Thursday, October 26, 2006

MUSIK/THEATER + BALLETT: GEYER, HOLENDER, BERGER, BUCHBINDER, POUNTNEY, SERAFIN UND FLIMM IM VERGLEICH

David Pountney liebt schwierige Kunstexperimente so sehr, dass er dafür, trotz Intendanz bei den Bregenzer Festspielen, zur Ruhrtriennale fährt, um Die Soldaten zu inszenieren. (© C. + H. Baus)


OPER + BALLETT DIE ÖSTERREICHISCHEN FESTSPIELORTE SIND DRAUF UND DRAN, DEN WIENER TOURISMUSATTRAKTIONEN WIE STAATSOPER UND VOLKSOPER IN SACHEN INTERNATIONALEM MUSIK/THEATER DEN RANG AB ZU RINGEN: ABER EIN KLEINER INNOVATIONSTROPFEN KOMMT NUN VOM NEUEN THEATER AN DER WIEN

Die Präsentation des Jahresprogramms 2007 am neuen Opernhaus Theater an der Wien war eine kleine Freude. Intendant Roland Geyer bringt durch neuere Werke wie Endstation Sehnsucht (UA 1998) und Dead Man Walking (UA 2002) endlich jüngere Oper nach Wien. Denn seitens Staatsoper passiert diesbezüglich ja nichts. Barry Koskys zynische Lohengrin-Umsetzung war zuletzt höchstens ein interessanterer Zugang. Von der Volksoper unter Rudolf Berger ganz zu schweigen, wo in der Saison 05/06 nur Sophie´s Choice so etwas wie internationales, modernes Charisma hatte. Die meisten anderen Inszenierungen erinnern an Musikantenstadl im Barockkleid, sodass der junge Kunstfreund gerade noch lieber in die Staatsoper geht.

Patriarch Ioan Holender zeigt sich großzügig

Fast einen Lacher kostet es aber, dass sich Staatsoperndirektor Ioan Holender - der seine Regisseure derart erniedrigt, dass er am Monatsprogramm nicht einmal ihren Namen zur geschaffenen Inszenierung hinschreibt - pseudomäßig der Kunst gegenüber fortschrittlich gibt, indem er in Kooperation mit der neuen, designierten Belvedere-Direktorin, Agnes Husslein, junge Künstlerinnen zu den Premieren ausstellen läßt. - Wobei er aber nichts ankauft, sondern nur die Materialkosten für die Malerei zahlt, die extra zum Thema der jeweiligen Oper gefertigt werden muß. Wer wird den Künstlerinnen wohl diese Auftragswerke abkaufen?!

Der Tanz schläft auch im Theater an der Wien

Das Theater an der Wien wird außerdem Der Seelen wunderliches Bergwerk von Tobias Moretti & moderntimes heraus bringen, das zwar auf einem etablierten Komponisten-Mix beruht, aber formal und inhaltlich sehr speziell zu sein scheint. Und auch das Kabinetttheater wird ein Stück kreieren - dieses süße Figurentheater sieht man zwar auch im Konzerthaus, aber immerhin, eine nette Geste des formalen Öffnens...

Nur im Tanz ruht sich Geyer ein wenig zu sehr auf John Neumeier aus - als ob es nur diesen einen Choreographen gäbe. Und nichts gegen Anne Teresa de Keersmaeker, die vom geschätzten ImPulsTanz-Team beigesteuert wurde - nun aber auch noch im Winter, nachdem sie fast jeden Sommer in Wien tanzt, das wird doch langsam fad. (Dass sie ihren Fulltime-Job an der Brüsseler Oper verloren hat, darf als Grund nicht genügen.) Vom Ballett der Staatsoper und Volksoper unter dem Ungarn, Gyula Harangozó, wollen wir in diesem Zusammenhang lieber nicht reden ... denn diese Bestellung ist klar ersichtlich eine rein politische!

Neben der Ruhr-Triennale verblasst Wiens Szene

Das Gefühl, dass Wien insgesamt international noch immer hinten nach ist, verstärkt sich trotz der jüngsten Ansätze im Vergleich mit der deutschen Ruhr-Triennale und deren hochprofessionellen Experimenten. Tanzgrößen wie die Trisha-Brown-Company oder Alain Platels Les Ballets C. de la B. kamen zuletzt. Musikgenre-Sprenger wie David Byrne finden hier ihr Publikum. David Pountney, Intendant der Bregenzer Festspiele, inszenierte im Oktober auf technisch abenteuerliche Weise Alois Zimmermanns Die Soldaten (UA 1965) in der Jahrhunderthalle, der Maschinenhalle einer ehemaligen Stahlfabrik. Musikalisch spielen dabei drei Orchesterensembles in mehreren Handlungssträngen über- und nebeneinander, bei verschränkten Jazzelementen mit Barock-Chorälen.

Vorarlberg, Salzburg, Niederösterreich bald/schon innovativer als Wien

- Nachdem Ruhr-Triennale-Intendant Jürgen Flimm seit 1. Oktober nun neuer Intendant der Salzburger Festspiele ist, kann man dem Bundesland nur noch einmal zu dieser zukunftsweisenden Entscheidung gratulieren. Österreich, das bekanntlich viel mehr Liebe und Geld für Kunst übrig hat als andere Länder, wird daher künftig wohl wegen der sommerlichen Bundesländer zum kulturellen Aushängeschild werden. Insbesondere, da nun auch Niederösterreich ab 23.8. bis 9.9.2007 das hochqualitative Musik-Festival Grafenegg unter künstlerischer Intendanz des Pianistengenies Rudolf Buchbinder aus dem Boden stampft. Das elitäre Klassikprogramm will sich später auch dem Jazz öffnen und bei Open-air-Variante für jeden Geldbeutel erschwinglich sein.

Die sommerliche Ausnahme in Sachen Innovation bildet bisher nur Harald Serafin im Burgenland. Aber immerhin hat er für seine Operette nun Maximillian Schell als nächsten Regisseur gewonnen. Der ist zwar manchmal auch schon recht betagt, aber der wunderbar fantasievolle und vielfältige Giorgio Madia wird ihn als Choreograf schon ausreichend inspirieren, sodass es auf eigene Art doch modern sein wird. (e.o.)

DAS URTEIL ZEIGT WIEN NICHT BALD MUT IN SACHEN MUSIK(THEATER)PROGRAMM-GESTALTUNG UND REGISSEURE- BZW. CHOREOGRAFEN-AUSWAHL, WIRD ES BALD VON DEN BUNDESLÄNDERN GESCHLAGEN SEIN: DENN DORT LÄUFT IM SOMMER VERGLEICHSWEISE DAS BESSERE PROGRAMM.

Friday, October 13, 2006

AUSSTELLUNG: LÜSTLING I - DER FREUDSCHE ARTHUR SCHNITZLER
















Photos: Arthur Schnitzler (Photostudio Setzer © Reinhard Urbach) war ein Pionier der tiefenpsychologischen Dramatik mit widersprüchlicher Position hinsichtlich der freien Liebe. Um 1900 schien jeder fremd zu gehen. Syphillis und Verhütung waren die Folge. Und das sah so aus wie auf diesen Fotos: Safety Sponges, Verhütungs-Schwämmchen, 1. Hälfte 20. Jhd., Paris (© Institut für Geschichte der Medizin, Universität Wien) Syphilis-Illustration aus: Moriz Kaposi: Die Syphilis der Haut und der angrenzenden Schleimhäute, Wien, Leipzig: Braumüller 1873 ff; (© Österreichische Nationalbibliothek)


ÖSTERREICHISCHES THEATERMUSEUM WAS FÜR ARTHUR SCHNITZLER NOCH EIN GEHEIMNISVOLLES WANDERN DURCH DEN SEXUELLEN WIENER GARTEN WAR, IST HEUTE EIN GEHEIMNISLOSES NAGELN DURCH DIE MARIAHILFER STRASSE

"Meine impertinente Sinnlichkeit. Wenn ich eine Reihe von Tagen keusch war, 6-9 sind so das Maximum, so bin ich einfach ein Thier", schreibt Arthur Schnitzler 1890 in sein Tagebuch. In einer Zeit, wo das Thema Sexualität noch als öffentliches Mysterium gehandelt wurde, hörten Künstler wie der Schriftsteller Schnitzler - anfangs Arzt und im Freundeskreis von Sigmund Freud - in sich hinein, um das Wirkungsmaß des Menschensex zu erforschen.

Die Ausstellung im Österreichischen Theatermuseum trägt den Titel Affairen und Affekte und konzentriert sich auf drei Stücke Schnitzlers: Reigen, sowie die inneren Monologe Lieutnant Gustl über die Männeridentität und Fräulein Else über die Frauenidentität jener Zeit.

Schnitzlers Bekenntnis zur Promiskuität

Reigen, geschrieben 1896/97, ist dem Aufbau nach als erster Softporno zu bezeichnen. Darin treiben es zehn Figuren aus verschiedenen Schichten abwechselnd ohne Vorspiel miteinander - ohne den Koitus zu zeigen. Sie alle sind Gefangene ihres Geschlechts sowie der gesellschafltichen Rolle. Der Mann, der vor der Vereinigung nicht genug werben konnte, ist nachher kalt, die Frau, die sich zunächst zierte, wird nachher anhänglich. Mit höherem sozialen Milieu werden die Beziehungen mit raffinierteren und geheuchelteren Werbe- und Täuschungsmanövern komplizierter.

Im Grunde geht es aber um die Psychodiagnose oberflächlicher, promiskuitiver Triebbefriedigung - ob als moralische Anklage oder als Grundsatzaussage menschlicher Zusammenkunft - das bleibt doppeldeutig. Schreibt Schnitzler allerdings 1889 in sein Tagebuch, "ich brauche Liebe. Oder vielleicht nur Abwechslung", bzw. 1893, "ging Abd. spazieren, bin wieder erotisch (wie) krank. Möchte alle haben" und "wie anders ist doch Weiber- und Männer-untreue", müßte man eigentlich auf zweiteres schließen.*

Vom Stubenmädel und dem Soldaten

Bevor es also in die Erlebnisräume Else und Gustl durch die Drehtüre Reigen geht, führen im Vorraum die Sofa-Kapitel "Dienstmädchen", "Ehebruch", "Dichter-Schauspielerin", "An- und Ausziehen" und "Syphillis" in die Zeit und den Charakter Schnitzlers ein. Durch einen Spion sieht der Besucher zwei kleine Legofiguren, die eine gebückt, die andere hinter ihr vornübergebeugt. Darunter: Stubenmädchen: "... ich kann dein G´sicht gar nicht sehen." Soldat: "A was - G´sicht ..."

Sehr gelungen ist die Gegenüberstellung von 12 sinnlichen und technisch perfekten Rötelzeichnungen von Georg H. Trapp zu Reigen aus dem Jahr 1933, worauf ein Mann und eine Frau beim Sexakt - mit Nahaufnahmen auf den Gesichtsausdruck - zu sehen sind. Dagegen entmystifiziert den Sexakt die neuzeitliche Serie von Deutschbauer/Spring mit zwei Männern (sie selbst) im Arbeiteranzug beim "Nageln", "Schustern", "Anschaffen". Fehlt hier überhaupt die Frau, unterstreicht auch Michaela Spiegel in ihrer verschlüsselten "Riesenpenis-im-Reagenzglas"-Serie, dass es noch immer keine sexuelle Übereinstimmung, Transparenz und Verständigung zwischen Mann und Frau gibt.

Doppelmoral herrscht auch noch heute, aber ...

Die Quintessenz von alledem ist daher: heute herrscht zwar auch Doppelmoral, nur ist der Sex so ernüchternd platt und geheimnislos geworden, dass wahrscheinlich ein Arthur Schnitzler schreiben würde: "Ging heute auf der Mariahilfer Straße spazieren, sah lauter halbnackte, gleich aussehende, sich anbietende Menschen. Fand eine, die ein bißchen anders war, war aber lesbisch. Bin jetzt richtig impotent, sodass ich mich aufs Schreiben konzentrieren kann: über die Schamlosigkeit der Bytes-Viren im Netz."

* (Oder vielleicht doch auf den Umstand, dass hier ein Mann mit Sternbild Stier schreibt. - Sigmund Freud war ebenfalls Stier. Freud: geb. 6.5.1856 in Freiburg (Mähren), gest. 1939 in London, Schnitzler: geb. 15.5. 1862 und gest. 1931 in Wien - Der Stier ist das Zeichen der Venus, wo Sex als rein instinktive, körperlich-sinnesfreudige Lust gesehen wird. Während der Skorpion, das ebenfalls sexuell orientierte Zeichen, vor allem - dramatisch geheimnisvoll und reflektierend - erotisch getrieben ist... siehe Picasso, Story unten.) (e.o.)


DAS URTEIL HAT ETWAS GRINDIGES, DIESER VORRAUM ZUR ELSE UND ZUM GUSTL. TROTZDEM ERLEBENSWERT, DANK DER MIT DEN SINNEN ERFAHRBAREN AUSSTELLUNGSELEMENTE.

AUSSTELLUNG: arthur schnitzler - affairen und affekte * Kuratorinnen: Evelyne Polt-Heinzl, Gisela Steinlechner * Ort: Stifterhaus, Adalbert-Stifter-Paltz 1, A-4020 Linz * Zeit: 25.6. - 22.8.2008
link: www.stifter-haus.at/


AUSSTELLUNG: arthur schnitzler - affairen und affekte * Kuratorinnen: Evelyne Polt-Heinzl, Gisela Steinlechner * Ort: Österreichisches Theatermuseum / khm * Zeit: bis 21.1.07, Di-So, 10-18h

Mehr zu Schnitzler und Rahmenprogramm in www.intimacy-art.com/aKtuell/REALNEWS/TIPPS

Wednesday, October 11, 2006

AUSSTELLUNG: LÜSTLING II - DER ALTE PABLO PICASSO

Bild oben: Picasso war ein genialer Tier-Maler. Das Tier ist mächtig und (beute)geil: wie Picasso, der Mann. Siehe die Katze mit erigiertem Schwanz und Hoden. (Stillleben mit Katze und Hummer, 23.10./1.11. 1962, Öl auf Leinwand, 130 x 162 cm © Succession Picasso/VBK, Wien, 2006. Hakone Open-Air Museums, Japan)

Bild unten: Picasso muß beim Malen nicht nur erregt gewesen sein, sondern dabei den Wunsch gehabt haben, das Modell (und sich) zu befriedigen. Der Penis auf seinen Bildern kann zum Finger werden, der an die Stellen der Frau greift, wo es ihr gefällt... Picassos Erotikkonstellation kreist immer zwischen Zärtlichkeit und Vergewaltigung des Modells. Der Mann ist meist über-, die Frau unterlegen, selbst wenn sie bewundert dargestellt ist. Nur bei den Göttern der Liebe ist der Mann winzig klein, womit Picasso den Mann als den, in Wahrheit der Frau Ausgelieferten zeigt. Da es dem "Amor" aber dezidiert um die Liebe geht und der "Venus" eher um Begierde und Fruchtbarkeit, könnte damit auch gemeint sein, dass die bloße Lust vor der Liebe steht. Das würde auch erklären, warum Picasso auf allen seinen Bildern die Geschlechtsorgane so übergroß hervor hebt: (Venus und Amor, 13.12.1968, Öl auf Leinwand, 194,9 x 97,2 cm, © Succession Picasso/VBK, Wien, 2006. Im Besitz der Sammlung Würth, Künzelsau)


Zwei Bilder oben: Einsamkeit am Ende, Picasso als Totenkopf (Kopf (Selbstporträt), 30.7.1972, Schwarze und farbige Kreiden, auf Papier, 65,7 x 50,5 cm, © Succession Picasso/VBK, Wien, 2006. Privatsammlung, Courtesy Fuji Television Gallery), und doch ein Abschied mit versöhnend-erotisch-liebender Umarmung (Die Umarmung, 1.7. 1972, Öl auf Leinwand, 130 x 195 cm, © Succession Picasso/VBK, Wien, 2006. Larry Gagosia Foto: Robert McKeever)


Bild oben: Der Musketier war für Picasso ein Symbol für Männlichkeit schlechthin, sowie die Pfeife als Phallus. Hier findet er zu einer kindlich-selbstironischen Abwandlung: Männerporträt mit Schwert und Blume (2.8., 27.9.1969, Öl auf Leinwand, 146 x 115 cm, © Succession Picasso/VBK, Wien, 2006. Privatsammlung, mit freundlicher Genehmigung Fundación Almine y Bernard Ruiz-Picasso para el Arte Foto: Marc Domage).


ALBERTINA WIEN MIT PICASSO KONNTE MAN SICH BESTIMMT GUT ÜBER EROTIK UNTERHALTEN. ALSO NICHT NUR EIN MANN DER TAT... UND WAHRSCHEINLICH WAR ER WENIGER MACHO, ALS ALLGEMEIN GESAGT. BESONDERS IM ALTER

Die Ausstellung
Malen gegen die Zeit in der Wiener Albertina ist ein Sinnesrausch durch ein lüsternes Meer an Geschlechtsteilen, Erotik, Lebensfreude, Selbstironie und nahendem Tod. Erlebt und künstlerisch umgesetzt von Pablo Picasso (Skorpion, geb. 25.10.1881 in Spanien, gestorben am 8.4.1973 in Mougins) in seiner letzten Lebenszeit zwischen 79-91 Jahren. Den Anfang macht das Kapitel "Freiheit", das Ende beschließt Picassos letztes Bild Die Umarmung: in Rosa und Blau, wie in seinen frühen Perioden. "Schmerz und Sinnlichkeit sind wieder da. Das Leben ist vom Meer entsprungen und sinkt wieder hinein", interpretiert es Kurator Werner Spies.

Die Erotik beginnt und endet im Kopf

All die geladene Kraft, die in Picasso saß, spricht aus diesen letzten Werken. Nirgends spürt man seinen Charakter mehr als hier. Und doch lassen sie bitter erahnen, dass er zu all jener Lust, die er Zeit seines Lebens gelebt hatte, nur noch am Papier fähig war. Im Anblick seiner um 45 Jahre jüngeren, möglicherweise sexuell unbefriedigten Frau, Jacqueline Roque ... Und doch sehen wir hier ein selbstherrliches Genie, von anderen Künstlern neidvoll verhaßt, der alles hatte und sich entschieden gegen die allgegenwärtige Konzeptkunst der 1960er wandte. Er scherte sich einen Dreck darum, ob seine Bilder noch "gefielen" oder nicht. "Picasso war der zeitgenössischste aller Künstler - besonders im Alter", beschreibt ihn Werner Spies.

Fühlte Picasso "Ich habe keine Zeit mehr"?


Lange wurden Picassos Alterswerke als Symptom von Vergreisung abgetan. Jedoch werkte er bis zuletzt wie ein Fabriksarbeiter, streng nach fixer Zeitplanung pro Bild, was sein eigenes, wiederum geniales "Zeit-Konzept" erkennen läßt. Innerhalb dieses Zeitraums von einem Tag können die kleinformatigen grafischen Werke reflektiert, erzählfreudig und akribisch ausgeführt sein, während die Malerei furios, skizzenhaft-expressiv ist.

Es scheint aber vor allem, als wollte Picasso über diesen diszipliniert-strengen Arbeitsfluß den kommenden Tod überlisten, ihn überarbeiten, verdrängen. Er spürte ihn dennoch nahen, besonders gegen Ende seines Lebens, um 1972. Das zeigen die monumental-bedrohlichen Figuren, die - jeweils alleine - den Bildraum beherrschen. Die Farben werden immer schriller, ganze Partien bleiben unbearbeitet. Die Spannung in den Bildern schreit vor "Einsamkeit", wobei die Angst vor dem endgültigen Aus bereits akzeptiert worden scheint. Darunter sind Totenschädel mit expressiv geweiteten Augen, die auf den Betrachter (= in den Tod) starren: es sind Picassos Augen. (r.r.)
Mehr zum Thema Alter & Künstler (H.Nitsch/A.Rainer), finden Sie auf www.intimacy-art.com/artists/talks/life


DAS URTEIL DASS KURATOR WERNER SPIES PABLO PICASSO MIT GRÖSSTER EINFÜHLSAMKEIT BIS IN DIE TIEFE SEINES HERZENS VERSTEHT, SPÜRT MAN IN DIESEM SENSIBLEN, EMOTIONSGELADENEN, HOCH-EROTISCHEN BILDERPARADIES.

Ausstellung: Malen gegen die Zeit - Picasso * Kurator: Werner Spies * Ort: Albertina Wien * Zeit: bis 7.1.07, 10-18h, Mittwoch bis 21h

Monday, October 09, 2006

THEATER: SANDRA SCHÜDDEKOPF INSZENIERT "EFFI BRIEST" - WENIG AUFREGEND



Photo: Dietmar König als kunstsinniger Beamter und Ehemann Innstetten, und Alexandra Henkel als seine ungestüme Ehefrau Effi Briest. Einmal überhäuft sie ihn zur Begrüßung mit Tand, und immer sehnt sie sich fort, von seinem unheimlichen Haus (© Reinhard Werner)


VESTIBÜL IM BURGTHEATER FONTANES EFFI BRIEST KÖNNTE AUCH HEUTE NOCH GELTEN - ETWA ALS NATASCHA KAMPUSCH. WARUM ZEIGT MAN UNS DAS WERK SO WENIG ZEITGEMÄSS UND DABEI ABER IN VERSUCHT MODISCHER FORM?

Effi Briest ist einerseits die Geschichte der zuhause sitzenden Naturkindfrau und ihres karrierebewußten, an ihren Bedürfnissen wenig interessierten, älteren Geistesmannes. Andererseits ist das die Geschichte vom Individuum, das sich gegen die eigene Empfindung dem moralischen Gesellschaftsdruck unterwirft. Denn der Ehemann Innstetten tötet aus reiner Prinzipientreue, und nicht, weil er sich verletzt fühlt, im Duell den Verführer Crampas, der "vor Jahren" seine vernachlässigte Effi getröstet hat.

Heute arrangiert man sich mit Untreue

Womit nun Theodor Fontane im ausklingenden 19. Jahrhundert hinsichtlich des allgemeinen Schwindens des preußischen Ehrbegriffs provozierte, hat heute in weitestem Sinne höchstens noch im Kampf des Einzelnen gegen die Gesellschaft Gültigkeit. Denn eine ausschließlich vom Mann ausgehaltene, im Haus wartende, blutjunge, westliche Ehefrau, existiert wohl nur noch im abstrusen Beispiel einer Natascha Kampusch. - Die nach diesem Modell aber auch nur in Abschottung der Gesellschaft leben konnte; sobald sie mit der Gesellschaft konfrontiert war, mußte (wollte) sie selbst Geld verdienen - wie übrigens schon die "echte" Effi Briest, Else von Plotho, von deren Ehebruch und anschließenden Konsequenzen sich Fontane inspirieren lassen hat. - Ja, heute findet sich doch sogar schon jede/r Zweite mit der Wahrscheinlichkeit der "Untreue des Partners" ab, selbst wenn es ihn/sie schmerzt!

Unpassender Versuch von formaler Aktualisierung

Hätte sich Regisseurin Sandra Schüddekopf in ihrer Inszenierung der Effi Briest, die am 5.10. im Burgtheater-Vestibül Premiere hatte, in Sachen Aktualität auch nur irgendetwas zu diesem Stoff überlegt, wäre der Theaterabend spannender geworden. Denn wenn sie nur die Literaturvorlage erzählt - die wir schon des öfteren im Fernsehen bewundern konnten -, soll sie sie bitte auch gleich formal in der Vergangenheit spielen lassen. Doch was hat sie gemacht? - Ihre beiden Darsteller, Dietmar König und die körpersprachlich begabte Alexandra Henkel, switchen jeweils zwischen den weiblichen Figuren (Erzählerin, Effi, Annie=Haushälterin) und den Männlichen (Erzähler, Innstetten, Crampas) hin und her und raffen dadurch die Geschichte. Dazu ein bißchen Musik, ein paar an die Wand geworfene Bilder, ein paar nette Szenen, wie wenn Effi als jiddisch sprechende Frau zur Verführerin wird. Das ist aber auch schon alles. Vom Bühnenbild (Eva Maria Schwenkel) ganz zu schweigen, wo in den barocken Raum unpassend-Modernes (und auch Altes) hineingezwängt worden scheint.

Erkenntnisse zum Auffrischen

Wenn man als Zuschauer aber etwas wieder auffrischen konnte, dann waren es folgende Erkenntnisse: Mann und Frau sind in ihren Rollen (bis zu einem gewissen Grad auch heute noch) gefangen, wobei zu wenig gegenseitiges Verständnis und Interesse aufgebracht wird. Öfters passiert es, dass jemand sagt (in diesem Fall sagt es Effi), "Ich habe Dich eigentlich nur aus Ehrgeiz geheiratet", wonach man (sie) seine Zärtlichkeit über sich ergehen läßt, weil man (sie) es muß. (Oder Männer sind zärtlich, weil sie es müssen.) Es geschieht auch, dass man sich selbst verachtet, nachdem man glaubt, die Gesellschaft würde einen verachten. (Der Grund spielt dabei keine Rolle.) Und meist ist uns die mitmenschliche Tugend im realen Alltag wichtiger als in der Literatur oder Fiktion: nur da lieben wir die Rebellin, den Piraten, den Casanova, die Hure... e.o./ a.c.


DAS URTEIL VIEL IST REGISSEURIN SANDRA SCHÜDDEKOPF NICHT EINGEFALLEN ZU IHRER EFFI BRIEST. EINE MITTELMÄSSIGE AUFFÜHRUNG, AUF DIE MAN VERZICHTEN KANN, HAT MAN DEN FILM BEREITS GESEHEN.

THEATER Effi Briest * Autor: Theodor Fontane * Regie: Sandra Schüddekopf * Mit: Dietmar König, Alexandra Henkel * Ort: Jetzt im Akademietheater! * Zeit: 17., 25., 26.9.2008: 20h

THEATER: NICOLAS STEMANNS POLARISIERENDES "ENDE UND ANFANG"


Photo: Philipp Hochmair wird aus der Arbeitslosen-Not heraus so kreativ, dass er sogar zum "Vogelmann" wird und zu fliegen beginnt. Aber nicht lange, Markus Hering, der verbrannte Mann (die zerstörerische Seele der Arbeitslosenpolitik) bringt ihn schnell wieder zu Fall. (© Christian Brachwitz)






AKADEMIETHEATER WIEN ENDE UND ANFANG SPALTET DIE GENERATIONEN UND SPIEGELT GENAU DIE FRUSTRIERTE SEELENWELT DER ARBEITSLOSEN

"Hat es Ihnen auch nicht gefallen?", ist die Frage der 35-Jährigen an den Herrn rechts. Denn der Mann links, etwa siebzig, buht und kann sich gar nicht erholen von seinem Mißfallen. "Wissen Sie, ich bin Jahrgang 1920", antwortet der Herr rechts. Die 35-jährige: "Na und? Also mich hat es richtig mitgerissen. Braaavoooo!!!!!" Der Mann links - jetzt verdutzt - verstummt. "Aber es hatte keinen Inhalt", erwidert der rechts. "Also, da war doch sehr viel drinnen. Waren Sie schon arbeitslos?", fragt die 35-Jährige. - Sein Gesicht durchzieht ein zwiespältiger Ausdruck, worauf die 35-jährige konstatiert: "Wahrscheinlich liegt es tatsächlich an Ihrer Generation." Denn nur wer gelernt hat, fantasievolle Bildsprache und unchronologische Erzählweise zu deuten, wird mit diesem Stück etwas anfangen können: nämlich die (inzwischen auch nicht mehr junge) Musikvideo-Generation.

Dieser Konflikt spielte sich Sonntag abend, 8.10., am Tag nach der Premiere der Uraufführung von Ende und Anfang im Wiener Akademietheater, im Publikum ab. Regisseur Nicolas Stemann bewies, dass er den Ruf des "Stars im Burgthater" verdient. Denn er fand zum unpoetischen Thema "Arbeitslosigkeit" eine absolut poetische Umsetzung, was bereits im Text des 38-jährigen Autors Roland Schimmelpfennig angelegt ist. Keiner der zahlreichen multimedialen Effekte (Video-, Musik- und Schrift-Einspielungen, Affen- und Löwenmasken, Schattenspiele) wirkt aufgesetzt oder übertrieben, der Rhythmus des Erzählens ist formal von einer im Theater selten schönen Musikalität, und doch tangiert dieses Stück dank der durchgehend guten Schauspielleistung durch wahrhaftigen, nackten Naturalismus. Form und Inhalt entsprechen einander, obwohl sie sich scheinbar kontrastieren.

Formale Zerrissenheit trifft auf seelische Zerrissenheit


Dass diese Harmonie hier aufgeht, liegt im gezielt getroffenen Lebensgefühl, das ein (Langzeit)-Arbeitsloser hat. Die Gedanken dieser aus dem Gesellschaftsrhythmus geworfenen Menschen kreisen immerzu um drei, vier Eckpfeiler, die sie zwischen Verzweiflung, Selbstaufgabe und seltener Hoffnung hin und her schleudern: "Wann war der Wendepunkt, als das stetige Aufwärts ins Abwärts kippte?", "Warum passe ich nicht (mehr) in die Gruppe?", "Warum ging die private Beziehung zugrunde?" - Denn mit dem Show-Down im Job, geht meist jener des Privatlebens einher. Und so muß sich der isolierte Mensch, vor und zurück, zwischen Erinnerung und Zukunftsperspektive, zwischen Verfolgungswahn durch vermutete Fehlhandlungen und potentiellem Treffer, seine eigene kreative Existenz schaffen. Kreativ (= poetisch!), indem sein Geist permanent bastelt und noch immer glaubt, sei es an die (neue) Liebe oder an den erneuten beruflichen Aufstieg: als "Vogelmann" (herausragend gespielt von Philippe Hochmair) bzw. an die Idee "der leuchtenden Maus", wie es der Autor in diesem "Theatergedicht" so schön metaphorisch nennt. Diese Idee stirbt aber jedes Mal, denn es geht ein "verbrannter Mann" umher, der sie dem Hoffenden mit seiner schmierigen Asche austreibt.

Gezielte Anklage an den Staat


Dass all diese Hoffnungskiller letztendlich aus der Gehirnwäsche des Staates mit seiner Arbeitslosenpolitik - Stichwort "Umschulung" und "Einheitsprogramm für alle" - resultieren, ist eine bewußt gesetzte Attacke des Autors, da das alles zu nichts führt außer zur Auslöschung des Selbstvertrauens einst romantischer und strahlender Menschen bis hin zum Sandlertum. - Denn wer kann zur Gemeinschaft etwas beisteuern, wenn er gar nicht mehr existiert? Darauf lassen zumindest die Zitate der Arbeitslosen schließen: "Mir geht´s gut, seit ich weiß, dass ich nicht besonders viel kann und dass es dennoch reicht.", "Du warst nie besonders gut, du warst nur jung!" (e.o.)


DAS URTEIL MAKABER POETISCH, ZYNISCH REALISTISCH - DAS IST NICOLAS STEMANNS PERFEKT TREFFENDE, VIRTUOSE REGIE ZU ROLAND SCHIMMELPFENNIGS GEDICHT ÜBER DIE ARBEITSLOSIGKEIT. EIN WICHTIGES STÜCK, SO MODERN, DASS AUCH DIE JUGEND WIEDER IN DIE BURG KOMMT.

THEATER: Ende und Anfang * Autor: Roland Schimmelpfennig * Regie: Nicolas Stemann * Mit: Sebastian Rudolph, Markus Hering, Myriam Schröder, Sachiko Hara, Bibiana Zeller, Rudolf Melichar, Stefanie Dvorak, Philipp Hochmair, Hermann Scheidleder * Musik: Thomas Kürstner, Sebastian Vogel * Ort: Akademietheater Wien * Zeit: 09.+15.10.+8.11.: 19h; 16.11.+4.12.: 20h

Monday, October 02, 2006

KONZERT: KRISTJAN JÄRVI ALS SPRINGENDER GÖTTERFUNKE


Photo: Kristjan Järvi dirigiert Beethovens Freude schöner Götterfunken so dramatisch "brennend", als ob der Funke in ihm säße. (© Peter Rigaud)


TONKÜNSTLER ORCHESTER NIEDERÖSTERREICH DIRIGENT KRISTJAN JÄRVI MACHT AUS MAHLERS BEETHOVEN (9. SYMPHONIE) EIN ÖFFENTLICHES FEUERWERK UND HAT SEIN INTIMES BEI ARVO PÄRT

Mit wieviel Energie
vermag dieser junge Kerl nur sein über hundertköpfiges Heer an Musikern und das noch einmal so große Sängerensemble - den Slowakischen Philharmonischen Chor - anzustecken? Um wieviel mehr muß erst noch in ihm selbst stecken? - Kristjan Järvi war bei der Premiere von Mahlers Beethoven im Wiener Musikverein von bester physischer und mentaler Kondition. Wenn man bedenkt, dass er das an vier Tagen hinter einander durchhalten muß, dann alle Achtung.

Eigentliche Stärke im Stillen


Järvis Vision, sein Tonkünstler Orchester Niederösterreich zur neuzeitlich-klassischen "Rockband" zu verwandeln, scheint über ihm zu schweben wie ein Damoklesschwert. Es läßt ihn zuweilen so schnell werden, dass man allein beim Zuhören nach Luft schnappen muss. Kontrastreich, von ganz leise zu ganz plötzlichem, fast schon brutal orgiastischem, lautem Temperament liegt er dabei zwar immer auf Takt, es fehlt dem Ganzen aber manchmal an Rast. Dabei liegt Järvis tatsächliche Stärke in den leisen Passagen. Er dirigiert sie voll und kräftig, aber mit weicher Eleganz und ohne jede Traurigkeit. So wie es nur ein ganz junger, optimistischer Mensch tun kann, der noch an alle seine Träume glaubt.

Dementsprechend ergreifend dirigierte er das einleitende Stück, Arvo Pärts minimalistisches Cantus in memory of Benjamin Britten. Mit jedem Ton spürte man Järvis Identifikation mit der nordischen Musik dieses Komponisten, dem wie Järvi in den Westen emigrierten Esten. Das kurze, 1977/80 anläßlich des Todes des britischen Komponisten Britten entwickelte Werk, basiert auf der Anordnung eines Kanons und einem wiederkehrenden Glockenton in verschiedenen Geschwindigkeiten. Järvis Hommage des Sterbens und Auferstehens erklang ohne Sentimentaliät, aber mit einer reifen, archaisch-schönen Aura.

Freude als Manifest


Dass Järvi bei Beethovens Symphonie Nr.9 d-moll op. 125 zu jener Fassung griff, die von Gustav Mahler um 1900 neuzeitlich "verbessert" wurde, entspricht konsequenterweise seiner prinzipiellen Auffassung von heutiger Klassik. Was Mahler damals wider den meisten Kritikermeinungen, aber bei einem begeisterten Publikum tat, war, die Instrumentation von der Spärlichen Beethovens durch jene eines heutigen, großen Orchesters zu erweitern. Insbesondere durch Verdoppelungen von Bläsern durch Streicher und umgekehrt, bzw. durch Hinzunahme von Pikkoloflöte, Es-Klarinette, Basstuba (die schönsten Stellen!) und einer zweiten Pauke, während er die leisen Passagen reduzierte. Mit bewegtem Schalk und erzählerischer Kraft aus den Tiefen seines erlebenden Körpers führte der Dirigent seine Musiker und das Publikum durch diese musikalische Reise.

Doch das große Highlight kam am Ende: Freude schöner Götterfunken..., Schillers Ode An die Freude, erklang als gewaltige Parole durch getrennten Frauen- und Männerchor, deren Ausruf Järvi mit einem haarscharf genauen, finalen Freudensprung untermauerte. (e.o.)
mehr zu Kristjan Järvi erfahren Sie über www.intimacy-art.com/artists/talks/vision


DAS URTEIL KRISTJAN JÄRVI? - EIN DRAMATISCH, RASTLOSES TEMPERAMENT VON SPEKTAKULÄREM KÖRPEREINSATZ! SEINE EIGENTLICHE STÄRKE LIEGT ABER IN DEN STILLEN PASSAGEN, IN DIE ER SICH UND SEIN PUBLIKUM RUHIG NOCH MEHR HINEIN FALLEN LASSEN KÖNNTE.

KONZERT Mahlers Beethoven (9.Symphonie) mit Arvo Pärt * Dirigent: Kristjan Järvi * Mit: Tonkünstler Orchester Niederösterreich, Gabriele Fontana (Sopran), Barbara Hölzl (Alt), Arnold Bezuyen (Tenor), Reinhard Mayr (Bass), und dem Slowakischen Philharmonischen Chor unter Blanka Juhanáková * Ort: Festspielhaus St. Pölten * Zeit: 2.10.06, 19h30