Tuesday, August 02, 2016

impulstanz 2016 – Tagebuch 4: SIMON MAYER ZWISCHEN FOLKLORE-MODE UND -PROVOKATION IN „SONS OF SISSY“

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Das ist selten: Tänzer, die gleichsam Musiker sind. Am naturnahen Land ist das aber gar nicht so selten ...

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... der Tanz im Kreis bekräftigt den rituellen Charakter, der historisch und kontinental übergreifend ist.

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Erst als sich die Musiker-Tänzer ausziehen, treten die Tabubrüche zutage. Denn die Bühnenbilder waren live ja nicht – wie hier im Foto – oberhalb des Penis  abgeschnitten ... (Fotos © Rania Moslam)
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Wie doch das Nazi-Vorurteil die hohe Volkskunst verscheucht hat ...




20.7., gegen 20h25, im Wiener Odeon:




Anfangs haben sie noch etwas an.

Simon Mayers Sons of Sissy beginnt mit einem Ländler mit Jodel-Gesang. Da spielen zwei Geiger, Matteo Haitzmann und Mayer selbst, der Knopf-Akkordeonspieler, Patric Redl, sowie der Kontrabassist, Manuel Wagner. Letztere drei können außerdem auf Ausbildungsjahre in der Wiener Staatsopernballettschule hinweisen, Haitzmann studierte mit Volksmusikerfahrung Jazz- und Barock-Violine und Performance-Art, Redl elektronische Musik, der Volkstanz erprobte Mayer und Wagner sind multiinstrumentale Autodidakten.

Das zu erwähnen, scheint mir wichtig, da während der Aufführung nicht immer sicher ist, ob diese Künstler sich nun über die tradierte Volkskunst lustig machen oder sie respektiert wissen wollen. Insbesondere wenn sie sich beim Schuhplattler gegenseitig auf den Po klatschen, oder wenn sie im schönsten vierstimmigen Volkslied-Chorgesang brillieren. Wahrscheinlich führt diese Frage aber auch zu nichts, weil es sichtlich nur darum geht, die Vorurteile seitens internationaler Kunstbefürworter, sowie jene der Volkskunstvertreter von der jeweils anderen Seite aus zu betrachten. Nur das „Kostüm“ sorgt für Überschneidungen, und aus der jeweiligen Perspektive auch für Provokation.

Die musikalische Einführung fließt rasch ins stampf- und marschartige Volkstanz-Quartett über. Es dreht sich das ganze Stück über im kleinen und großen Kreis, sowie in Paar- und Viererdrehungen. Das tempelartige Odeon eignet sich für diese rituelle Bewegungsweise hervorragend. Die Aufführung hat etwas Klerikales, insbesondere wenn in einem der Rundgänge wallfahrt- bzw. messeartige Weihrauchgaben in der Luft verteilt werden. Drehrasseln, Kuhglocken, einfache Hörner, Peitschenknallen, Hecheln, Rufe und Schreie sind die direkten alpinen Zuschreibungen für den deutschsprachigen ländlichen Raum. Über Tanzschritte, wie gebeugt am Stand und im Kreis zu laufen, kommen jedoch Verwandtschaftsassoziationen zu afrikanischen Busch- und indianischen Kriegstänzen auf, über den rhythmischen Steppcharakter zum irischen Volkstanz, über Hand-Gesten zu ägyptisch überlieferten Bewegungen in Höhlenmalereien, und über die Drehungen von Haitzmann im wadenlangen Tellerrock zum spirituellen Tanz der Derwische (Sufi).


Die zeitgenössische Dimension wird endgültig erreicht, als sich die vier stolzen, kraftstrotzenden „Landburschen“ ihrer Kleider entledigen. Sie absolvieren ihren Dreh- und Sprungtanz also vollkommen nackt. Das ist der völlige Kontrapunkt zur Sittenhaftigkeit des „Ländlertums“. Es suggeriert den gewaltsamen Stolz- und Schutzentzug, insbesondere, wenn die Penisse der Burschen in unterschiedlicher Länge entgegen dem Takt nachhüpfen.  – Da fällt mir die Direktorin des Pariser Opernballetts (1995 bis 2014), Brigitte Lefèvre, ein, die mir gegenüber bezüglich „Nacktheit“ meinte: „Wenn es künstlerisch und ästhetisch nötig ist, warum nicht? Aber ich sehe das Geschlechtsteil der Männer nicht so gern, wenn sie tanzen. Es lenkt mich ab. Und falls ein Choreograf damit alte Damen wie mich schockieren will, gibt es provozierendere Kostüme.“  – Ich muss sagen, mich lenkt das auch ab, so weit, dass ich sogar über die unterschiedliche Länge in Bezug zum Körperbau nachzudenken beginne.


Selbst wenn ich die Nacktheit in diesem Fall akzeptieren will. Es zeigt ja diese vordergründig zugeknöpfte Gesellschaft ohne Knöpfe und damit ihre fragile Seele. Als sich die zwei ausgezogenen Tänzer, Mayer und Wagner, aber plötzlich auch mit ihren Händen und Blicken näherkommen, als würden sie sich lieben und begehren, ist das ein Tabubruch sondergleichen. "Diese Traditionalisten" gelten ja allgemein als Rechte und FPÖ-Wähler und damit als militant hetero. Und mit dem Klischee „Jörg Haider“ (gleich den weiteren aufrechten Nazis), dem man „romantischerweise“ den in Wahrheit „Schwulen“ anhängte, will man dieses Stück nun auch nicht unbedingt gleichsetzen. (Umso mehr verwundern die vielen homosexuellen Pärchen im Publikum, die andererseits genau wegen dieser Szene und der nackten Männer kommen mögen, sowie, weil sie sich bekanntlich als Community immer wieder neue Schichten für ihre Überzeugungsarbeit erschließen wollen.)


Ich denke daher, mit dieser Liebeserklärung ist eher eine bestimmte Form von Narzissmus gemeint: Da Mayer und Wagner mit ihrem Siebentagebart und gleicher Statur wie ein und derselbe Mann erscheinen, bedeutet dies wohl das Finden, Akzeptieren und Lieben des Landmannes in einem selbst, und zwar gegen alle Widerstände und trotz der eigenen akademischen Bildung.

Ich frage mich dennoch, ob diese Form der Tanz-Begegnung zweier komplett gegensätzlicher Richtungen mehr als eine Modeerscheinung sein kann? In kulturell eigenstaatlicher Hinsicht ihrer Länder betrieb die EU bisher die ausschließliche Nivellierung, wenn nicht die aktuell europaweite Gegenbewegung wäre. Laut Michael Stolhofer von ImPulsTanz hat die EU dieses Werk neben weiteren 11 Projekten (
„nur“!) von insgesamt 400(!) Einreichungen gefördert, wobei aber nicht sicher ist, ob das in diesem Fall wegen des folkloristischen oder wegen des auch für Blinde geeigneten Inhalts geschah.

Sons of Sissy hätte andererseits – parallel zur politischen Entwicklung mit mehr kulturspezifischer Staatensouveränität der einzelnen Mitgliedsstaaten – durchaus das Potential, den Anfang einer neuen Stilrichtung zu bilden. Denn der höchste künstlerische Moment liegt im Chorgesang der vier Multikünstler, sowie in den akustischen, die Sinne ansprechenden, archaischen Landimpressionen. Schafft es Mayer an diesen fragilen Spitzen aufzubauen – möglicherweise sogar auf Spitzen(!) – dann könnte da noch ganz Großartiges auf uns zukommen. e.o.



DAS URTEIL SIMON MAYER IST MIT SEINEN KÜNSTLERKOLLEGEN DAS BESTE BEISPIEL DAFÜR, DASS MAN HEUTE VOM LAND KOMMEN UND DENNOCH ETWAS VON HOHER KUNST VERSTEHEN KANN. (EINIGE ANSÄTZE VERSPRECHEN IN DIESEM STÜCK NOCH VIEL HÖHERES.) VOR 1938 WURDE DER KUNSTKENNER VOM LAND JA AUCH NIE INFRAGE GESTELLT. ERST DIE SICHT AUS VIELEN PERSPEKTIVEN ERÖFFNET DIE GANZHEITLICHE SICHT, SODASS VERBORGENES ZUTAGE TRITT, UND TABUS RELATIVIERT WERDEN KÖNNEN.

TANZ & MUSIK Sons of Sissy * Idee, Choreografie, Performance, Musik: Simon Mayer * Performance & Musik: Matteo Haitzmann, Patric Redl, Manuel Wagner * Klangkörper & Spezialinstrumente: Hans Tschiritsch * Bühne & Kostüm: Andrea Simeon * Künstlerische Beratung: Frans Poelstra * Sehbehindertenfassung, Text: Valerie Castan * Ort: Odeon Wien * Zeit: 20.7., 19h; 21.7.: 19h30; Sehbehindertenfassung, 22.7., 19h30

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