Cinderella (Monika Maciejewska) bekommt in ihrem Tapetenalltag - formale Basis der Inszenierung - dank der Fee (Beata Brozek) die Möglichkeit, auf den Ball zu gehen.
Der Ball ist licht und in rosa-hellblauem Pastell der Inbegriff aller Urträume von freier Liebe und Fortpflanzung: Dort besticht Aschenputtel eher wegen der unsichtbaren Energie zwischen ihr und dem Prinzen als wegen des Kleids.
Huch, schon 12 Uhr, bei der Liebe vergißt man ja gerne die Zeit, aber die Fee ist da sehr genau! - Und es ist ja auch eine Prüfung ...
... ob der Prinz Cinderella tatsächlich liebt - indem er sie ohne Kleid wieder erkennt. Er tut es: bei den plumpen Männer-Stiefschwestern (A. Miedwiediew, J. Gesikowski in Gelb) ist das aber auch nicht schwer. Obwohl die Stiefmutter (M. Caban) mit ihren Tapetenlakeien (J. Lukasiewicz, K. Pabjanczyk) dagegen arbeitet.
GROSSES THEATER LODZ GIORGIO MADIA PACKT ASCHENPUTTEL IN EINE TAPETE - EINE GROTESKE SENSIBILITÄT, FÜR DIE ER ALS ERÖFFNUNGSSTÜCK DES INTERNATIONALEN BALLETTFESTIVALS IN POLEN DAUERAPPLAUS KASSIERTE. - EINE VORORT-LIVE-KRITIK
Grotesk-schwungvoll, subtil-sensibel – diese konträren Linien unter einen Hut zu bringen, sodass der Hut am Ende paßt, das schafft auch nur Choreograf Giorgio Madia. Nach seinem, mit dem höchsten, polnischen Kritikerpreis ausgezeichneten Dornröschen am Grossen Theater in Lodz, müsste er mit seiner heurigen Uraufführung erst recht Anwärter auf die Auszeichnung sein. Dieses klassisch-moderne Aschenputtel (Cinderella / Kopciuszek) ist so perfekt, präzise und charakterstark getanzt, choreografiert und designt, dass es nicht nur zur würdigen Eröffnungszeremonie des 19. Internationalen Ballettfestivals Polens taugte, sondern auch zum wahrscheinlich bisher intellektuellsten Stück Madias in wundersam harmonischer Weise wurde: als ein in sich geschlossenes, ästhetisches System voll fließenden, humorreichen Eigenlebens.
System mit Tapetenhülle
Die Basis dieses Systems bildet "die Hülle einer Tapete“. Entlehnt dem (in Polen) momentan oft vorkommenden Motiv der bildenden Kunst, als Mensch vom Lebensraum „verschluckt“ zu werden, verpassen Madia und seine Bühnenbildnerin Cordelia Matthes dem Kleid des Aschenputtels sowie jenem der Lakeien das selbe blumengraue Stoffmuster, wie es die Wände um sie herum ziert. Als Raum, in dem sie leben, und der bestimmt wird, durch die Allmacht der vereinnahmenden und unterdrückenden Stiefmutter. Je nachdem, wie weit sich jemand nun ihrem Machtbereich zu entziehen vermag, verändert sich auch der Stoff: Gehen etwa die Stiefschwestern aus, bleibt zwar das Muster der Kleider erhalten, die Farbe ist aber rot geworden. - Eine optisch wunderschön verdichtende Idee, die von der Form auf den Inhalt schließen lässt, und von psychologisch gezielter Suggestionskraft ist: Treten die humoristisch trocken und technisch exakt tanzenden Stoff-Lakeien (Jan Lukasiewicz, Krzysztof Pabjanczyk) als personifizierter Stiefmutter-Willen aus den Stoff-Wänden, um die widerstrebenden gelbbestofften Schwestern zur Schuh-Anprobe zu zwingen, erkennt der Prinz das völlig "versteckte" Aschenputtel, obwohl er es mit einem über den Kopf aufgesetztem Tapeteneimer nicht sollte! Seine Augen der Liebe sind es also, die das Wahrhafte erkennen.
Und werden die Tapetenlakeien schließlich auch noch von anderen Tänzern als unsichtbare Möbelobjekte zu revolutionären Körperbildern benutzt, steht der Dreieinigkeit zum künstlerischen Werk nichts mehr im Wege: hiermit sind Sinn, Stil und Charakter auf einen Wurf gelungen.
Vom Witz zur Gefühlstiefe
So weit also zum subtilen, geistreichen Witz durch die zugrundeliegende Form. Zum herzhaften Lacher steigert ihn der italienische Choreograf zusätzlich durch seine Charakterinterpretationen: Denn die Stiefmutter (Mariusz Caban) und –schwestern (Aleksander Miedwiediew, Jerzy Gesikowski) sind mit Männern besetzt, was deren Härte, Selbstgefälligkeit und Plumpheit in Spiel und Bewegung gegenüber dem demütig-eleganten Aschenputtel ins kontraststark Groteske lenkt. Verletzlich und schutzsuchend tanzt Monika Maciejeska ihre klassisch versierten Soli: als ein Mädchen voller Eleganz und Zärtlichkeit, das in seinen einsamen Stunden ausdrückt, wie deplatziert unter seiner Würde es in diesem Blumendekor existieren muss.
In kongenialer Ausstrahlung erwidert Prinz Gintautas Potockas ihr Gefühl in wind-umwehtem Sehnsuchtstanz, nachdem er sie treffen und auch schon wieder verlieren musste. Als die Beiden im Pas de Deux endlich zueinander finden, strömt daraus so große Innigkeit, wie sie sich der Mensch von der Liebe nur erträumen kann. Eine Liebe, die nur ihnen gehört, wo keine fremden Blicke zugelassen werden. Wie wichtig Madia diese Liebesdefintion ist, betont er durch einen transparenten Vorhang, mit dem er ihre Liebe genauso vor dem Voyeurismus des Publikums schützt, wie zuvor vor jenem der neugierigen Hofgesellschaft, wo sie sich nur zum Narren machten. Denn Liebe bedarf der Intimität. Und dass sie letztlich auch nur durch etwas Unsichtbares entzündet wird, sagt die wohl romantischste Szene: Indem der Prinz nicht auf Aschenputtel abfährt, weil sie, wie meist im Märchen, wegen ihres besonderen Kleides als Schönste auffällt - denn sie unterscheidet sich zwar von ihren Stiefschwestern, aber kaum von der übrigen Hofgesellschaft -, sondern weil eine augenblickliche, unbeschreibbare Magie zwischen ihr als Frau und ihm als Mann aufkommt: und das zeigt nichts als der spielerisch-charmante Tanz des Angezogen-werdens des Prinzen.
Tableaux Vivants mit Gesellschaftskritik
Doch was wären kleinbürgerlicher Alltagstrott und pastell-lichter Romantiktraum am Hof ohne die Übergangsszenen dazwischen, die Wege also vom Hier zum Dort: Sie dienen in der Narration zum Spannungsaufbau und betonen im Psychologischen das aktive Tun für das angepeilte Sehnsuchtsziel: daraus werden zum Staunen angehaltene Momentaufnahmen in bewegten Bildern: Ein Schattentanz rafft die Vorgeschichte, wie Aschenputtel in ihre bedauerliche Situation kommt. Für die Kutschenfahrt zur Ballnacht steht eine rosa Kutsche mit am Stand drehenden Schirmen als Räder, gezogen von Männern als trabende Pferde, vor vorbei schwebenden Wolken, Möwen und Bäumen, die den Effekt der Fortbewegung vortäuschen. Und am stärksten - da metapherhaft eingesetzt - wirkt wohl die stosshaft-verzögert tanzende Hofgesellschaft, die zu kunstvoll missgebildeten Liliputaner-Marionetten wie aus dem Figurenkabinett stilisiert wurde, als Sinnbild für das opportunistische Mitläufertum der High Society.
Deren in der Gesellschaft auf diese Weise als echt entlarvte Verhaltensdeformation nimmt auch bei ihrem ersten Auftritt die clowneske, ständig mutierende Fee (Beata Brozek) als Mensch ohne Rumpf an, die den Opportunismus der Masse gerade wegen ihrer eigenen Fähigkeit dazu, zu steuern vermag. Genauso, wie wiederum Giorgio Madia als Artist sein eigenes Werk lenken kann und sich dabei vor allem eines anderen Künstlers bedient, wie es ihm nur so passt: der Musik Giacchino Rossinis. Der Choreograf hat seine gesungenen Opernarien, Streichquartette bis -soli mitsamt Geräuschen, doch mit feinem Gespür für musikalische Erzählkraft, zur „Filmmusik“ der Tanzhandlung zusammen geschnitten. - Grosses Kompliment also an den Zaubermeister: er ist einer der wenigen, der mit immer neuen Ideen nie langweilig wird. e.o. / a.c.
Grotesk-schwungvoll, subtil-sensibel – diese konträren Linien unter einen Hut zu bringen, sodass der Hut am Ende paßt, das schafft auch nur Choreograf Giorgio Madia. Nach seinem, mit dem höchsten, polnischen Kritikerpreis ausgezeichneten Dornröschen am Grossen Theater in Lodz, müsste er mit seiner heurigen Uraufführung erst recht Anwärter auf die Auszeichnung sein. Dieses klassisch-moderne Aschenputtel (Cinderella / Kopciuszek) ist so perfekt, präzise und charakterstark getanzt, choreografiert und designt, dass es nicht nur zur würdigen Eröffnungszeremonie des 19. Internationalen Ballettfestivals Polens taugte, sondern auch zum wahrscheinlich bisher intellektuellsten Stück Madias in wundersam harmonischer Weise wurde: als ein in sich geschlossenes, ästhetisches System voll fließenden, humorreichen Eigenlebens.
System mit Tapetenhülle
Die Basis dieses Systems bildet "die Hülle einer Tapete“. Entlehnt dem (in Polen) momentan oft vorkommenden Motiv der bildenden Kunst, als Mensch vom Lebensraum „verschluckt“ zu werden, verpassen Madia und seine Bühnenbildnerin Cordelia Matthes dem Kleid des Aschenputtels sowie jenem der Lakeien das selbe blumengraue Stoffmuster, wie es die Wände um sie herum ziert. Als Raum, in dem sie leben, und der bestimmt wird, durch die Allmacht der vereinnahmenden und unterdrückenden Stiefmutter. Je nachdem, wie weit sich jemand nun ihrem Machtbereich zu entziehen vermag, verändert sich auch der Stoff: Gehen etwa die Stiefschwestern aus, bleibt zwar das Muster der Kleider erhalten, die Farbe ist aber rot geworden. - Eine optisch wunderschön verdichtende Idee, die von der Form auf den Inhalt schließen lässt, und von psychologisch gezielter Suggestionskraft ist: Treten die humoristisch trocken und technisch exakt tanzenden Stoff-Lakeien (Jan Lukasiewicz, Krzysztof Pabjanczyk) als personifizierter Stiefmutter-Willen aus den Stoff-Wänden, um die widerstrebenden gelbbestofften Schwestern zur Schuh-Anprobe zu zwingen, erkennt der Prinz das völlig "versteckte" Aschenputtel, obwohl er es mit einem über den Kopf aufgesetztem Tapeteneimer nicht sollte! Seine Augen der Liebe sind es also, die das Wahrhafte erkennen.
Und werden die Tapetenlakeien schließlich auch noch von anderen Tänzern als unsichtbare Möbelobjekte zu revolutionären Körperbildern benutzt, steht der Dreieinigkeit zum künstlerischen Werk nichts mehr im Wege: hiermit sind Sinn, Stil und Charakter auf einen Wurf gelungen.
Vom Witz zur Gefühlstiefe
So weit also zum subtilen, geistreichen Witz durch die zugrundeliegende Form. Zum herzhaften Lacher steigert ihn der italienische Choreograf zusätzlich durch seine Charakterinterpretationen: Denn die Stiefmutter (Mariusz Caban) und –schwestern (Aleksander Miedwiediew, Jerzy Gesikowski) sind mit Männern besetzt, was deren Härte, Selbstgefälligkeit und Plumpheit in Spiel und Bewegung gegenüber dem demütig-eleganten Aschenputtel ins kontraststark Groteske lenkt. Verletzlich und schutzsuchend tanzt Monika Maciejeska ihre klassisch versierten Soli: als ein Mädchen voller Eleganz und Zärtlichkeit, das in seinen einsamen Stunden ausdrückt, wie deplatziert unter seiner Würde es in diesem Blumendekor existieren muss.
In kongenialer Ausstrahlung erwidert Prinz Gintautas Potockas ihr Gefühl in wind-umwehtem Sehnsuchtstanz, nachdem er sie treffen und auch schon wieder verlieren musste. Als die Beiden im Pas de Deux endlich zueinander finden, strömt daraus so große Innigkeit, wie sie sich der Mensch von der Liebe nur erträumen kann. Eine Liebe, die nur ihnen gehört, wo keine fremden Blicke zugelassen werden. Wie wichtig Madia diese Liebesdefintion ist, betont er durch einen transparenten Vorhang, mit dem er ihre Liebe genauso vor dem Voyeurismus des Publikums schützt, wie zuvor vor jenem der neugierigen Hofgesellschaft, wo sie sich nur zum Narren machten. Denn Liebe bedarf der Intimität. Und dass sie letztlich auch nur durch etwas Unsichtbares entzündet wird, sagt die wohl romantischste Szene: Indem der Prinz nicht auf Aschenputtel abfährt, weil sie, wie meist im Märchen, wegen ihres besonderen Kleides als Schönste auffällt - denn sie unterscheidet sich zwar von ihren Stiefschwestern, aber kaum von der übrigen Hofgesellschaft -, sondern weil eine augenblickliche, unbeschreibbare Magie zwischen ihr als Frau und ihm als Mann aufkommt: und das zeigt nichts als der spielerisch-charmante Tanz des Angezogen-werdens des Prinzen.
Tableaux Vivants mit Gesellschaftskritik
Doch was wären kleinbürgerlicher Alltagstrott und pastell-lichter Romantiktraum am Hof ohne die Übergangsszenen dazwischen, die Wege also vom Hier zum Dort: Sie dienen in der Narration zum Spannungsaufbau und betonen im Psychologischen das aktive Tun für das angepeilte Sehnsuchtsziel: daraus werden zum Staunen angehaltene Momentaufnahmen in bewegten Bildern: Ein Schattentanz rafft die Vorgeschichte, wie Aschenputtel in ihre bedauerliche Situation kommt. Für die Kutschenfahrt zur Ballnacht steht eine rosa Kutsche mit am Stand drehenden Schirmen als Räder, gezogen von Männern als trabende Pferde, vor vorbei schwebenden Wolken, Möwen und Bäumen, die den Effekt der Fortbewegung vortäuschen. Und am stärksten - da metapherhaft eingesetzt - wirkt wohl die stosshaft-verzögert tanzende Hofgesellschaft, die zu kunstvoll missgebildeten Liliputaner-Marionetten wie aus dem Figurenkabinett stilisiert wurde, als Sinnbild für das opportunistische Mitläufertum der High Society.
Deren in der Gesellschaft auf diese Weise als echt entlarvte Verhaltensdeformation nimmt auch bei ihrem ersten Auftritt die clowneske, ständig mutierende Fee (Beata Brozek) als Mensch ohne Rumpf an, die den Opportunismus der Masse gerade wegen ihrer eigenen Fähigkeit dazu, zu steuern vermag. Genauso, wie wiederum Giorgio Madia als Artist sein eigenes Werk lenken kann und sich dabei vor allem eines anderen Künstlers bedient, wie es ihm nur so passt: der Musik Giacchino Rossinis. Der Choreograf hat seine gesungenen Opernarien, Streichquartette bis -soli mitsamt Geräuschen, doch mit feinem Gespür für musikalische Erzählkraft, zur „Filmmusik“ der Tanzhandlung zusammen geschnitten. - Grosses Kompliment also an den Zaubermeister: er ist einer der wenigen, der mit immer neuen Ideen nie langweilig wird. e.o. / a.c.
DAS URTEIL MIT JEDEM GIORGIO-MADIA-WERK WÄCHST UNSER RESPEKT VOR DIESEM KÜNSTLER MEHR: EIN ÄSTHETISCH DICHTES, BILDER- UND METAPHERREICHES, LUSTIGES UND SENSIBLES THEATER-TANZ-KUNSTWERK!
MODERNES BALLETT Cinderella (Kopciuszek) * Von: Giorgio Madia * Musik: Giacchino Rossini * Bühne und Kostüme: Cordelia Matthes * Mit: Monika Maciejewska, Gintautas Potockas, Beata Brozek, Mariusz Caban, u.a. * Ort: Grosses Theater Lodz * Zeit: 10.6.2007: 18h
Das Internationale Ballett Festival in Lodz läuft bis 3.6.2007 * Infos: www.teatr-wielki.lodz.pl
MODERNES BALLETT Cinderella (Kopciuszek) * Von: Giorgio Madia * Musik: Giacchino Rossini * Bühne und Kostüme: Cordelia Matthes * Mit: Monika Maciejewska, Gintautas Potockas, Beata Brozek, Mariusz Caban, u.a. * Ort: Grosses Theater Lodz * Zeit: 10.6.2007: 18h
Das Internationale Ballett Festival in Lodz läuft bis 3.6.2007 * Infos: www.teatr-wielki.lodz.pl
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