Tuesday, September 11, 2007

TANZTHEATER: DIE PANTOMIME LEBT BEI GIL MEHMERT IN "DAS BALLHAUS"

In den 1930ern tummeln sich unter den Tanzgästen "Geschäftsmänner" wie Rainer Frieb (mit Monokel) neben "Diven" wie Beatrice Frey, ewigen "Nein-Sagern" wie Raphael von Bargen, "Mauerblümchen" wie Annette Isabella Holzmann (das in den 80ern zur Punkerin wird) und "Mitläufern" wie Christoph F. Krutzler (der vom Nazi zum Geschäftsmann 2000 wandelt) ...

... neben "Mode-Opfern" wie Susa Meyer, "Falschspielern" wie Marcello de Nardo und dem einzig konstanten No-Person-Mensch, Kellner Thomas Bauer.

Wobei ausgerechnet der Falschspieler (De Nardo mit Heike Kretschmer) ab den 60ern ein so ausgezeichneter Tänzer ist ...














... und er außerdem in den 90ern zu Falcos Kokain-Song "Ganz Wien" unter Dealern und Geschäftsleuten kokst. (Fotos © Lalo Jodlbauer)



VOLKSTHEATER WIEN GIL MEHMERT FÜHRT IN DAS BALLHAUS DIE MENSCHEN IN IHREN GLEICHBLEIBENDEN MUTATIONEN ÜBER DIE JAHRZEHNTE BIS HEUTE VOR: SEHR UNTERHALTSAM UND INNERHALB DER THEATERLANDSCHAFT: FRECH!

Den Unkenrufen auf die saisonale Eröffnungspremiere zum Trotz, wonach das Stück ohne Worte, Das Ballhaus - Tanz durch ein Jahrhundert, nun wirklich nichts am Volkstheater zu suchen habe, folgt hier die Behauptung: "Und ob!" - Denn was zeichnet überhaupt die Schauspielerei aus? - Etwas, das heute schon fast vergessen ist: Die Pantomime. - Nun, die Schauspieler mimen hier nicht nur, sie tanzen auch. Aber auch das gehörte einst zur ganz großen Pflicht legendärer Schauspielikonen, zumindest bis in die vierziger Jahre hinein. Das alles war schon vergessen, sodass man in der Oper nur noch sang, im Theater nur noch sprach und auf der Bewegungsbühne nur noch tanzte. Nur das Musical sollte jener Bereich sein, wo sich alles vereinen kann. Doch ehrlich: Wird darin in der Regel - ganz besonders in Europa - nicht jeder Bereich so kommerzialisiert verwässert, dass kaum noch einer künstlerisch (gekonnt) ist?

Mischformen mit purem Können

In jüngster Zeit schälen sich die einzelnen Bereiche daher in puren, hochwertigeren Neu-Konstellationen heraus: In der Volksoper wird auch schaugespielt (siehe letzte Kritik auf intimacy: art), im Tanzquartier wütet das Kabarett, in Lesungen wird chansonniert, im Theater an der Wien gelesen und musiziert, im Kasino am Schwarzenbergplatz von Schauspielern gesungen. Und mit der französischen Vorlage Le Bal über eine Zeitreise durch Tänze, Moden und politische Umbrüche von den 1920-er Jahren bis heute, wurde nun die "Idee des Gesellschaftstanzes" von Jean-Claude Penchenat am Volkstheater auf Österreich umgemünzt; sodass man in der Neufassung von Volker Schmidt unter der Regie von Gil Mehmert ein Können entdeckt, das in dieser Professionalität eigentlich nur mit Charlie-Chaplin-Stummfilmen assoziiert werden kann. Wohl zeigten auch die Wiener Festwochen in den letzten Jahren immer wieder Performance-Theater, doch arbeiteten jene eher mit Körper-Arrangements im Raum, was in der Regel die Tänzer bei ImPulsTanz besser umsetzten. Am Volkstheater agieren nun wirklich Mimen mit ihren Gesichtern und Körpern, sodass sie in ihren Zwischentönen viel deutlicher sind, als (sprechende) Schauspieler in körper-grafischen Bildern.

Die subtilen Zwischentöne eines großartigen Ensembles

Das inhaltlich Schöne an dem Stück ist, dass es, ohne Worte, gezwungenermaßen mit Impressionen aus dem kollektiven Gedächtnis arbeitet, tanzschritt-modisch von Charleston über Twist und Hulla-Hop bis Flower Power und Punk, politisch von 20-er Offenheit über Nazi-Prüderie und -Widerstand bis zu Kokain-Intellektualismus und kommerziellem Yuppie-Heute mit Terrorismus-Beiwerk. Gleichzeitig macht es die Ausgrenzungen und kleinen Ausschrittversuche in all diesen Strömungen transparent. Und über allem thront die Aussage vom Menschen, der als "Typ" immer gleich bleibt, er sich nur in anderen Verkleidungen zeigt, wobei der äußerliche Gegensatz nach der Nazizeit aber auch in die Irre führen kann. - Das ist überhaupt die feine Subtilität an der Regie und am Buch der Inszenierung.

Am stärksten verkörpert sie das Tanz- und Bewegungsgenie des Ensembles, Marcello de Nardo als "Der Mann, dem man nicht trauen sollte": Gebuckelt schwindelt er sich in den 20ern, sich an der Zigarette festhaltend, durch die Tanzgäste in ihren typisch-schmalen Kostümkleidern, und findet er Geld, steckt er es verstohlen ein. In der Nazikriegszeit taucht er als einziger Mann bei den munitionsgürtelbastelnden Frauen auf und versucht sie durch Spielertricks ihrer letzten Habe zu berauben. Und in den 80-ern ist er kontrastartig ein brillanter Jazz-Dancer und -Choreograf, in den 90-ern ein Kokain-Dealer in der Disco. Auch Rainer Frieb ist ein berückender Körper- und Gesichtsmime, indem er als "Geschäftsmann" durch die frühen Jahre hämisch grinsend, kalt und beinhart, in den 70ern plötzlich zum Intellektuellen der Jazzszene und dann zum Aussteiger in Sandlermontur mutiert. Bei den Frauen ist Susa Meyer als "die Frau, die nach der neuesten Mode gekleidet ist" vor allem in der Körperhaltung, Bewegung und Ausstrahlung immer wieder ein Augenschmaus, wobei sie von der linken Widerständlerin in den 30ern zu den Kriegsgewinnerinnen und dann zur Powerfrau der 90er wird. In Summe ist jedoch das ganze Ensemble unverschämt gut, immer wieder findet man eine Wandlung, die einen zum Lachen animiert oder schlichtweg erinnert, sodass es sogar schmerzt.

Und doch zu altmodischer Erzählrhythmus

In den 2 Stunden und 45 Minuten geschieht bei guter Live-Musik von Patrick Lammer und Band so viel, dass keine Langeweile aufkommt. - Wie so oft in ebenso langen Sprechstücken. Und doch hätte der Erzählrhythmus weniger analog und hausbacken sein können, um das Stück insgesamt wirklich modern wirken zu lassen. Inhaltlich ist die Nazizeit - wie immer am Volkstheater - zu lang gestreckt, während die Zeit danach, die auch die Jugend interessieren würde, nur oberflächlich und kurz gestreift wird.

- Ein wenig erscheint dem Volkstheater-Kenner dieses Dramenmuster unter Michael Schottenbergs Intendanz auch wie eine ironisch-trotzige Geste seitens Direktors: denn Schottenberg kämpfte im ersten Jahr mit linken Aufklärungs-Sprechstücken um Zuschauer, im zweiten hatte er den großen Erfolg mit dem gesungenen und getanzten Cabaret, und das ist nun noch einmal eine Steigerung in die absolute Sprachlosigkeit. Sie trifft ironischerweise aber doch genau den Ton unserer Zeit - man denke nur an Dancing-Stars. Nur ist das am Volkstheater aber natürlich viel mehr wert! e.o. (36 Jahre) / n.w. (80 Jahre)


DAS URTEIL EIN PANTOMIMISCH BRILLANTES KALEIDOSKOP DURCH DIE TÄNZE UND POLITISCHEN UMBRÜCHE DES LETZTEN JAHRHUNDERTS. - NUR LEIDER IN HAUSBACKENEM ERZÄHLRHYTHMUS.

Tanztheater Das Ballhaus - Tanz durch ein Jahrhundert * Von: Volker Schmidt nach Jean-Claude Penchenat * Regie: Gil Mehmert * Choreographie: Kurt Schrepfer * Musik: Patrick Lammer mit Band * Mit: Marcello De Nardo, Rainer Frieb, Susa Meyer, Christoph F. Krutzler, u.a. * Ort: Volkstheater Wien * Zeit: 15., 23., 29.11.2007: 19h30

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