Man glaubt längst, die komische persönliche Sache hinter dem Dilettantismus in Product of Other Circumstances von Xavier Le Roy (Foto © Vincent Cavaro) erfaßt zu haben ...
... da konfrontiert er einen nach 1h50min mit einer beglückend-genialen Überraschung. Und umso größer wird seine kritische Aussage. (Foto © Luc Fleminck)
KASINO AM SCHWARZENBERGPLATZ - IMPULSTANZ WIE LANGE XAVIER LE ROY DEN DILETTANTEN SPIELT, LIEGT WENIGER AM BUTOH-LERNEN ALS AN DEN UMSTÄNDEN DIESER WIRTSCHAFT:
PRODUCT OF OTHER CIRCUMSTANCES STEHT DAFÜR.
Es ist 20h50 - nach einer Stunde und fünfzig Minuten Aufführung und nicht ganz fünf Minuten vor dem Ende -, als Xavier Le Roy ein kleines, etwa fünfminütiges Tanzstück von höchster Magie und Kunst, zwischen zeitgenössischem Gliedertanz und konzentrieter Butoh-Meditation hinlegt. Innerhalb eines Abends, den er selbst "Amateurstück" nennt und dem er den Titel Product of Other Circumstances gegeben hat. Eine Art von koketter "Entschuldigung", weil er anscheinend etwas versucht hätte, das ihm nicht gelungen sei, aber nicht, weil er es nicht schaffte, sondern weil er es nicht schaffen wollte. Nämlich in zwei Stunden den fernöstlichen Tanz Butoh zu erlernen. (In Wahrheit hatte er dafür vier Monate Zeit, davon aber wieder nur seine karge Freizeit während seiner Touren und der einzigen Woche Urlaub im Jahr). Kollege Boris Charmatz hatte Le Roy an dessen beiläufige Behauptung, "um Butoh-Tänzer zu werden, brauche ich zwei Stunden" erinnert(, auch wenn sich Le Roy selbst nicht wirklich daran erinnern konnte), und wollte nun binnen kürzester Zeit einen Beweis von dem Berlin-Franzosen haben, nachdem Charmatz eine Schwerpunktveranstaltung kuratierte. (Ein Le Roy macht sich ja immer gut bei einem Festival, besonders, wenn man ihn überführen kann ... was man ihn dann aber nicht kann.)
Ein Dilettant macht sich lustig
In seinen Tanzeinlagen dilettiert Le Roy, oder besser, mockiert er sich also die ganze Aufführung über den asiatischen Tanz (manchmal mehr, manchmal weniger lustig), während er quasi seinen ganzen Annäherungsprozeß während der Erarbeitungszeit rekapituliert - das hat etwas von einer Lehrstunde mit Google-Such-Videobeispielen und Erklärungen, worin Le Roy seine persönliche Beziehung zu Butoh herauspickt. Und die basiert hauptsächlich auf der seit Jahren sporadisch wiederkehrenden Anspielung von Besuchern Le Roys, die ihm eine Butoh-Nähe zuschreiben, obwohl er selbst damit überhaupt nichts verbinden kann (und will. Weil die Zuschreibungen auf oberflächlichen Vergleichen beruhen). Nur weil er einmal "nackt" auftrat und "langsame Bewegungen" machte, und ein anderes Mal "Konzentrationsmomente im angestrengten Gesicht" hatte, ist das noch lange kein Butoh. Und auch nicht, weil sich sein Konzepttanz gegenüber der westlichen Geschichte wie der Butoh in Asien von der eigenen Tanztradition verabschieden und dennoch eine klar erkennbare (geografische und persönlichkeitsbezogene) Herkunft tragen will.
Der Dilettant entpuppt sich als Genie
Bis zur besagten 20h50-Minute hat der Zuseher überhaupt das Gefühl, der Hauptpunkt, der Le Roy an dem Tanz widerstrebt, ist die emotionale Komponente: sprich die Expression von inneren, echten Gefühlen und von fantastischen Vorstellungen. Le Roy scheint es aber auch nicht wirklich zu schaffen, in den inneren geistigen Zustand von Tiefe zu gelangen, durch den der Tanz erst seine Kraft bekommt. Für manchen Geschmack, wie den des Choreographen, mag das auch einfach zu theatralisch sein. Le Roy will intellektuell sein, und auf sehr intime, ironisch-persönliche Weise "sachlich" am Thema seines Stücks. Deshalb kann er sich in seinen Tanzpersiflagen bekannter Stücke seiner Erinnerung - röchelnd, grimassenziehend und körperlich verkrampfend - auch nur lustig machen.
Und doch, in jenem besagten Stück kurz vor dem Ende, gelangt er dann in die tiefe Butoh-Konzentration, während sich seine Hand und sein Fuß in exakter Linie entgegengesetzter Richtung vom Körper entfernen. Ein überraschender Moment, bei dem einem der Atem still steht, weil man erkennt, dass Xavier Le Roy den Zuschauer während der ganzen Zeit über an der Nase herum geführt hat. Denn er hätte es geschafft: in zwei Stunden (bzw. binnen kürzester Zeit) "sein" Butoh zu lernen. - Warum er dann aber doch ein langes "Assoziationsstück" daraus gemacht hat, erklärt er zusammengefaßt folgendermaßen: "Bei dem Kurzstück hätten die Leute gefragt, ob das nun Butoh oder doch etwas anderes gewesen sei, und das wäre mir zu wenig kritisch gewesen." Außerdem hätte er für so eine Aufführungsdauer auch zu gut bezahlt bekommen, denn er müßte für seine Subventionswürdigkeit genau 28 Euro pro Stunde verdienen (wobei er natürlich viel länger für die Erarbeitung experimentiert hatte, sodass er ohnehin unterbezahlt gewesen wäre bzw. ist).
Die Kritik hinter dem Dilettantimus
Die während der ganzen Aufführung punktweise, eingestreute Kritik ist es denn auch, die Xavier Le Roy dem Zuseher so nahe gehen läßt. Denn hier erfährt man, dass es einem freischaffenden Tänzer auch nicht anders geht, als anderen freidenkenden (und produzierenden) Menschen in dieser Wirtschaftswelt. So möchte er sofort Widerstand leisten, wenn er etwas schnell und billig produzieren soll, "weil es in der Gesellschaft immer so ist, dass etwas schnell und billig zu produzieren ist. Dabei sollte doch einfach professionelle Arbeit bezahlt werden." Auch wollte er nicht einen Kursus ablegen, um dieses Aufführungsziel zu schaffen, weil er "kein Master-Student sein will" - er entwickelt seinen persönlichen Zugang und Stil. Interessant ist auch, was ihm an Butoh einigermaßen gefällt: "Der kritisch entwickelte, eigenständige Aspekt. Sowie, dass ein Mann bis 85 noch wie ein junges Mädchen tanzen kann."
Ein neuer Input für die Kultur-/Wirtschaft
Am Ende beteuerte er, wie viel Freude ihm dieses Vortragswerk bereitet habe, weil es mit viel Freiheit in seiner Freizeit entstanden sei.
Ich ergänze diesen Satz als freischaffende Journalistin und Vereinsleiterin vom Kulturberichterstattungsmedium intimacy: art (im Internet): "Mir verschafft das kritische Schreiben in der Freizeit vor allem Erleichterung. Denn nirgends sonst kann man genau das schreiben, was man wirklich empfindet. Das - also die Wahrheit - ist es aber, was man der Welt wirklich mitteilen will. Und dass das als professionelles Vorhaben unternommen wird, ist der eigentliche Reiz daran (es ist keinesfalls ein Hobby der Freizeit). - Le Roy wird mit dieser Aussage zum Held des heurigen impulstanz-Festivals, indem er die Utopie einer für die freie Masse geöffneten Wirtschaftszukunft vor Augen hält, wie sie schöner, persönlicher, vielfältiger und kreativer nicht sein könnte. Das unpersönliche "Format" (Kunst-, Medien-, Wirtschaftsprodukt-Marken für die Masse), sollte in jeder Hinsicht eingedämmt werden, da es die Allgemeinheit verdummt. e.o.
PRODUCT OF OTHER CIRCUMSTANCES STEHT DAFÜR.
Es ist 20h50 - nach einer Stunde und fünfzig Minuten Aufführung und nicht ganz fünf Minuten vor dem Ende -, als Xavier Le Roy ein kleines, etwa fünfminütiges Tanzstück von höchster Magie und Kunst, zwischen zeitgenössischem Gliedertanz und konzentrieter Butoh-Meditation hinlegt. Innerhalb eines Abends, den er selbst "Amateurstück" nennt und dem er den Titel Product of Other Circumstances gegeben hat. Eine Art von koketter "Entschuldigung", weil er anscheinend etwas versucht hätte, das ihm nicht gelungen sei, aber nicht, weil er es nicht schaffte, sondern weil er es nicht schaffen wollte. Nämlich in zwei Stunden den fernöstlichen Tanz Butoh zu erlernen. (In Wahrheit hatte er dafür vier Monate Zeit, davon aber wieder nur seine karge Freizeit während seiner Touren und der einzigen Woche Urlaub im Jahr). Kollege Boris Charmatz hatte Le Roy an dessen beiläufige Behauptung, "um Butoh-Tänzer zu werden, brauche ich zwei Stunden" erinnert(, auch wenn sich Le Roy selbst nicht wirklich daran erinnern konnte), und wollte nun binnen kürzester Zeit einen Beweis von dem Berlin-Franzosen haben, nachdem Charmatz eine Schwerpunktveranstaltung kuratierte. (Ein Le Roy macht sich ja immer gut bei einem Festival, besonders, wenn man ihn überführen kann ... was man ihn dann aber nicht kann.)
Ein Dilettant macht sich lustig
In seinen Tanzeinlagen dilettiert Le Roy, oder besser, mockiert er sich also die ganze Aufführung über den asiatischen Tanz (manchmal mehr, manchmal weniger lustig), während er quasi seinen ganzen Annäherungsprozeß während der Erarbeitungszeit rekapituliert - das hat etwas von einer Lehrstunde mit Google-Such-Videobeispielen und Erklärungen, worin Le Roy seine persönliche Beziehung zu Butoh herauspickt. Und die basiert hauptsächlich auf der seit Jahren sporadisch wiederkehrenden Anspielung von Besuchern Le Roys, die ihm eine Butoh-Nähe zuschreiben, obwohl er selbst damit überhaupt nichts verbinden kann (und will. Weil die Zuschreibungen auf oberflächlichen Vergleichen beruhen). Nur weil er einmal "nackt" auftrat und "langsame Bewegungen" machte, und ein anderes Mal "Konzentrationsmomente im angestrengten Gesicht" hatte, ist das noch lange kein Butoh. Und auch nicht, weil sich sein Konzepttanz gegenüber der westlichen Geschichte wie der Butoh in Asien von der eigenen Tanztradition verabschieden und dennoch eine klar erkennbare (geografische und persönlichkeitsbezogene) Herkunft tragen will.
Der Dilettant entpuppt sich als Genie
Bis zur besagten 20h50-Minute hat der Zuseher überhaupt das Gefühl, der Hauptpunkt, der Le Roy an dem Tanz widerstrebt, ist die emotionale Komponente: sprich die Expression von inneren, echten Gefühlen und von fantastischen Vorstellungen. Le Roy scheint es aber auch nicht wirklich zu schaffen, in den inneren geistigen Zustand von Tiefe zu gelangen, durch den der Tanz erst seine Kraft bekommt. Für manchen Geschmack, wie den des Choreographen, mag das auch einfach zu theatralisch sein. Le Roy will intellektuell sein, und auf sehr intime, ironisch-persönliche Weise "sachlich" am Thema seines Stücks. Deshalb kann er sich in seinen Tanzpersiflagen bekannter Stücke seiner Erinnerung - röchelnd, grimassenziehend und körperlich verkrampfend - auch nur lustig machen.
Und doch, in jenem besagten Stück kurz vor dem Ende, gelangt er dann in die tiefe Butoh-Konzentration, während sich seine Hand und sein Fuß in exakter Linie entgegengesetzter Richtung vom Körper entfernen. Ein überraschender Moment, bei dem einem der Atem still steht, weil man erkennt, dass Xavier Le Roy den Zuschauer während der ganzen Zeit über an der Nase herum geführt hat. Denn er hätte es geschafft: in zwei Stunden (bzw. binnen kürzester Zeit) "sein" Butoh zu lernen. - Warum er dann aber doch ein langes "Assoziationsstück" daraus gemacht hat, erklärt er zusammengefaßt folgendermaßen: "Bei dem Kurzstück hätten die Leute gefragt, ob das nun Butoh oder doch etwas anderes gewesen sei, und das wäre mir zu wenig kritisch gewesen." Außerdem hätte er für so eine Aufführungsdauer auch zu gut bezahlt bekommen, denn er müßte für seine Subventionswürdigkeit genau 28 Euro pro Stunde verdienen (wobei er natürlich viel länger für die Erarbeitung experimentiert hatte, sodass er ohnehin unterbezahlt gewesen wäre bzw. ist).
Die Kritik hinter dem Dilettantimus
Die während der ganzen Aufführung punktweise, eingestreute Kritik ist es denn auch, die Xavier Le Roy dem Zuseher so nahe gehen läßt. Denn hier erfährt man, dass es einem freischaffenden Tänzer auch nicht anders geht, als anderen freidenkenden (und produzierenden) Menschen in dieser Wirtschaftswelt. So möchte er sofort Widerstand leisten, wenn er etwas schnell und billig produzieren soll, "weil es in der Gesellschaft immer so ist, dass etwas schnell und billig zu produzieren ist. Dabei sollte doch einfach professionelle Arbeit bezahlt werden." Auch wollte er nicht einen Kursus ablegen, um dieses Aufführungsziel zu schaffen, weil er "kein Master-Student sein will" - er entwickelt seinen persönlichen Zugang und Stil. Interessant ist auch, was ihm an Butoh einigermaßen gefällt: "Der kritisch entwickelte, eigenständige Aspekt. Sowie, dass ein Mann bis 85 noch wie ein junges Mädchen tanzen kann."
Ein neuer Input für die Kultur-/Wirtschaft
Am Ende beteuerte er, wie viel Freude ihm dieses Vortragswerk bereitet habe, weil es mit viel Freiheit in seiner Freizeit entstanden sei.
Ich ergänze diesen Satz als freischaffende Journalistin und Vereinsleiterin vom Kulturberichterstattungsmedium intimacy: art (im Internet): "Mir verschafft das kritische Schreiben in der Freizeit vor allem Erleichterung. Denn nirgends sonst kann man genau das schreiben, was man wirklich empfindet. Das - also die Wahrheit - ist es aber, was man der Welt wirklich mitteilen will. Und dass das als professionelles Vorhaben unternommen wird, ist der eigentliche Reiz daran (es ist keinesfalls ein Hobby der Freizeit). - Le Roy wird mit dieser Aussage zum Held des heurigen impulstanz-Festivals, indem er die Utopie einer für die freie Masse geöffneten Wirtschaftszukunft vor Augen hält, wie sie schöner, persönlicher, vielfältiger und kreativer nicht sein könnte. Das unpersönliche "Format" (Kunst-, Medien-, Wirtschaftsprodukt-Marken für die Masse), sollte in jeder Hinsicht eingedämmt werden, da es die Allgemeinheit verdummt. e.o.
DAS URTEIL XAVIER LE ROY GEHT EINEM KREATIVEN DENKER SO NAHE, WEIL ER ÖFFENTLICH SAGT, WORAN VIELE LEIDEN. UND OBENDREIN TANZT ER FÜNF MINUTEN SO ATEMBERAUBEND, DASS MAN AUS DER VERBLÜFFUNG GAR NICHT MEHR RAUSKOMMT.
PERFORMANCE Product of Other Circumstances * Von und mit: Xavier Le Roy* Ort: Kasino am Schwarzenbergplatz * Zeit: 10.-12.8.2010
PERFORMANCE Product of Other Circumstances * Von und mit: Xavier Le Roy* Ort: Kasino am Schwarzenbergplatz * Zeit: 10.-12.8.2010
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