolute Atmosphäre des Film Noirs. Auf das erneute dramatische Anschwellen dehnt sich jetzt die bekannte Nummer als sei sie betrunken, und auf einen letzten Aufschrei hin, scheint die Spannung in Kontrasten kaum noch zu überbieten: mit den Klopfgeräuschen haben die Schlagzeuger der Tonkünstler endlich einmal etwas zu tun, und alles verlangt nach der Explosion im Exzeß: Morrisons Trompete vibriert, sie ist echt, nicht gespielt gespielt. - Damit springt der Funke endgültig aufs Publikum über, es kann nicht genug bekommen - und bekommt als Zugabe Morrisons "Kunststück", worin er sich, den Trompetenstar, alleine am Klavier begleitet. Das kann Järvi nur noch mit einem kurzen Rhythmushagel toppen - und der Hagel trommelt jedem ins Blut. Ein Feuer, ein perfekt gesteigerter Akt! e.o. / p.s.

DAS URTEIL "PLUGGED-IN" NUR AM RANDE, DAFÜR ABER RICHTIG GUTER, ALTER, UNTERHALTSAMER (!) JAZZ: JAMES MORRISON? - EIN SHOWTALENT, UND DANEBEN EIN MUSIKGENIE; UND EIN NEUES LICHT FÜR KRISTJAN JÄRVI!

Nächste Tonkünstler-Konzerte mit Kristjan Järvi

Olivier Messiaen, Sergej Prokofjew und Arvo Pärt
(mit vergrößerter Fassung im Auftrag der Tonkünstler von „Stabat Mater“) * Dirigent: Kristjan Järvi * Mit: Tonkünstler-Orchester * Ort: im Rahmen der Wiener Festwochen: Musikverein Wien * Zeit: 12.6.2008: 19h30

Sommernachtsgala * Musik aus Werken von BEETHOVEN, BRAHMS, GERSHWIN, LALO, LEHÁR, SAINT-SAËNS, RAVEL, ROSSINI, VIVALDI u.a. * Dirigent: Kristjan Järvi * Mit: Tonkünstler-Orchester * Mit: Michael Schade - Tenor, Sarah Chang - Violine, Katia und Marielle Labèque - Klavier * Ort: Wolkenturm Grafenegg * Zeit: 20.6.2008: 21h15

Friday, April 18, 2008

TANZ: DER BATSHEVA-EFFEKT VON OHAD NAHARIN IN "MAX"

Der Tanz von Ohad Naharin lebt vom Wechsel zwischen Gruppe, ...

... Duo und Individualtanz - und hat Sexappeal, da Effekt bei angekränkelt a-typischen Haltungen und Bewegungen. Fotos © Batsheva Dance


TANZQUARTIER DIE ISRAELISCHE BATSHEVA DANCE COMPANY VON OHAD NAHARIN BRINGT MIT MAX EFFEKT IN DEN ABSTRAKTEN TANZ - UND GEFÄLLT

Das ist schon komisch: da muß erst ein Choreograf mit seiner von Martha Graham und Baronesse Batsheva De Rothschild gegründeten Company aus Israel kommen, damit zeitgenössischer Tanz mit dem gewissen Etwas, nämlich "Effekt", unter Österreichs Tanzkritikern zur Gänze gelobt wird. Vielleicht liegt es auch daran, dass dieser Tanz im Tanzquartier (Halle G) gezeigt wurde und nicht etwa in der Volksoper, sodass er für jenen Ort genau das richtige Maß an "Linie" hatte, die man ansonsten dort schmerzlich vermißt. Fakt ist aber auch, dass wir mit Giorgio Madia als Choreograf, vor allem in Nudo schon sehr viel von dem in Wien hatten, was jetzt so begeistert bei Ohad Naharins Batsheva Dance Company von den Wienern angenommen wurde. D.h., was unter der Kategorie "Ballett" von 2003 - 2005 vom Volksopernballett unter Madia erfolgreich lief, läuft jetzt auch unter der Kategorie "zeitgenössischer Tanz", nur eben von manchem Kritiker anders beurteilt, da jener an-sich zu sehr vom Kategoriendenken gesteuert ist.

So weit ist ein Naharin nicht von einem Madia entfernt

Natürlich war Max von Batsheva - gemäß der zeitgenössischen Tanz-Kategorie, in der es stattfindet - noch abstrakter und radikaler als damals Nudo innerhalb der Kategorie Ballett. Doch hat beides unterm Strich in sich dasselbe qualitative Niveau bezüglich des Ausscherens vom Gewöhnlichen innerhalb seiner Kategorie. - Aber auch im eigenen Anspruch bezüglich einer gewissen, wenn auch noch einmal sehr persönlich gefärbten Bewegungsästhetik und Harmonie, wobei sowohl Naharin, als auch Madia Studien- bzw. Tanzjahre bei Béjart und in den USA verbrachten. Da aber jeder Choreograf weiß, dass er ein Projekt "auch" für eine bestimmt-ausgerichtete Auftragsstätte kreiert, bekommt das Werk und die Tanzlinie dann die unterschiedlichen Nuancen. Und doch muß man sagen: wir waren eigentlich schon auf dem Weg, genauso eine eigene (international erfolgreiche), schillernd-abstrakte österreichische Company zu haben. - Aber, was soll´s, diese Debatten sind vorbei. Jetzt waren die Israelis da, und haben uns (endlich wieder einmal) gezeigt, wie aufregend-guter Tanz sein kann. Das fängt mit den athletischen Körpern der Tänzer an, die in ihrer kräftig-gesunden Vitalität eine eigene Wirkung ausstrahlen (wie übrigens auch schon die Körper bei Madia, der andererseits auch entgegengesetzt auffällige, doch in-sich-geschlossen-harmonische bzw. erformte Körpertypen hegte). Dass diese Körper in der Lage sind, außergewöhnliche Körperarbeit zu leisten, liegt auf der Hand. Denn jeder Körper zeigt exakt das, was man ihm ansieht; es läßt sich im Tanz nichts verbergen.

Israelische Körperkunst mit Effekt

Diese Körper stehen zu Beginn in kurzen Sporttricots mit dem Rücken zum Publikum. Dass sie vom Zuschauer als israelische "Körper" wahrgenommen werden, liegt nicht etwa am - in Israel allseits präsenten - Krieg, der jeden Menschenkörper durch mehrjähriges Pflichttraining generell widerstandsfähig macht, sondern am Beifügen einer eigens lokalgefärbten Musik samt Sprechgesang mit hebräischem Text - komponiert und vorgetragen vom Meister himself - von Ohad Naharin unter dem Pseudonym Maxim Waratt. Unklar ist dem Zuschauer bis zuletzt, ob hier nun auf die Geschichte Israels bzw. der Juden angespielt wird oder nicht, denn man sieht immer wieder eine sich formierende, lautstarke "Klagemauer" aus Tänzern, die auch an einen rituellen Buschtanz erinnern könnte, man hört und sieht Wiederholungen des prinzipiellen Zählens, wo jeweils auf Vorigem um eine fortlaufend neue "Nummer" aufgebaut wird; und man sieht den wiederkehrenden Kampf des Einzelnen als ruckhaften Ausbruch aus der Gruppe, aus dem Paar und dessen erneutes Einfügen zum perfekten Unisono(-Duett), einschließlich einer angedeuteten, einmaligen Kopulationsszene zwischen Mann und Frau. Das ist eine getanzte Philosophie zwischen Sollen und Wollen, zwischen Muß und Können, zwischen Regel, Ritual, Religion und Trieb, aus den ursprünglichen Kapazitäten des Körpers heraus, selbst wenn diese der bereits (einschlägig) ausgebildete Mensch erst entdecken muss.

Es geht also um prinzipielle Bausteine, die anwachsen zu einem Gerüst, um motorische Techniken, die zur funktionierenden Maschine werden. Das wäre nichts Außergewöhnliches, würde es letztendlich nicht (bekannt) harmonisch schön wirken und gleichzeitig neuartig abstrakt sein. Sowohl die Musik, als auch der Tanz verwenden dabei (fast banal) Bekanntes, vermischt mit (häßlich) Unbekanntem: der durch das Hebräische folkloristische Ton mit tief singender Männerstimme wird mit Natur-Motorengeräuschen und Flüstern verfremdet, Basisübungen wie die Grundschritte zur Balancehaltung im Ballett werden verbogen und wirken "angekränkelt". Doch bei alledem stimmt letztendlich die arrangierte Abfolge von Einzeltanz zum anwachsenden Gruppenbild im grafisch eingerichteten Raum. - Deshalb stimmt hier der Effekt: weil er genau jenes Tempo bedient, wie der heutige, neugierige Mensch visuelle und akustische Geschwindigkeit als unterhaltsam (und auch komisch!) empfindet. - Das ist zeitgenössischer Tanz, wie man sich´s gefallen lassen will. Und wie er erstmals im Tanzquartier zu sehen war! e.o.

Video-Links zum Tanz-Vergleich:
Ohad Naharin choreografierte für die Batsheva Dance Company: Seder (Stichworte: Klagemauer-Formation und Unisono-Effekt) und Three (Stichworte: sperrige Bewegungen, Isolation des Einzelnen, Unförmigkeit, plötzliche Übereinstimmung der Gruppe oder eines Duos aus Stillstand oder Gruppendurcheinander)
Giorgio Madia chroregrafierte für das Volksopernballett 2003 (siehe popiger Part ab ca. 2,30 min zu Jazz-Sax-Musik: humoristisch motivierte Bewegungen bis zu "schmerzhaft-anmutenden" Boden- und Yogaübungen): Nudo



DAS URTEIL EIGENTLICH HATTEN WIR DAS VOR FÜNF JAHREN SELBST SCHON IN ÖSTERREICH: ABER WENN EINE GRUPPE AUS ISRAEL SOLCHEN TANZ ZEIGT, WIRD ER ERST ANERKANNT! - TYPISCH ÖSTERREICH (WIEN).

TANZ Max * Von: Ohad Naharin * Mit: Batsheva Dance Company (IL) * Ort: Tanzquartier, Halle G/MQ * Zeit: 29.-31.3.2008: 20h30

Friday, April 11, 2008

OPER: PHILIPP HARNONCOURT MIT BOROCKER "ALCIONE" IM ODEON

Alcione (Svetlana Smolentseva) und Ceix (Johannes Weiß) befinden sich am festen Meeressteg noch auf sicherem Terrain ihrer Liebe ...

... wenn nur nicht der attraktive und eifersüchtige Pelée (Steffen Rössler), angetrieben durch den bösen Phorbas = Gott Pan (Yasushi Hirano), Alcione für sich haben wollte ...

... sodass der manipuliert aufgehetzte Ceix auf stürmische Irrfahrt gehen muss, wo ihn alle möglichen Unterwelt-Gestalten begleiten ... Fotos © Odeon/Stefan SMIDT


ODEON WIEN PHILIPP HARNONCOURT ERWEITERT DAS PROGRAMM DES RENOMMIERTEN BUTOH-HAUSES UM BAROCKE TÖNE: MIT DER ALLEGORISCHEN ALCIONE VON MARIN MARAIS LÄSST SICH DIE LINIE SINNVOLL AUSBAUEN

Regisseur Philipp Harnoncourt schöpft genetisch und biografisch aus zwei Urtrieben: als Sohn des genialen Dirigenten und Barockorchester-Leiters Nikolaus Harnoncourt hat er genau dasselbe Gespür für Cembalo, Laute, Tamburin, etc. wie der Vater; darüber hinaus baut er bei seiner Inszenierung von Marin Marais´ Alcione wie jener auf dasselbe Prinzip: auf durch und durch hervorragende Spitzensänger bis in die kleinste Rolle, die jeden Ton mitdenken und aus ihrem Innersten heraus erleben. Und als ursprünglicher Wiener ImPulsTanz-Mitverantwortlicher hegt Philipp Harnoncourt eine tiefgreifende Affinität für zeitgenössischen Tanz und Raumgestaltung. - Diese zwei Parameter lassen sich im Odeon bestens vereinen, in jenem schönsten, die humane Ewigkeit vermittelnden Theaterraum Wiens, der zuletzt viel im Gerede war, wegen der Subventionsverzögerungen für das dort residierende Serapions-Tanzensemble von Erwin Piplitz und Ulrike Kaufmann, das zwar hervorragend, über die Jahrzehnte aber für manchen zu eindimensional und damit zu wenig ausgelastet war.

Wenn sich zwei Götter streiten, leidet der Mensch

Nun ist die achtmal gespielte Barockoper aus dem Jahr 1706 wohl die Antwort darauf. Diese Antwort hat sowohl Niveau, sie macht aber auch abwechslungsreichen Sinn. Kaufmann und Piplitz steuern ihre Butoh-Tänzer bei und verantworten die Ausstattung - klar erkennbar am lagenlookigen Kleiderstil in A-Form aus feinsten Materialien, die "diese Götter" als erlesene Clochards ihren Gefühlen zwischen Liebe und Eifersucht, Gefühlserwiderung und Neid, Eroberung und Verzicht ausliefern. Jener Zerrissenheit zwischen Gut und Böse, Glück und Unglück, Erfolg und Untergang, die der Menschheit seit ihrer Existenz zu schaffen macht und die für ihr Leid in Reinkultur steht. Denn wenn sich zwei entgegengesetzte Götter streiten, leidet der Mensch. So haben es sich zumindest die Griechen erdacht. - Konkret geht es um den neidischen, zum Kampf provozierenden Pan, den der friedvolle Apollon besiegt und mit einer lehrreichen Parabel besänftigt: darin will der verschmähte Pélée, angetrieben durch den bösen Phorbas und die Zauberin Ismène, die Liebe zwischen König Ceix und Alcione zerstören. Ceix denkt, jene nur mit dunklen Kräften der Unterwelt besiegen zu können und erleidet eine qualvolle Meeresreise des Irrsinns, um letztendlich harmonischen Frieden des weisen Orakels (die Weissagung tugendhaften Tuns) zu erfahren. Auf die ihn zurückhaltenden Worte Alciones will Ceix nicht hören, die dann wiederum - allein zurückbleibend - mit sorgenvollen Träumen um ihn und Abwehrkämpfen gegenüber der Versuchung nach Pélée mit sich selbst zu ringen hat. In einer Art Romeo und Julia treffen sich die Liebenden dann im Tod in der Weisheit letzter Schluß: sich treu zu sein, gleich zweier Eisvögel, in die sie der, die Meeresbewohner beschützende, Meeresgott Neptun verwandelt hat. - Dieses Symbol als menschlich zu erstrebenswertes Ziel braucht es offensichtlich, da Gefühle wie kleinste Teilchen im Wasser rasend schnell in Unordnung geraten können. Und der Untertitel zum Stück, "Von der Unmöglichkeit, die große Liebe zu überleben", sagt auch, in welche Richtung sich der Regisseur diese Moral zu interpretieren gedacht hat: dass nur die Mäßigung der Gefühle lebensfähig ist.

Von der schwierigen Mäßigung der Gefühle

Wie groß die Verführung, sich den absoluten Gefühlstrieben hin zu geben, aber ist, unterstreicht Harnoncourt durch die widersprüchlich positive Besetzung des zurückgewiesenen Pélée durch den ausgesprochen anziehenden und mit seinem Bariton wohlklingenden Steffen Rössler. Er wirkt als Mann um vieles anziehender als der Tenor und positive Held "Ceix", auch wenn Johannes Weiß wahrscheinlich zu Barockzeiten den größeren Anziehungsfaktor bedeutet hätte, da die hohen Männerstimmen zu jener Zeit gleich Göttern verehrt wurden. Johannes Weiß singt dementsprechend - auch heute noch - ungewöhnlich schön. In Sachen Sexappeal wirkt Rössler aber stärker. Das macht das Ganze spannend. Denn es geht ja (auch) um die Abwehr der Verführung zugunsten des Erhalts des Treuegefühls von Alcione, der Russin Svetlana Smolentseva mit heller und junger Stimme, der unglaublich filigran und zartfühlend singendsten Sopranistin dieser Inszenierung. Heißt es, "die Liebe wird beleidigt, wenn man ihrem Leid folgt", hinterfragt von "ob die Ehe die Liebe vernichtet", beantwortet im durch schwankend kämpfende Gestalten dargestellten, gestörten Meer, "die Liebe glättet alle Wellen", wonach Ceix aber doch "flieht, vor ihren Tränen", wird das für den Zuschauer umso bewegender. Und wenn Pélée auch noch Gewissensqualen durchsteht und sich für einen Verräter hält, erst recht, weil es den Kampf mit der eigenen Schwäche in jedem Menschen ausdrückt. Stimmig ist dabei das Ineinandergreifen von Tänzern und Sängern, indem die Sänger, wie Bass Yasushi Hirano als Pan und Phorbas, manchmal auch tanzen, die Tänzer auch singen (da können die Iribar-Tänzerinnen durchaus ein bißchen peinlich klingen, insgesamt kommt es sympathisch). Bewegt wie das "gefühlvolle" Meer ist das (sehr interessant) originalinstrumentierte Orchester unter Dirigent Lorenz Duftschmid, das letztlich für den schwankenden Gefühlsverlauf des Stücks steht. Denn es spielt einmal von links, dann von rechts, dann wieder in reduzierter Besetzung und am Schluß, von jedem bösen Fluch (= innerem Schweinehund) befreit offen aufgereiht am Bühnenhintergrund.

Wo bleibt der Wahnsinn?

Neben den Sängern - mit Glanznummer eines siebenköpfigen Frauenchors unter Weihrauch mit Übergang in Flötentöne - am ergreifendsten sind die inszenierten Metaphern, die Zerrissenheitsgefühlsbilder wie ein Besteck-Tanz an der versuchten Hochzeits-Festtafel, ein wankender, verführerisch und todesbedrohlich eingarnender Schnurtanz, "manipuliert-vereinnahmte" Marionetten-Tänzer, ein irischer Volkstanz als stürmische See, und das Segelschiff mit Riesenbett als mehrdeutiges Symbol von potentiellem Liebesrausch, gefährlicher Erkenntnisreise bis sorgenvollem Alptraum. Das alles ist bei insgesamt edel-purem Anblick perfekt-gesittet arrangiert und ineinander verschlungen ausgedacht. Nur eines fehlt diesem Kunstakt aber doch: der Wahnsinn, der Ausbruch aus der sofort eintretenden Erwartungshaltung - da könnte sich Philipp Harnoncourt noch ein Beispiel an seinem Vater nehmen, so unangenehm derartige Vergleiche auch sein mögen und so angebracht das inhaltlich motivierte Ziel der Mäßigung hier auch formal erscheinen mag ... e.o./r.r.


DAS URTEIL EINE FEINE, SCHÖNE, PERFEKTE KOMBINATION, FÜR MANCHEN VIELLEICHT ZU PERFEKT ...

OPER Alcione * Von: Marin Marais * Regie: Philipp Harnoncourt * Musikalische Leitung: Lorenz Duftschmid, Armonico Tributo Austria * Ausstattung: Ulrike Kaufmann, Erwin Piplits * Mit: Svetlana Smolentseva, Johannes Weiß, Steffen Rössler, Yasushi Hirano, Martina Prins, Andreas Jankowitsch, Bernd Lambauer; Johanna von der Deken, Agnes Scheibelreiter * Mit: J.J.Fux-Madrigalisten: Agnes Scheibelreiter, Elisabeth Breuer, Nozomi Yoshizawa, Victoria Rona, Rudolf Brunnhuber, Kurt Kempf, Guy Putz, Jörg Espenkott, Dominik Rieger, Jens Waldig * Mit: Serapions Ensemble: Carlos Delgado Betancourt, Marcelo Cardoso Gama, Sandra Rato da Trindade, Kyung In Choi, José Antonio Rey Garcia, Mercedes Vargas Iribar, Miriam Vargas Iribar

Nächste Oper im Odeon
OPER Kaspar Hauser oder Unter Menschen * Ein chorisches Musiktheater von Friedrich Karl Waechter * Regie: Christian Schidlowski * Musikalische Leitung & Musik: Martin Zels * Bühnenbild: Andreas Wagner * Mit: Jürgen Decke, Petra Javorsky, Martin Zels, Ein Chor, Menschen: „Auftakt“ * Mit: Kammerensemble: Hela Risto, Birgit Trost, Jacub Horacek, Daniela Grams, Daniel Sauermann * Ort: Odeon Wien * Zeit: 12.4.2008: 20h