Monday, June 18, 2007

THEATER: GANZ GUT GEBRÜLLT HAT FRANK CASTORF IN "NORDEN"

Hitler hätte sich geschmeichelt gefühlt: Castorf erhebt Gebrüll und mond-ballon-hafte Utopie-Denkensweise der Nazis zu( seine)m Ideal-Kunstausdruck, wobei er den Nazi-Gesinnungsinhalt als Gegenteil seines politischen Ideals natürlich verarschend angreift (Fotos © Thomas Aurin) ...

... sowie er auch den Widerspruch zwischen Homosexuellenablehnung und -begehren in Burschenschaften zum Thema macht (hier Nazi-Bärtchen-Mann mit Lust auf Transvestiten: Milan Peschel, Bernhard Schütz, Matthias Schweighöfer).


MUSEUMSQUARTIER - WIENER FESTWOCHEN FRANK CASTORF IST BERÜHMT FÜR SEINE AKTIONISTISCHEN SCHAUSPIELER-PARTIES - MIT NAZI-GESCHÄDIGTEN FRANZÖSISCHEN KOLLABORATEUREN WIE CÉLINE IST DAS PSYCHOLOGISCH RECHT SPANNEND ...

Kurz vor Beginn der Wiener Festwochen brüllte Berliner Volksbühne-Chef Frank Castorf anläßlich seiner Norden-Uraufführung in die versammelte Presse: "In einem der letzten Gespräche mit Martin Bormann sagte Hitler: "Ich war Europas letzte Chance." - Hitler hatte damit nicht ganz unrecht, und Sebastian Haffner bemerkte, er hätte bloß vergessen, hinzuzufügen, dass er diese Chance grundlegend kaputt gemacht hat." - Dieser Satz und der Lärmpegel (hier spricht kein Schauspieler gelernt gedeckt, so wie er es zwecks Stimmbänderschonung sollte) ist symptomatisch für die Regie, die einem am Aufführabend entgegen knallt.

Man sieht ein paar als Kriegsveteranen, Russen, polnische Huren und travestierende Nazi-Soldaten verkleidete "französische Schauspieler" in einem Zugwaggon - wohl eine Doppelsarkastik zwischen endstationierenden Auschwitz-Zügen und reisenden Opportunistenkünstlern -, der gegen Ende des Krieges, in Deutschland zum Stillstand kommt: Denn hierher hat es den französischen Schriftsteller Louis-Ferdinand Céline verschlagen, der sich als geduldeter Kollaborateur in den privilegierten Schutzräumen der sinkenden Nazi-Macht bewegte.

Hitler-Lärm als Ideal-Schauspielsprache

Der faschistische Symphatisant, Antisemit und Autor des Stücks Céline steckt sozusagen - neben den eigentlich verkörperten Rollenfiguren - in Köpfen und Körpern der Schauspieler: als "bösartiger Mensch, einem Querulanten, der rastlos durch Europa reist. Eine merkwürdig schillernde Figur, aber jemand, der sagt, was er denkt", beschreibt ihn Castorf. Und genau so präsentiert er ihn dem Publikum. Damit es sich der Lautstärke - die für die ganze, militant-hysterische Nazi-Generation steht und gleichzeitig aber Castorfs geheime Theater-Ausdrucksliebe zwischen Emotionalität, unmoralischer Aggression und physischer Grenzerfahrung ist - von Anfang an bewußt ist, werden zu Beginn Ohrschaumgummis verteilt. Die Stöpsel steckt sich niemand rein, die Angst, wann der Lärm "kommt", steht aber jedem spannungsgeladen ins Gesicht geschrieben. Obwohl er stimmlich durchgehend da ist. Doch dann kommen sie: die Maschinengeschoße ertönen im Zehnminuten-Takt. Immer dann, wenn ein dogmatischer "Nazi" kein Gehör findet.

Nazi-Ideologie als vertane Chance

Alle fünf Minuten verlassen indessen kleine bis größere Gruppen die Zuschauerreihen. Denn was man hier sieht, ist eigentlich eine Installation, die nur einen "Gemütszustand" einer Gesellschaft ausdrückt und keine großartige Wandlung durchmacht. Die Sprache ist so verworren und doch momentweise so zynisch genial, dass man einerseits bleiben will, andererseits gehen kann. Denn inhaltlich begriffen hat man diese "Ersatzparty der Maßlosigkeiten", als die Castorf-Inszenierungen unter Jugendlichen gehandelt werden, schon im ersten Eindruck. Doch da dem Auge und Ohr genug spektakuläre Abwechslung in Tönen und Bildern geboten wird, kann man sich ruhig ein wenig aufhalten unter diesen irren Nazi-Geschädigten. Dass sie als "Fantasten" im Grunde nur nach schönem Luxus und idyllischem Mond strebten, was sich aber leider zum dekadent Maßlosen zwischen Sexgier und Mordlust entwickelte, wird zwischendurch bildhaft und anhand von verehrten "japanischen" Sänger-Diven gezeigt.

Manch geistreiche Heute-Dada-Politik

Irritierende, teilweise geistreich-dadaistische Politbezüge zwischen Ausländerfragen von damals und heute sowie Castorfs "Schauspielerzugang" - Zitat: "Schauspieler müssen in Deutschland alle beschäftigt sein" - und Literatureinschübe wie das Gedicht vom Erlkönig ("Vater, Vater, jetzt faßt er mich an ..." mit "...und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt"), treiben den exzessiven Größenwahnsinn als allzeitgültige Nachwehe auf die Spitze, wobei die "Enttäuschung" über des Führers Tod als zerstörte und damit inhaltlich falsche Form von Utopie gleichzeitig durchgehend über dem Stück schwebt. Hier herrscht also "heutige" Endzeitstimmung, worin sich niemand bewegen kann, nicht mal in Richtung Tod. Denn die Bühne ziert der riesige Schriftzug: "Die another day". Der das Jesus-Kreuz schleppende Céline ist zum Heute-Castorf-Märtyrer geworden, unterstrichen vom doppeldeutigen Satz, "Keiner interessiert sich für französische Kunst, nur für Kriege". Und so wandeln demnach diese heutigen Schauspieler zwischen verkanntem Genie und opportunistischen Schildbürgern durch das Geschehen.

Manch echte Künstlerparty ist noch lebendiger

Mit dieser Erkenntnis verließen wir nach zwei Stunden Castorfs hoffnungslose 3-Stunden-Party, um jene eines verwandten Architekten anläßlich seines 40. Geburtstags zu besuchen. - Sie enthielt Beziehungsgeschichten, Sarkastisches und Geistreiches an erlebten Rückblenden und romantischer Zukunft, in sieben Stunden bis zum Morgen um 5h30; sodass wir am Ende sagen können: Echtes Leben ist doch noch mal lebendiger als Castorfs Theaterfeier, wobei sich das aber nicht in der Aktion, sondern im reflexiven Geist bewahrheitet. e.o./r.r.


DAS URTEIL DA CASTORF WAHRSCHEINLICH MIT WOLFGANG RIHMS LENZ DIE WIENER FESTWOCHEN 2008 ERÖFFNET, "WO SICH DIE SÄNGER ZUR MUSIK HINSCHREIEN WERDEN", KONNTE MAN DAS GUT GEBRÜLLTE NORDEN RUHIG VORZEITIG VERLASSEN. - NETTE AKTIONS-INSTALLATION, KEINE LEBENSNOTWENDIGE THEATERERFAHRUNG.

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