Friday, August 27, 2010

TANZ: MARIE CHOUINARD SUCHT "THE GOLDEN MEAN (LIVE)"


Die Goldene Mitte der Zukunft symbolisieren goldene, wie frisch geschlüpfte Alienwesen mit Masken - noch spannend in der ersten Szene von Chouinards neuer Choreografie.


Im politischen Alltag sind die Hoffnungsträger dann meist Intellektuelle, die viel lesen und reden, statt auf ihre Instinkte zu hören.

Wären diese Wesen öfter Persönlichkeiten wie die erleuchtete Tänzerin Carol Prieur, wäre die goldene Aufführungswelt der Chouinard durchgehend spannend. (Fotos © Sylvie-Ann Paré)







MUSEUMSQUARTIER - IMPULSTANZ
KURZ VOR DEM FINDEN DER GOLDENEN MITTE IST DAS LEBEN WOHL AM SPANNENDSTEN UND SCHÖNSTEN - DAS LÄSST SICH BEI DER KANADIERIN MARIE CHOUINARD ERAHNEN


Von einem befriedigenden Tanztheaterabend kann man sprechen, wenn dessen Bilder einer illusionären Welt einen im Nachhinein verfolgen; wenn sie ihn auf eine andere Ebene bringen. Schon weil der geschäftige Alltag nie wunderbar ist, selbst für den, der insgesamt glücklich ist. Und sonderbar ist, dass auch jener Tanz im Moment des Ansehens nicht beglückend ist, sondern phasenweise sogar einschläfernd: Kanadierin Marie Chouinards Choreografie von The Golden Mean (Live) wirkt eher im Rückblick. Das ist ein Phänomen. In anderen Arbeiten Chouinards hingegen kam einem das "Toll" einer Begeisterung schon spontaner von den Lippen. Warum das wohl so ist?

Goldener Schnitt mit tänzerischem und sinnstiftendem Kontrapunkt

Möglicherweise, weil die Choreografie in bestechend arrangiertem Bühnenbild, auf einer "dem goldenen Schnitt" beruhenden Architektur angelegt ist, dem ästhetischen Prinzip, das auch das Thema der Inszenierung bestimmt. Äußerst künstlerisch wird sie, weil der Tanz selbst und die Tänzer als Charaktere nicht harmonisch in sich ruhen. Sie entsprechen in gegensätzlicher Richtung zum Raum mit fünf gleichmäßig verteilten Bildschirmen, Spotlampen und Mikrofonen allem anderem als dem "goldenen Schnitt", der vom Kunst-Altertum übermittelten goldenen Mitte, obschon die Tänzer klar erkennbar technisch erklassig ausgebildet sind, und das in Chouinards typische rituelle Tanzsprache umsetzen. Dieser Widerspruch erzeugt zunächst eine Spannung, da man glaubt, etwas Menschengrundsätzliches erzählt zu bekommen, was man bisher noch nicht wußte.

Eine Form von prinzipieller philosophischer Weisheit schwingt der gesamten Aufführung mit, in diesen wie frischgeschlüpften Alien-Wesen vor religiösem Knabenchor und unter Urtrommeln, die in Gold und (ange-)erleuchtet zwischen Lachen und Weinen, Macht und Ohnmacht, Schmerzzufügen und Leiden, Körperbewußtsein und -unsicherheit jonglieren. Aus ihren Mündern klingen fragmentarische Überlegungen von Möglichkeiten, Gedanken, die sie nicht loslassen und zu keiner Lösung finden, einmal auch von einer Tänzerin, die durch verschiedene Tanzstile (Stepp, Ballett, Jazz, etc.) gegangen ist, oder von im Sexakt urschreienden Tieren (eine vom Gebaren her hocherotische Szene wie aus dem echten Sexleben zwischen Mann und Frau!).

Die Verantwortung der Politik und des Instinkts

Der Grund der Unsicherheit mag in einer positiven und negativen Außenwelt liegen, die zur Entwicklung der Menschengenerationen führt. Das zeigt Chouinard mittels aufgesetzter Politikermaske. In Österreich tragen die Tänzer im tänzerischen Unisono lachende Bundespräsident-Fischer-Gesichter, eine Szene, die abgewandelt noch zweimal wiederholt wird. Dann steht sie allerdings für die abhängigen Menschen, indem sie rückläufig zuerst lachende alte Damen zeigt. Und eine davon hat Flecken. - Das ist das Indiz einer möglichen Gefahr, wenn die Verantwortung seitens Politik für die nachkommende, junge Generation nicht wahrgenommen wird. Für den Aufruf zum Willen der Erkenntnis tragen die Tänzer schwarze, dicke Intellektuellenbrillen, was aber gleichzeitig auch ein Hauch von Spott gegenüber der Denkerspezies Mensch trägt, die im Leben oft auf dem Holzweg ist, wenn sie "buchblätternd" und "diskutierend" nur aus dem Kopf und nicht aus dem Körper denkt. Denn der Instinkt ist und bleibt Chouinards weiser Held.

Ein Instinkt, den bereits Babies haben, indem sie mit ausgestrecktem Finger auf Dinge zeigen, die sie faszinieren. Lachende, fragende, weinende, nachdenkliche, offene Babygesichter auf unschuldig-nackten Tänzerkörpern sind denn auch der Chouinard-Weisheit letzter Schluß. Als Kopfmasken zieren sie die händehaltenden Tänzer im Schlußbild. Und sie zeigen nach oben, denn alles Gute kommt ja von oben. - Gott wird da nicht gemeint sein, sondern eher der Wille zur göttlich-instinktiven Mitte im einzelnen Menschen selbst. - Ein schönes archaisches Manifest mit Nachwirkung.

Zu viel Mitte macht müde

Das Ermüdende während der Aufführung kommt von der Erzählweise, die nicht kontinuierlich ist und oberflächlich betrachtet keine Wandlung erfährt - eben damit die ästhetische Mitte im Verlauf gewahrt ist. Hätten die Tänzer nur nicht alle kurzhaarige blonde Struppelperücken getragen! Ein paar uneinheitliche Persönlichkeiten mehr müßten her! Das läßt sich beim Verbeugen erahnen, wenn die Tänzer attraktiv auftreten, wie sie es im Leben sind, oder einmal auch während des Tanzes selbst, als eine auffallend langbeinige, naß-langhaarige Grazie (Carol Prieur) durch die unsichere Bühne wandelt. e.o.

DAS URTEIL BILDLICH UND THEMATISCH EINE FASZINIERENDE WEISHEIT MIT NACHWIRKUNG, IM REZEPTIONSMOMENT ZUWEILEN WEGEN DER EINHEITLICH GEMACHTEN PERSÖNLICHKEITEN ERMÜDEND.

TANZ The Golden Mean (Live) * Musik: Louis Dufort * Konzept und Choreografie: Marie Chouinard * Mit: Kimberley de Jong, Eve Garnier, Benjamim Kamino, Leon Kupferschmid, Lucy M. May, Lucie Mongrain, Mariusz Ostrowski, Carol Prieur, Gérard Reyes, Dorotea, Saykaly, James Viveiros, Megan Walbaum * Ort: Museumsquartier, Halle E * Zeit: 4.-7.8.2010