Friday, September 08, 2006

BALLETT: DORNRÖSCHEN - MATCH ZWISCHEN GIORGIO MADIA & GYULA HARANGOZÓ

Photo: "Aurora" Joanna Jablonska und "Prinz Desiré" Piotr Ratajewski im leidenschaftlichen Finale von Giorgio Madias fantasie- voll-ästhetischer Ballett-Groteske Dornröschen
(© Chwalislaw Zielinski / Lodz)


LIVE AUS LODZ/POLEN
GIORGIO MADIAS INNOVATIVES DORNRÖSCHEN, DAS IM MAI URAUFFÜHRUNG FEIERTE UND PROMPT MIT DEM BEGEHRTEN THEATERPREIS "DIE GOLDENE MASKE" AUSGEZEICHNET WURDE, STEHT IM OKTOBER WIEDER AUF DEM PROGRAMM.
IN WIEN SEHEN WIR DORNRÖSCHEN, FASSUNG "ALT".


Dornröschen in Lodz und im Schmalformat in Wien: Das zur russischen Ballettklassik mutierte Wien - gerade hat Ballettdirektor Gyula Harangozó wieder um drei neue russische Solisten aufgestockt - schielt im Oktober neidvoll nach Lodz. Denn die polnische Stadt hat etwas, das zuvor noch die Wiener Volksoper körperpräsent voran getrieben hatte: Modernes Ballett, choreografiert von Giorgio Madia.

Läuft also nun im Großen Theater Lodz - nach jenem in Warschau das zweitbedeutendste Haus des jungen EU-Landes - Madias radikal heutiges und dennoch ästhetisch bezauberndes Dornröschen, kann man sich sicher sein, ab September im Wiener Pas-de-Deux-Auszug während der Wiener-Staatsballett-Gala, keine Neu-Interpretation des Petipa-Stoffes vorgeführt zu bekommen. Fazit: In Wien wird uns - trotz kleiner Hoffnung im Patchwork-Abend durch P.O.G.L.A.C.E. (Uraufführung von Raza Hammadi im „jazz-contemporain“- Stil über Die sieben Todsünden) - Klassiknostalgie aufgezwungen, Lodz dagegen schreit nach Aufbruch.

Tanz-Match zwischen Harangozó und Madia

So toll Madias Inszenierung aber ist, vom tänzerischen Vermögen her, mußte er sich aus finanziellen Gründen leider mit der B-Liga begnügen. Und wieder denken wir an seine unglaubliche Company aus Wiener Tagen, die um vieles persönlicher und expressiver tanzte. Besonders bei den klassischen Passagen im ersten Teil fällt der lediglich "bessere Standard" auf. - Nun denn, vielleicht hat Harangozó diesmal diesbezüglich ja die bessere Karte.- Wir werden sehen.

Doch Madia holt dennoch, wie immer, das Beste aus seinem Ensemble heraus: es ist extrem motiviert und tanzt sich im Modern Dance dann auch in überraschende Höhen, sodass man sich von den leidenschaftlichen Gefühlen mitreißen lassen kann. Persönliche Ausstrahlung verströmt dabei die junge "Prinzessin Aurora", Joanna Jablonska: auf sie wartet mit ihrer eleganten Grace-Kelly-Aura, Leichtfüßigkeit und schmalen Silhouette, sicherlich eine Prima-Ballerina-Zukunft. Nur muß sie dafür noch mehr von der Erotik in ihr investieren.

In der Inszenierung gewinnt Madia

Was Madias grotesk-witzigen Abend in hellem Bühnenlicht und weiß-ausgestellten Kostümen so spannend, originell und kurzweilig macht, ist die dem Stummfilm entlehnte Erzähltechnik: Auf Takt geschnittene Hinterglaszeichnungen liefern als Videoblöcke die Erklärungen zum Geschehen. Die fantasieanregenden Linienschwünge von Bühnenbildner Daniel Ioan Roman, verleihen dem Ganzen eine zusätzliche, tiefenpsychologische Dimension. Denn Aurora wird von der bösen, ungeladenen und deshalb erzürnten Fee, Carabosse zum hundertjährigen Schlaf unter einem Wolkentuch verflucht (tolle Akrobatikleistung der Direktorin der Company, Edyta Waslowska, die auf Springstelzen und ganz in Schwarz durch die effektvolle Kinderballett-Festgesellschaft stürzt). Aurora erliegt dem Fluch allerdings nicht nach einem Spindelstich, sondern durch Drogen.- Ein Jugendproblem, mit dem der Westen momentan noch stärker konfrontiert ist als der Osten. Und Madias feine Ironie dabei: Aurora nimmmt als 16-jähriges, "westlich"verwöhntes Luxusmarken-Girl "westliche" Designerdrogen. Deshalb muß sie dann nach den hundert Jahren auch heftig Charakterarbeit leisten, bevor sie sich die Liebe des Prinzen sichern kann. Und er sich im qualvollen Umwerben via Pas de Deux und Soli ihre ebenso.

L(i)eben statt Drogen

Wie schon bei Petipa sind auch Madias Choreografien eng mit Tschaikowskis Musik verwoben, alles fließt und entwickelt Spannung wie im Film. Das trifft sich mit der Affinität der Leute vorort, da sämtliche polnischen Regisseure - Polanski, Wajda, Kieslowski - Absolventen der Filmhochschule Lodz sind. Stehen jene Filmer nun für individuelle Wahrheiten, so findet auch Madia zu einer Erkenntnis, die er kurzerhand zu "seinem" dritten Akt erklärt: Darin deuten vermenschlichte Schachfiguren via charmant getanztem Schachspiel an, dass zum Leben auch der Kampf und das vermeintlich Böse gehören. Und so gerät am Ende der ganze Hofstaat - samt Aurora, dem Prinzen und der nun schwarz-weiss getupften (!) Carabosse erneut unter die Wolke, allerdings ist das jetzt die Wolke des L(i)ebens, mit all seinen Hochs und Tiefs, ganz ohne Ausgrenzung, und ohne Drogen ...

P.S.: Im Mai wird es in Lodz wieder eine abendfüllende Ballett-Neuproduktion von Madia geben. Wer kann, sollte hinfahren. Schon allein, da der Ort (á la "strange Hollywood-Western-Town", nur "östlich" gefärbt) das reinste Abenteuer ist ... Mit extremem Kontrast dazu, dem absolut modernen Ballett von Madia!
Trip-Gefühl garantiert! (e.o.)

Videolink zu Dornröschen-Ausschnitt auf YouTube


DAS URTEIL WIEN KÖNNTE SICH GUTE TÄNZER UND CHOREOGRAFEN LEISTEN - LODZ LEISTET SICH BEGABTE CHOREOGRAFEN (im Sinne von Qualität, nicht Gage ...)

Ballett-Gala in Wien * Mit dem Ballett der Wiener Staats- und Volksoper * Künstlerische Leitung: Gyula Harangozó * Ort: Volksoper Wien * Dirigent: Andreas Schüller * Termine: 21.+28.9., 20.10. * 19h

Spiaca Królewna (deutsch: Dornröschen) * Mit Edyta Waslowska, Joanna Jablonska * Von Giorgio Madia * Ort: Teatr Wielki w Lodzi * Termin: ab 6.10. * 19h

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