Wie ein Traum, der einen vor Leidenschaft und Angst schwitzen lässt.
4.8., gegen 23h, im Wiener Volkstheater:
Keine Frage, die 16 Jahre sind erkennbar, die zwischen dem
zu Beginn des ImPulsTanz-Festivals gezeigten Revival: In Spite of Wishing and
Wanting und dem 2015 uraufgeführten Speak low if you speak love ... stehen.
Wäre ja auch ungewöhnlich, wenn ein sensibler Mann wie Vandekeybus
dramaturgisch nichts hinzu lernen würde. Im Gegensatz zum frühen Stück ist
dieses neue Werk innerhalb der Szenen so verstrickt, dass eingeführte Elemente
und Personen später wieder kehren oder eine Wendung erfahren. So wird die
Erzählweise filmisch und spannend.
Zudem balanciert der Choreograf die Widersprüche der, seinem Stück zugrunde liegenden, klassischen Stoffe gekonnt aus: das antike Mythos (sechs verschiedene Begriffe für sechs verschiedene Arten der Liebe bei den Griechen), Shakespeare („Speak low if you speak love“ ist ein Zitat aus Viel Lärm um nichts und bedeutet sinngemäß: „Sprich leise, wenn du es mit der Liebe ernst meinst“) sowie den Musicalursprung (dasselbe Zitat verwendete Kurt Weill im Schlüsselsong des Musicals One Touch of Venus). Das ganze Stück schwingt somit zwischen Himmel und Hölle, Rock und Lyrik, ohne die Gegensätze getrennt oder einander feindlich gesinnt, sondern von einander abhängig und sich bedingend darzustellen. Selten hat etwas so schön harmoniert wie hier, wenn klassisch ausgebildete Balletttänzer mit wagemutigen, persönlichkeitsstarken Ultima-Vez-Tänzern zur achtköpfigen Einheit verschmelzen: Jamil Attar, Livia Balazova, Chloé Beillevaire, David Ledger, Tomislav English, Nuhacet Guerra Segura, Sandra Geco Mercky und Maria Kolegova. Und doch erreicht diese Einheit durch die filigrane Ballettnote insbesondere der Damen, die hier in gewohnt temperamentvoller, leidenschaftlicher und alles gebender Vandekeybus-Sprache tanzen, erst jene edle Nuance, die das Stück für seinen archaischen Ausdruck und seine allgemein gültige Liebesbotschaft braucht.
Das Wesen der Liebe pendelt ebenso in einander bedingenden Gegensätzen von Beginn und Ende, Hoffnung und Enttäuschung, Leidenschaft und Leid. Es ist die mit schwarzer Afro-Stimme singende Venus Tutu Puoane, die den unberechenbaren Verlauf zwischen Glück und Unglück bringt. Sie steht im Bunde mit dem „Teufel“, dem Musiker Mauro Pawlowski, der mit seiner Gitarre zur darstellenden Besetzung gehört. Insofern begleitet hier die Musik nicht, sondern sie spielt das Geschehen steuernd und personalisiert „mit“.
Dieses Stück entspricht aus Sicht der Opern-Theater-Entwicklung einem echten Gesamtkunstwerk in Wagnerschem Sinne, das die Nummernoper eines Verdi (die ich erzähltechnisch in Revival: In Spite of Wishing and Wanting sah) als Vorläufer der heutigen zeitgenössischen Oper „ablöste“ (interessant, dass diese Komponisten gleichzeitig lebten, der eine in Deutschland, der andere in Italien). Wim Vandekeybus mit den Opernkomponisten Verdi und Wagner zu vergleichen, ist berechtigt, weil er wie beide von großen Gefühlen erzählt und wie Wagner Zeitdehnung betreibt. Kaum ein zeitgenössischer, Geschichten erzählender Choreograf macht heute noch so lange Stücke wie Vandekeybus: 110 bis 120 Minuten ohne Pause. Und sind Stücke lang, spielt eben die Spannungshaltung und das Ineinandergreifen von jedem kleinsten Element zu einem permanent fließenden Ganzen eine enorme Rolle.
Nach diesem Prinzip ergreifen dramatische Bilder tatsächlich: wenn zu Beginn ein mit Kopfstrumpf alltagsblinder Mann mit einem Wurfseil versucht, das Publikum auf die risikoreiche Liebesseite hinüber zu ziehen.
Dorthin, wo der „Wald“ steht, der wie in der mythologischen Symbolik eines Shakespeare zum Finden der wahren Liebe beiträgt, indem er die eintreffenden Menschen von ihren Konventionen und herkunftsmäßigen Anlagen wie Geschlecht, Überzeugungen und Vorurteilen befreit.
Dorthin, wo die Voodoo-Sirene Puoane ihre Befehle der Verführung gibt, wo Lust und Vertrauen nach großer Hingabe durch plötzlichen Entzug „bestraft“ werden.
Aber was kann das Leben der kopfstrumpfblinden Menschengruppe sonst bieten – einen existenzialistischen, grazilen Bodentanz, der auch ohne Sex und Liebe nur Angst und Gefahr bringt.
Da ist es doch für einen auserwählt Sehenden unter den Blinden besser, sich von der heimtückischen Venus den Schleier entfernen und sich mit vom Musikerteufel übergebenem Gold beschenken zu lassen, das auf den Boden fällt. Allein der Klang genügt, damit die anderen sich blind, instinktiv und gierig darauf stürzen. Daraufhin tanzt ein Paar zur Kirchenorgelmusik, während Pawlowski singt, „without my eyes, I keep on sleeping“.
Die Venus fängt mit ihrem Seil weitere Paare im blinden Schlafzustand ein, die ziehend dagegen ankämpfen, auch der einzige Sehende unter ihnen zittert vor Angst. Bis alle ihre Angst überwinden und ihre Kopfbinden abnehmen. Damit kann das bewusste Abenteuer ins Reich der unbewussten Gefühlsodyssee beginnen. Asiatisch-fremde Gitarrenklänge begleiten ein harmonisches Männerduett, das auf Dirigat der Venus von einer nackten Frau gestört wird. Dann quält die Venus einen Mann im Frauenkleid. Ein irisch-rhythmischer Torero-Stepptanz der ganzen Truppe in demselben Kleid mit „Hey“-Rufen zum Schlagzeug-Solo, zu dem auch Puoane im Afrotanz einstimmt, gleicht einem ästhetisch schönen, kriegerischen Aufruf, sich dem Risiko, der Gefahr und dem Schmerz zu stellen. Mit Hecht- und Rundsprüngen werfen sich die Paare hinein, in ein treibendes Musikuniversum aus zwei Schlagzeugen und einer Tabla, wobei ein Schlagzeug samt Spieler auf einem Teppich über die Bühne gezogen wird.
Daraufhin fährt ein Mann wie auf einem Schiff einher, vor seinem Mast eingespannt ist eine Frau, die als Galionsfigur den Kurs des Schiffes beobachten und vor Unglück bewahren soll. Der mit Holzbrettern auftretende Urtyp eines Mannes, Tomislav English, passt bestens dazu. Er erinnert an die ungestümen Wikinger-Seefahrer. Aus den Brettern wird später ein Sarg gemacht, in den sich ein Liebender legen muss, nachdem die Venus befunden hat, dass seine Liebe zu einer Frau plötzlich nicht mehr sein darf. Jene Frau weint dem Mann zunächst nach, begegnet dann aber einer neuen Liebe. Und auch der Mann im Sarg wird später schreiend aufwachen und weiter auf Liebessuche gehen. So wie etliche Paare, die Liebesschmerzen bis aufs Blut hinnehmen werden.
Atemberaubend elegant und geheimnisvoll spannend ist vor den wachsamen Augen eines Mannes das leidenschaftliche Duett der blonden Ballerinas in Herrenkleidung, Slowakin Livia Balazova und Russin Maria Kolegova, die eine mit langem Haar, die andere mit kurzem. Das Duett mündet in einem edlen Gruppentanz mit vier drehenden, heterogenen und gleichgeschlechtlichen Paaren. Ein kurzes Bild von einem Mann mit einer schwangeren Frau zeigt, dass hinter all dem dramatischen Beziehungsgeflecht – wie nebenbei – die Fortpflanzung stattfindet. Und doch möchte jeder dem Liebesleid entgehen.
Vandekeybus stellt in Aussicht, wie es wäre, wenn die Venus im Sarg weggesperrt würde: dann würde der nicht spielende, nur berechnende Teufel regieren, und das wäre weit deprimierender, weil die schöne, berauschende, Glückshormone ausschüttende Seite dann auch fehlen würde. Deshalb entkommt die Venus wieder, und das Spiel mit einer Tänzerin, die einen Zuschauer mit dem Lasso einfängt, kann von Neuem beginnen ... e.o.
Zudem balanciert der Choreograf die Widersprüche der, seinem Stück zugrunde liegenden, klassischen Stoffe gekonnt aus: das antike Mythos (sechs verschiedene Begriffe für sechs verschiedene Arten der Liebe bei den Griechen), Shakespeare („Speak low if you speak love“ ist ein Zitat aus Viel Lärm um nichts und bedeutet sinngemäß: „Sprich leise, wenn du es mit der Liebe ernst meinst“) sowie den Musicalursprung (dasselbe Zitat verwendete Kurt Weill im Schlüsselsong des Musicals One Touch of Venus). Das ganze Stück schwingt somit zwischen Himmel und Hölle, Rock und Lyrik, ohne die Gegensätze getrennt oder einander feindlich gesinnt, sondern von einander abhängig und sich bedingend darzustellen. Selten hat etwas so schön harmoniert wie hier, wenn klassisch ausgebildete Balletttänzer mit wagemutigen, persönlichkeitsstarken Ultima-Vez-Tänzern zur achtköpfigen Einheit verschmelzen: Jamil Attar, Livia Balazova, Chloé Beillevaire, David Ledger, Tomislav English, Nuhacet Guerra Segura, Sandra Geco Mercky und Maria Kolegova. Und doch erreicht diese Einheit durch die filigrane Ballettnote insbesondere der Damen, die hier in gewohnt temperamentvoller, leidenschaftlicher und alles gebender Vandekeybus-Sprache tanzen, erst jene edle Nuance, die das Stück für seinen archaischen Ausdruck und seine allgemein gültige Liebesbotschaft braucht.
Das Wesen der Liebe pendelt ebenso in einander bedingenden Gegensätzen von Beginn und Ende, Hoffnung und Enttäuschung, Leidenschaft und Leid. Es ist die mit schwarzer Afro-Stimme singende Venus Tutu Puoane, die den unberechenbaren Verlauf zwischen Glück und Unglück bringt. Sie steht im Bunde mit dem „Teufel“, dem Musiker Mauro Pawlowski, der mit seiner Gitarre zur darstellenden Besetzung gehört. Insofern begleitet hier die Musik nicht, sondern sie spielt das Geschehen steuernd und personalisiert „mit“.
Dieses Stück entspricht aus Sicht der Opern-Theater-Entwicklung einem echten Gesamtkunstwerk in Wagnerschem Sinne, das die Nummernoper eines Verdi (die ich erzähltechnisch in Revival: In Spite of Wishing and Wanting sah) als Vorläufer der heutigen zeitgenössischen Oper „ablöste“ (interessant, dass diese Komponisten gleichzeitig lebten, der eine in Deutschland, der andere in Italien). Wim Vandekeybus mit den Opernkomponisten Verdi und Wagner zu vergleichen, ist berechtigt, weil er wie beide von großen Gefühlen erzählt und wie Wagner Zeitdehnung betreibt. Kaum ein zeitgenössischer, Geschichten erzählender Choreograf macht heute noch so lange Stücke wie Vandekeybus: 110 bis 120 Minuten ohne Pause. Und sind Stücke lang, spielt eben die Spannungshaltung und das Ineinandergreifen von jedem kleinsten Element zu einem permanent fließenden Ganzen eine enorme Rolle.
Nach diesem Prinzip ergreifen dramatische Bilder tatsächlich: wenn zu Beginn ein mit Kopfstrumpf alltagsblinder Mann mit einem Wurfseil versucht, das Publikum auf die risikoreiche Liebesseite hinüber zu ziehen.
Dorthin, wo der „Wald“ steht, der wie in der mythologischen Symbolik eines Shakespeare zum Finden der wahren Liebe beiträgt, indem er die eintreffenden Menschen von ihren Konventionen und herkunftsmäßigen Anlagen wie Geschlecht, Überzeugungen und Vorurteilen befreit.
Dorthin, wo die Voodoo-Sirene Puoane ihre Befehle der Verführung gibt, wo Lust und Vertrauen nach großer Hingabe durch plötzlichen Entzug „bestraft“ werden.
Aber was kann das Leben der kopfstrumpfblinden Menschengruppe sonst bieten – einen existenzialistischen, grazilen Bodentanz, der auch ohne Sex und Liebe nur Angst und Gefahr bringt.
Da ist es doch für einen auserwählt Sehenden unter den Blinden besser, sich von der heimtückischen Venus den Schleier entfernen und sich mit vom Musikerteufel übergebenem Gold beschenken zu lassen, das auf den Boden fällt. Allein der Klang genügt, damit die anderen sich blind, instinktiv und gierig darauf stürzen. Daraufhin tanzt ein Paar zur Kirchenorgelmusik, während Pawlowski singt, „without my eyes, I keep on sleeping“.
Die Venus fängt mit ihrem Seil weitere Paare im blinden Schlafzustand ein, die ziehend dagegen ankämpfen, auch der einzige Sehende unter ihnen zittert vor Angst. Bis alle ihre Angst überwinden und ihre Kopfbinden abnehmen. Damit kann das bewusste Abenteuer ins Reich der unbewussten Gefühlsodyssee beginnen. Asiatisch-fremde Gitarrenklänge begleiten ein harmonisches Männerduett, das auf Dirigat der Venus von einer nackten Frau gestört wird. Dann quält die Venus einen Mann im Frauenkleid. Ein irisch-rhythmischer Torero-Stepptanz der ganzen Truppe in demselben Kleid mit „Hey“-Rufen zum Schlagzeug-Solo, zu dem auch Puoane im Afrotanz einstimmt, gleicht einem ästhetisch schönen, kriegerischen Aufruf, sich dem Risiko, der Gefahr und dem Schmerz zu stellen. Mit Hecht- und Rundsprüngen werfen sich die Paare hinein, in ein treibendes Musikuniversum aus zwei Schlagzeugen und einer Tabla, wobei ein Schlagzeug samt Spieler auf einem Teppich über die Bühne gezogen wird.
Daraufhin fährt ein Mann wie auf einem Schiff einher, vor seinem Mast eingespannt ist eine Frau, die als Galionsfigur den Kurs des Schiffes beobachten und vor Unglück bewahren soll. Der mit Holzbrettern auftretende Urtyp eines Mannes, Tomislav English, passt bestens dazu. Er erinnert an die ungestümen Wikinger-Seefahrer. Aus den Brettern wird später ein Sarg gemacht, in den sich ein Liebender legen muss, nachdem die Venus befunden hat, dass seine Liebe zu einer Frau plötzlich nicht mehr sein darf. Jene Frau weint dem Mann zunächst nach, begegnet dann aber einer neuen Liebe. Und auch der Mann im Sarg wird später schreiend aufwachen und weiter auf Liebessuche gehen. So wie etliche Paare, die Liebesschmerzen bis aufs Blut hinnehmen werden.
Atemberaubend elegant und geheimnisvoll spannend ist vor den wachsamen Augen eines Mannes das leidenschaftliche Duett der blonden Ballerinas in Herrenkleidung, Slowakin Livia Balazova und Russin Maria Kolegova, die eine mit langem Haar, die andere mit kurzem. Das Duett mündet in einem edlen Gruppentanz mit vier drehenden, heterogenen und gleichgeschlechtlichen Paaren. Ein kurzes Bild von einem Mann mit einer schwangeren Frau zeigt, dass hinter all dem dramatischen Beziehungsgeflecht – wie nebenbei – die Fortpflanzung stattfindet. Und doch möchte jeder dem Liebesleid entgehen.
Vandekeybus stellt in Aussicht, wie es wäre, wenn die Venus im Sarg weggesperrt würde: dann würde der nicht spielende, nur berechnende Teufel regieren, und das wäre weit deprimierender, weil die schöne, berauschende, Glückshormone ausschüttende Seite dann auch fehlen würde. Deshalb entkommt die Venus wieder, und das Spiel mit einer Tänzerin, die einen Zuschauer mit dem Lasso einfängt, kann von Neuem beginnen ... e.o.
DAS URTEIL EIN PERFEKT ABGESTIMMTES EMOTIONSABENTEUER DURCH DIE GEHEIMNISVOLLEN HÖHEN UND TIEFEN DER EROTIK UND LIEBE. EIN DRAMATISCHES GESAMTKUNSTWERK, GETANZT VON LEIDENSCHAFTLICH-FEINEN TANZKÖNNERN ZWISCHEN HIMMEL UND HÖLLE, ERHABENHEIT UND ERDIGKEIT. – ZEITGEMÄSSER UND DETAILBEDACHTER LÄSST SICH EIN SHAKESPEARE-MYTHOS KAUM DARSTELLEN.
TANZTHEATER Speak low if you speak love ... * Regie,
Choreografie, Bühnenbild: Wim Vandekeybus * Von und mit: Jamil Attar, Livia
Balazova, Chloé Beillevaire, David Ledger, Tomislav English, Nuhacet Guerra
Segura, Sandra Geco Mercky und Maria Kolegova * Originalmusik (Live): Mauro
Pawlowski, Elko Blijweert, Jeroen Stevens, Tutu Puoane * Künstl. Assistenz,
Dramaturgie: Greet Van Poeck * Styling: Isabelle Lhoas * Lichtdesign: Davy
Deschepper, Wim Vandekeybus * Ort: Volkstheater Wien * Zeit: 2.+ 4.8.2016, 21h
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