Friday, October 26, 2007

MUSIK: BEETHOVENS UND TONU KALJUSTES GOTTESVISION BEI "MISSA SOLEMNIS"

Er ist ein weniger kontrastliebender Dirigent als Kristjan Järvi, weiß die Tonkünstler aber auf andere Art zu Höchstleistungen zu bringen: Este und Chorspezialist Tõnu Kaljuste (Foto: © Tonkünstler)


MUSIKVEREIN MISSA SOLEMNIS, EINE MESSE - DAS KLINGT, OBWOHL VON BEETHOVEN, SCHRECKLICH. DANK TONKÜNSTLER, DIRIGENT TONU KALJUSTE, DEM SLOWAKISCHEN PHILHARMONISCHEN CHOR UND BERÜCKENDER SOLISTEN WIRD ES ABER ZUR ÜBERRASCHUNG DES MONATS

Wird man als fortschrittlich aufgeschlossener Kulturfreund, der den "Freund" zu seinem Beruf gemacht hat, zu einem Konzert Missa solemnis mit "sakralmusikalischer Vertonung des Messetextes" im Wiener Musikverein geladen, legt man die Einladung erst mal beiseite. Das klingt nach "Kirche", nach "Pflicht", nach "moralisch", nach "fad". - Und das braucht man im Alltagsstreß nicht auch noch, man möchte sich abends gehen lassen, wenn auch anspruchsvoll und anregend. Es ist zudem nichts, wofür sich ein verantwortungsbewußter Kulturkritiker einsetzen will, so "rückständig-weltfremd" wie "konservativ" sich das anhört. Doch da man weiß, dass das - vom estnisch-amerkanischen Kristjan Järvi geleitete - ansonsten innovative Tonkünstler-Orchester Niederösterreich spielt, dass da ein estnischer Dirigent (Esten sind meistens gut!) namens Tõnu Kaljuste werkt, der als weltbester Chorentwickler gilt, und dass der radikale Komponist, Ludwig van Beethoven, diese Arbeit selbst "für seine Größte" hielt, beschließt man in letzter Minute doch, sich diesem Experiment zu überlassen. - Und siehe da, nach diesem Konzert will man katholisch werden, wenn man es nicht schon ist, will man ab sofort täglich in die Kirche gehen, will man sobald als möglich beichten, will man Schwarz wählen, ... wird man wissen, was tiefste Religion ist, sodass sie einen blendet.

Zum Himmel erweckte Litaneien

Denn die Litaneien, die man als Kind in der Kirche mitplapperte, ohne sie je zu verstehen - "Herr, erbarme dich unser, Christus erbarme dich unser... Ehre sei Gott in der Höhe Und auf Erden Friede den Menschen ... Lamm Gottes, Du nimmst hinweg die Sünde der Welt..." - bekommen plötzlich Inhalt. Diese Musik erklärt sie so deutlich, so großartig, weil Beethoven sie während seiner vierjährigen Komponierzeit von 1819 bis 1823 von ihrer Substanz her ergründete und aus der Tiefe seiner ganzen Glaubenskraft umsetzte. Für die himmlisch-archaische Gewalt dieser Musik, die über jede reale Hemmschwelle hinaus wächst, mag Beethovens Taubheit mitverantwortlich sein, die zu dieser Zeit sehr fortgeschritten sein mußte; er starb vier Jahre danach. So stark kann nur die Fantasie ohne akustische Ablenkung sein. Als Widmung schrieb Beethoven zur Partitur: "Von Hertzen - Möge es wieder - zu Hertzen gehen." Und das tut sie, hier im Musikverein geht sie zu Herzen.

Fernab von jedem Kirchensound eines Männer- und Frauen-Chors wird hier der gigantisch große Slowakische Philharmonische Chor mit Solostimmen kombiniert - von der an erster Stelle überwältigend schön, leise singenden Sopranistin Andrea Lauren Brown und vom perfekt "dienenden" Tenor, Lothar Odinius, die in Kyrie und Credo die Hauptpartien geben, sowie des wunderbaren, im Sanctus auch bassstarken Baritons Klemens Sander und der Mezzosopranistin Hermine Haselböck. Das ertönt als symphonisches Himmelswerk voll vehementer Rhythmik, Gewalt, Radikalität. Es bedient sich der historischen Kirchenmusik, um sich in der Feier Gottes zu befrieden. Jedoch in unaufdringlich, allzeitgültiger Weise, wo keine einzelnen Stimmen hervor stechen, sondern in echoartigem Kanon aus diversen Tonhöhen wiederholend gesungenen Kopfmotiven sanft und weich in einander verschwimmen. Das ist ein perfekt dirigierter, zwischen laut und leise changierender Engelsrausch mit Pauke und Orgelspiel, der sich selbst am Ende im Agnus Dei, trotz Einzugs des erlösenden Christus, noch gegen die kriegerische Dramatik des Lebens zu behaupten hat. Das, obwohl die Violine von Vahid Khadem-Missagh im Sanctus, so leidenschaftlich für die profane Menschheit sprechend, ihr solistisches Veto einlegen durfte. - Dieses Klangerlebnis läßt sich nicht beschreiben, man muß es gehört haben, es raubt einem die Worte. e.o./r.r.


DAS URTEIL DAS IST HÖCHSTE MUSIKKUNST, OHNE JEDE AUFDRINGLICHKEIT; DAS IST GOTT.

Nächste Tonkünstler-Events:
* KONZERT Tonkünstler-Orchester: Harmonielehre * LUKAS LIGETI «Centrifuge». (Uraufführung), MARK-ANTHONY TURNAGE «Kai» für Violoncello Solo und Ensemble, JOHN ADAMS «Harmonielehre» für großes Orchester * Dirigent: Kristjan Järvi * Mit: Tonkünstler-Orchester Niederösterreich * Mit: Orfeo Mandozzi (Violoncello) * Ort: Festspielhaus St. Pölten * Zeit: 31. 10. 2007: 19h30
* KONZERT Plugged-In: All That Tango * IGOR STRAWINSKI Rag Time, FRANK ZAPPA Be-Bop Tango, IGOR STRAWINSKI Tango für Orchester (Fassung von 1953), ASTOR PIAZZOLLA Konzerte für Bandoneon und Orchester + Milonga del Angel, CAREL KRAAYENHOF Desconcierto * Dirigent: Kristjan Järvi * Mit: Tonkünstler-Orchester Niederösterreich * Mit: Carel Kraayenhof (Bandoneon), Sebastian van Delft (Klavier) * Ort: Musikverein, Großer Saal * Zeit: 8.11.2007: 20h30
* KONZERT Tonkünstler-Orchester: Adagietto * RICHARD STRAUSS «Vier letzte Lieder» für Sopran und Orchester, GUSTAV MAHLER Symphonie Nr. 5 cis-moll * Dirigent: Claus Peter Flor * Mit: Tonkünstler-Orchester Niederösterreich * Mit: Ann Peterson (Sopran) * Ort + Zeit: Musikverein Wien, 11.11.2007: 16h; * Ort: Festspielhaus St. Pölten, 12.11.2007: 19h30

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