Friday, June 08, 2007

TANZ & MUSIK: ALAIN PLATEL UND FABRIZIO CASSOL MIT ETHNO-BEHINDERTENWERK "VSPRS"

Das Leben zeigt sich Entstellten (Behinderten) unmittelbarer als Normalen. Die expressive Tänzerin mit schutzbedürftiger Punkerinnen-Optik Mélanie Lomoff macht das spürbar. (Fotos © Chris Van der Burght)

Quan Bui Ngoc drückt es in virtuosem Klassiktanz, aber mit irrem Blick garniert aus ...

... oder gewaltsam gegenüber der biegsam-exzentrisch-sprudelnden Iona Kewney.

Der ekstatische Moment, als Sängerin Claron McFadden, Musiker und Tänzer durcheinander geraten, hat etwas makaber Feierliches.

Und die Wichs-Szene ist schließlich die (religiöse) Erlösung. - Allerdings nicht das Happy End!


THEATER AN DER WIEN - IMPULSTANZ WIE DIE NACHAHMUNG VON BEHINDERTEN- UND HYSTERIENMANIE ZU GROSSER KUNST WIRD - REGISSEUR ALAIN PLATEL UND KOMPONIST FABRIZIO CASSOL HABEN EIN VERWOBENES, BITTER-SCHÖNES GESAMTKUNSTWERK GESCHAFFEN

Hyperkinese - das ist der motorische Reizzustand des Körpers mit Muskelzuckungen und unwillkürlichen Bewegungen. Und Hyperkinese ist der inhaltliche und formale Kern von Alain Platels VSPRS, mit dem er gerade im Theater an der Wien zu Gast ist. Interessant ist nun, wieviel der belgische Choreograf da hinein zu packen weiß und vor allem - wie. Prinzipiell schöpft er aus der Konfrontation mit dem Wesen "Religion". Denn sie steckt im Ausgangsstoff der Marienvesper des Barockkomponisten Claudio Monteverdi, allerdings in völlig anderer Definition.

Die Belgier und die Klassikparodie

Nehmen sich zeitgenössische Choreografen wie Anne Teresa De Keersmaeker und Alain Platel Auftragsarbeiten an, die sehr weit vom Zeitgenössischen entfernt sind, lässt einen das Gefühl - insbesondere bei diesen Belgiern mit ihrem speziellen Humor - nicht los, sie wollten sich über die Klassik lustig machen: Dann, wenn es um kollektive Andacht, Romantik und Liebespathos geht.

So sehr Anne Teresa De Keersmaeker im letzten Gastspiel Un moto di gioia zu Mozarts Konzertarien von ihrem Respekt gegenüber der Liebesfähigkeit von Mozart sprach, so wenig war er spürbar. Denn die Musik im Original blieb in all ihrer technischen und emotionalen Perfektion erhalten, wogegen der Tanz als Mischung zwischen Frechheit und Ironie trotz Lachmomente fast hilflos und künstlerisch "klein" wirkte. - Es ist daher sicher nicht Keersmaekers stimmigstes Werk. Ihr Tanz und Witz harmoniert zu anderer Musik besser.

Jazz-Auseinandersetzung statt Parodie

Damit Alain Platel erst gar nicht in diese Vergleichssituation kommt (obwohl bei ihm die "echten Mozart-Arien" in Wolf glaubwürdig waren), hat er etwas sehr Kluges gemacht: Er ließ die Monteverdi-Komposition von Jazz-Saxofonist Fabrizio Cassol bearbeiten. Heraus gekommen ist eine völlig andere Musik zwischen Ethno-Klassik und Jazz, was zu einer geerdeten Form von Spiritualität führt. - Und um den Glauben zu erden, die Religion ins Diesseits zu befördern, als erlebenswerter Teil "in" jedem Menschendasein und nicht nur seines Geistes, darum geht es in diesem Stück. Zitat: "Herr, lass uns Dein Instrument sein. Und wenn Dunkelheit herrscht, lass mich Dein Licht sein. Wir sind fürs ewige Leben geboren."

Das schließt mit ein, dass auch praktischer Sex im Sinne von Ekstase zu diesem erstrebenswerten Leben gehört, wenn er nicht sogar das eigentliche Ziel ist. Die katholische Religion hat sich also zur ethnischen Religion gewandelt, mit der sprituellen Energie afrikanischer Rituale, was im Gospel angelegt ist und der hier als Zigeuner- und Balkanweise hochwertig und westlich eingefügt wurde.

Auf die Spontaneität von Behinderten hören

Diese wunderschöne Musik, gesungen von der großartigen schwarzen Sängerin Claron McFadden, ist darüber hinaus mit dem Tanzgeschehen und den inneren Kämpfen der aus allen Teilen der Erde kommenden Tänzer verwoben, was es zu einem spannungsgeladenen Psychokrimi macht. Zuerst hält sich das weiß gekleidete Orchester vor weißem Unterwäsche-Berg noch im Hintergrund, wenn Elie Tass aus Gent einen Wecken Brot ertastet, Löcher hinein bohrt und ihn dann gierig abnagt. - Die spontane Lustfähigkeit, zu der Tiere und geistig Behinderte fähig sind, wird also erst mal als Tatsache in den Raum geworfen. Dass Platel hierbei nicht in ein schiefes Licht gerät, als einer, der sich über Behinderte mockiert, liegt daran, dass er als einstiger Pädagoge täglich mit ihnen zu tun hat(te). Und das spürt man. Er akzeptiert sie, beobachtet sie ganz objektiv, ohne sie aus falschem Mitleid hoch zu stilisieren.

Nein, er präsentiert sie als "Behinderte" und hat dabei die Chuzpe zu sagen, dass wir Menschen im Grunde alle Behinderte sind, und wenn wir auf unsere Instinkte hörten, könnten wir zu einer Ekstase gelangen, wie sie diese hysterischen und motorisch geplagten Menschen irgendwann im Kollektiv in Form einer Wichsszene erleben - die einzige Tuttiharmonie, die in ihren Existenzkämpfen möglich ist. Selbst wenn das ein Orgasmus ist, zu dem sich jeder nur allein hineinsteigern kann. - Wie eben auch in die Glaubensfähigkeit.

Wie verkrampft das Leben ohne Ekstase (Sex) ist

Denn ansonsten ist das Leben dieser (aller) Menschen nicht leicht, wenn sie hysterisch (Rosalba Torres Guerrero) im Raum herum gehend Heroen herbeirufen, zwischen Breakdance und Handstand (Mathieu Desseigne Ravel) ihre Balance suchen, von ihrer täglichen Beziehung zu ihren Exkrementen sprechen ("Lonely Kaka, I make you every day, you are so beautiful"), in fragiler Tanzschönheit gestieren, zucken, zittern (die mit sichtlicher Ballettfähigkeit künstlerisch und schmerzexpressiv stärkste Tänzerin: Mélanie Lomoff), laut schnarchen und irr lachen, während vom Berg jemand "Amen" schreit; wenn sie wie eine verzerrte Marionette zwischen Asiatik und Orientalik taumeln (sehr anspruchsvoll: Hyo Seung Ye), im Expressivtanz erschrocken ins Publikum starren (Quan Bui Ngoc) oder wenn - makaber berührend - ein "Sprechbehinderter" (vom tanzstarken Ross McCormack virtuos gestottert) mit einem hyperkinetischen Mann (Elie Tass) zu sprechen versucht, der vergeblich immer wieder eine Flasche zum Mund führt und dabei das ganze Wasser verschüttet.

Lebenssinn der sexuellen Ekstase vor dem Ende

Da diese Tänzer real kerngesund sind, erlaubt sich der Zuschauer, in sich hinein zu lachen. Zum Stich ins Herz kippt es aber, als der tatsächlich blinde und mitreißend gut fidelnde Geiger und Balkanflötist Tcha Limberger nach oben ins Licht blickt, nachdem die Musiker und Tänzer durcheinander gewirbelt sind. - Ein heller Moment, der nie zu vergessen ist. Ebenso, wie jener, als die erlösende Masturbationsszene immer mehr ins zwanghafte Muskel-Nerv-Zerren übergeht, das in seiner Auf-und-Ab-Bewegung unheimlicher Weise sowohl beim Mann, als auch bei der Frau, im Selbstbefriedigungsgebaren angelegt ist.

Bevor letztendlich einer nach dem anderen stirbt und von Restlichen auf die Spitze des Unterhosen(=Leichen)-Bergs getragen wird, ruft noch jemand zu all den Hysterischen (=Lebensängstlichen): "The situation is under control." - Soll das den Status Quo unseres Lebens darstellen, so ist das sehr zynisch. Aber wieso sollte jemand, wie Alain Platel, der das Leben keinesfalls rosig sieht, etwas anderes behaupten als zu betonen, dass die Versprechungen vermeintlicher Lebensführer doch nichts als leer sind? e.o.

Demnächst sind auf intimacy-art.com / artists / vision Alain Platel und Fabrizio Cassol zusammen mit der deutschen Choreographie-Ikone Susanne Linke zu lesen und zu hören.


DAS URTEIL EIN HOCHQUALITATIVES WERK, WO ALLE DETAILS ERSTKLASSIG SIND: DIE MUSIK UND MUSIKER, DIE TÄNZERPERSÖNLICHKEITEN, DER THEMENZUGANG UND DIE UMSETZUNG. EIN GIGANTISCHES ERLEBNIS ZWISCHEN ENTSETZEN, NEUGIERDE AM ABARTIGEN UND FILIGRANER SCHÖNHEIT.

Tanz/Musik/Installation VSPRS * Von: Frabrizio Cassol und Alain Platel * Regie: Alain Platel * Mit (Tanz): Mélanie Lomoff, Ross McCormack, Hyo Seung Ye, u.a. * Mit (Musik): Fabrizio Cassol, Tcha Limberger, Wim Becu, Claron McFadden (Sopran) * Ort: Theater an der Wien * Zeit: 8.6.2007: 20h

Tanz/Musik * Nacht * Von Anne Teresa De Keersmaeker / Rosas * Livemusik: Béla Bartok - Ludwig van Beethoven - Arnold Schönberg * Mit:The Duke Quartet (London) * Ort: Theater an der Wien * Zeit: 13., 15., 16.6.2007: 20h

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