Chinesin Xuan Cheng (hier mit Partner Keir Knight) ist die technische Kader-Tänzerin von Lock: Ein Dornröschen, das kühl und perfekt ist.
Spärliche Video-Projektionen von André Turpin im kargen, schwarzen Raum leiten schlagwortartig Dornröschen-Assoziationen ein: Hier sind statt der Prinzen allerdings die Ballerinas in den Dornen gefangen.
Die Schwanen(see)-Geste wird grafisch dem männlichen Pendant exakt gegenüber gestellt, wo aber die Spitzenhaltung dennoch Mann (Bernard Martin) und Frau (Zofia Tujaka) auf eine androgyne, gleichwertige Ebene versetzt.
Eine scharfe Schlußszene: Der männliche Jason Shipley-Holmes dreht die expressiv-temperamentvolle Talia Evtushenko in einen dramatisch-leidenschaftlichen Erotikhöhepunkt. (Fotos © Édouard Lock)
BURGTHEATER - IMPULSTANZ DER MINIMALISMUS MACHT VOR DEM KANADISCHEN CHOREGRAFIESTAR LOCK AUCH ALS RASEND SCHNELLEM WALZER-ROMANTIKER NICHT HALT: SCHÖN, ABER ZWISCHENZEITLICH LANG WIRKT AMJAD
Hört ein Europäer, ein Choreograf komme aus Kanada, und er mache zeitgenössisches Ballett bei ebensolcher Musik, dann bedeutet das für den Europäer: "Aufpassen!" Denn, was hier "zeitgenössisch" bedeutet, zählt dort zur "Klassik". Die einzige (junge) Geschichte im Bereich Musik, die Amerika für sich in Anspruch nehmen kann, heißt nämlich Minimalismus oder Jazz. Und Minimalismus ist die Basis, auf der Kanadier Édouard Lock seine seit 1980 bestehende Kompagnie La La La Human Steps stellt; da dabei auch noch die kanadische Ballettszene mitprägt, kommt man insgesamt auf eine relativ klassische Art von Ballett. Nur dass Kanadas Balletttanz sexy expressiv ausarten kann, selbst wenn die musikalische und choreographische Komposition wiederholend nüchtern-rhythmisch und damit grundsätzlich intellektuell geschliffen ist.
Minimalismus als Qualität und Problem
Das ist zugleich die Qualität und das Problem von Amjad, der märchenhaften Neuproduktion des Ballettvisionärs Lock. Der minimalistische Grundtenor, der für manchen die begehrte Trance darstellt, worin die Zeit stehen zu bleiben scheint, erscheint Europäern gerne zu simpel und zu lang. Selbst wenn es in der amerikanischen Presse heißt, Lock sei jetzt in Amjad romantischer und narrativer geworden, ist das für uns für "Romantik" noch immer zu kühl abstrakt. Denn die Ausgangsstoffe, Dornröschen und Schwanensee, wurden nur in wenigen "schlagwortartigen" Erkennungsmomenten gestreift, und kammermusikalisch sowieso sehr amerikanisch-minimalistisch interpretiert: Tschaikowsky würde sich bei den Komponisten Gavin Bryars, David Lang und Blake Hargreaves bedanken! Selbst wenn die beibehaltenen Walzerklänge im Dreivierteltakt die - mit Elektropassagen unterbrochene - Musik tatsächlich interessant und angenehm aufwärmen und in den Tänzern zeitweise leidenschaftliche, zwischenmenschliche Energie freisetzen.
Es verhält sich mit der Musik also insgesamt wie mit dem Tanz: sie ist an-sich erstklassig und wunderschön. Wenn der musikalische Leiter Njo Kong Kie in seine Pianotasten greift, während ihn drei Streicher auf der kargen, schwarzen Bühne begleiten, führt das zuerst zu einem grossen Gefühl des Beeindrucktseins, da es aber durch die Wiederholung zu rasch zu bekannt wird, kippt es in ein Gefühl von Monotonie. Treten die technisch hochprofessionellen, klassischen Ballettänzer mit ihren perfekten Körpern in engen Miedern, schwarzen Strümpfen und Armani-Anzügen als Pas de Deux mit nicht viel mehr als zwei Basis-Tanzschritten auf - d.h. Männer und Frauen in blitzschnellen Drehungen und Fußgesten auf Spitzenschuhen -, dann führt das zu bewunderndem Staunen, wird aber bald fad.
Die rettenden Überraschungen
Wenn nicht immer wieder rettende Szenen und Tanzüberraschungsmomente wären, die den Zuschauer aufwecken, um ihn abermals in Entzücken zu versetzen: Das beginnt mit drei kreisrunden Videoprojektionen, die als Expermientalfilmtanz ein Spiel aus weiß-roten Farbflächen und Perlen treiben. Sie unterstreichen als grafische Farbmetapher-Symbolik die Projektionen für Reinheit des Schwans und Blut durch den Spindelstich Dornröschens, was irgendwann zu Vereinigung in Erotik und Liebe führt. Zwischendurch ist ein konkretes Gefangen-Werden in der Dornenhecke (aus Lianen) zu sehen, worin interessanterweise aber kein "Prinzen-Ballerino", sondern schlafende Ballerinas gefangen sind. Eine davon fällt tanztechnisch wegen ihrer exakten Körperbeherrschung auf: Xuan Cheng, die wirklich aus der chinesischen Kaderschmiede zu kommen scheint.
Das Schwanenthema wird prinzipiell eher im zweiten Teil bearbeitet, indem die Armbewegungen als Flügelschläge witzig und noch schön anzusehen, fast bis zum Ende immer wieder aufgenommen werden. Eine interessante geometrische Umkehrung ergibt die Kombination der großen Tänzerin Zofja Tujaka mit einem kleinen Tänzer als Partner, worin Lock sein persönliches Spiel des Geschlechtertauschs in künstlerischem Hochglanz betreibt. - Dasselbe wiederholt sich dann nochmals, wenn Tujaka zum Schwan in weißem Nachthemd geworden ist.
Die stärksten zwei Szenen
Die allerstärkste Nummer, die sich als einzige auch schritttechnisch unterscheidet, bieten jedoch zwei männliche Tänzer bei nacktem Oberkörper, nur mit schwarzen Hosen bekleidet. Ihr abstrakt-enger Walzertanz ist an Sinnlichkeit und Spannung nicht zu überbieten, und einer der seltenen Tanzmomente, wie auf einen Hetero eine homosexuelle Beziehung nachvollziehbar anziehend wirken kann - wenn man es denn unbedingt so verstehen wollte. Und die letzte Tanzszene ist ebenfalls noch einmal sehr stark, da hier die kanadische Tänzerin Talia Evtushenko trotz ihres beängstigend dünn-sehnigen Körpers, mit all ihrem Temperament, ihrer Leidenschaft, neben dem Technikkönnen ins Auge springt: Es ist unglaublich sexy, wie sie sich blitzschnell von ihrem Partner, Jason Shipley-Holmes, an der Taille drehen lässt, und wie er dabei männlich-stark ihrem theatral-erotischen Liebeskampf unterliegt. e.o./g.m.
DAS URTEIL ÉDOUARD LOCK IST FÜR EUROPÄISCHE VERHÄLTNISSE MIT SEINER MÄRCHENADAPTION ZWAR NOCH IMMER ZIEMLICH KÜHL UND MONOTON, TROTZDEM WAR SEIN STÜCK AMJAD EINES DER HIGHLIGHTS DES HEURIGEN IMPULSTANZ-FESTIVALS. DENN DAS IST HIER NIE ZU SEHENDES KLASSISCH-MODERNES BALLETT.
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