Friday, July 20, 2007

PERFORMANCE: ALAIN PLATEL MIT SEINEM RÜHRENDEN LACH-SCHOCKER "NINE FINGER"

Der afrikanische Soldatenjunge (Benjamin Verdonck) ist ein spontaner, liebenswerter Mörder und Vergewaltiger ...

... was das leblose Objekt (Fumiyo Ikeda) bestens zeigt. (Fotos © Herman Sorgeloos)

Doch das Objekt wird dann zum kleinen Mädchen, das wie der Bub vergewaltigt wurde: beide schreien sie ihren Schmerz übers Mikro hinaus.


SCHAUSPIELHAUS - IMPULSTANZ BENJAMIN VERDONCK RÜHRT ALS UNGERÜHRTES KIND, FUMIYO IKEDA DIENT IHM IN DIENERLOSER AURA, ALAIN PLATEL SITZT MIT SEINEM WITZ IN BEIDEN

Wer das Vergnügen hatte, mit Alain Platel einmal persönlich zu sprechen, wird dessen eigentümlichen Schalk sofort in Benjamin Verdonck wieder entdecken, der in Nine Finger im Schauspielhaus als afrikanischer Soldatenjunge in unschuldiger Kindeslust zwischen Schocktherapie und Hoffnung irrt. - Irrsinn gepaart mit "Wahn" sind hier nicht nur im Sinne von Entsetzen, sondern auch - und darum geht´s - mit freudiger Neugierde am abnormen Exzess ausgestellt. Und sollte es Psychologen geben, die sagen, Künstler neigen in der Regel mehr zur Hysterie als zur Depression, dann lässt sich das am Künstlercharakter des Alain Platel bestätigen. Seine Wahnsinns- und Behinderungssprachen sind genial, weil sie eben nicht "echt", sondern aus lachender Leidenschaft heraus, nachgeahmt sind: in übersteigerter und als übersteigerte Realität.

Zwischen Tabubruch und Rührakt

Grenzen des Aussprechens realer Mißstände und Abgründe kennt Platel nicht. Klar, er ist ja neben dem Künstler ausgebildeter Psychologe und Behindertenpädagoge. - Sein Interesse daran als Drang zur Erkenntnis der Menschheit ist spürbar echt. Ohne Tabu, ohne Angst, Grenzen eben zu überschreiten. Wenn sein kongenialer Schauspiel-Performer Verdonck sich also zuerst als Afro-Kriegsjunge, zur insgeheimen Tarnung aus Scham für die begangenen Greueltaten, schwarze Farbe ins Gesicht geschmiert hat und nach der zerstörten "Zukunft" ruft, von seinen Verfolgungsgefühlen wie "Ich fühle als wären Insekten auf meinem ganzen Körper" spricht, sowie Existenzängste wie "Ich habe Hunger!" durchblicken lässt; er danach doch mehr mit kindlichem Stolz als aus Reue brüllt, "und ich haue dir in den Bauch, sodass Blut herausspritzt, und ich springe auf deinen Kopf, denn du bist nicht meine Mutter"; und er dabei, unberechbar reflexartig, abwechselnd in Tänzerin Fumiyo Ikeda und auf eine Matratze eindrischt, sodass es nur so knallt; - so ist das einerseits grausamer, dokumentarischer Thrill, andererseits eine berührend-sensible Psychostudie voll von ungeschminkter Naivität. Denn dieser Junge ist mit seiner Spontaneität total lieb, ganz nach der Weisheit: "Denn sie (Kinder) wissen nicht, was sie tun." - Was auch der Grund ist, warum Zehnjährige in Afrika aus ihren Familien entführt und zum Kriegführen gezwungen werden: sie schießen einfach drauflos, ohne geringstes Mitleid zu empfinden. Und dass sie damit beginnen, dafür sorgen sexuelle Nötigung und Androhung gegenüber ihren Familien.

Makabre Kinderpoesie

Dieser Bub erzählt, während er sich mit einem Taschentuch selbst befriedigt, dessen Geräusch dann in Stereo durch den Raum verstärkt weiter getragen wird, begleitet von akustischem Magenknurren und Vogelgezwitscher, wie er vergewaltigt wird: "Ich mag es nicht wenn K. mich sehen will, weil danach mein Unterleib ganz furchtbar brennt." Ins makaber Groteske kehrt sich sein Schicksal, als Fumiyo Ikeda zur Regenzeit einen Afrotanz als Erinnerung an sein(e) Heim(at) tanzt, und er - im Regenmantel verhüllt - wie ein schutzbedürftiger kleiner Zwerg dahinter steht. Zum Schluß kriecht sie unter seinen Mantel - und jetzt erzählt auch sie, die nun kein untermalendes Veranschaulichungsobjekt mehr für seine Erklärungen, sondern zu einem kleinen afrikanischen Mädchen geworden ist, was man "ihr" angetan hat: "Gute Soldaten..., ich muß Soldaten gehorchen und meine Kleider ausziehen..." Das Mikrofon in seinen und dann in ihren Händen, dient ihnen als Waffe, sich über ihre Erfahrungen zu behaupten, sie hinaus zu schreien und ist gleichzeitig Effektmittel, um entsetzlich laute Schlaglaute zu produzieren.

Wunde fürs Leben

Sie fragt jetzt: "Bist du dumm?" Und während sie bitter-kühl singt, lugt aus der großen (Spielzeug-)Kiste, die durchgehend auf der Bühne steht, sein Kopf mit Bärenmaske hervor. Ab und zu wirft er im Takt einen leeren Sack in die Luft, als wäre das ihr poetischer Traum von der verlorenen Kindheit, den er sich daraufhin symbolisch über den Kopf zieht. Dazu der Satz: "Du bist nichts." Und doch hat der Junge noch Träume: vielleicht will er einmal ein Weihnachtsbaum, ein Doktor oder ein Auto werden. Er träumt noch, obwohl er kein Kind mehr ist und seine Taten bereuen muss: "Du wirst denken, ich sei ein Tier oder der Teufel. Und ich bin´s. Ich bin´s. Doch ich hatte einmal eine Mutter. Und sie liebt mich." Er sagt weiter zum fragenden Mädchen: "Ich werde wieder eine Mutter haben", worauf wiederum das hilflos einsame Mädchen antwortet, wissend, dass solche geschädigten Kinder ewig in ihren Erfahrungen eingeschlossen bleiben und kaum Aufmerksamkeit gegenüber anderen aufbringen können: "Aber wie denkst Du über mich?" e.o.


DAS URTEL EIN RÜHREND-AUFDECKERISCHES DOKUMENTAR-SPIEL ÜBER EIN AFRIKANISCHES KINDERSOLDATEN-SCHICKSAL, UND DABEI ABER GROSSE KUNST: IN BILDERN, RHYTHMUS, ATEM, HYSTERIE UND KINDLICHER POESIE.

Alain Platel ist jetzt neu im Gespräch zusammen mit Susanne Linke und Fabrizio Cassol in intimacy: art / artists / vision zu hören und zu lesen

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