Monday, August 11, 2008

TANZ: WIM VANDEKEYBUS´ SORGE UM DIE GESELLSCHAFT IN "MENSKE"

Die visuelle Impressionsdramatik vom schwierigen Leben des Einzelnen in einer Welt ohne Gemeinschaftswerte ...

... sowie die expressionistische Spannung der Bewegung (Fotos © Martin Firket) ...

... wird leider durch die Musik des belgischen Popdandys Daan entschärft ...

... und verflacht nach einem Stilbruch noch mehr im Irrenhaus, wo alle Masken tragen - selbst wenn die Bilder bis zuletzt bestechen (Fotos © Pieter-Jan De Pue).


MUSEUMSQUARTIER - IMPULSTANZ OHNE GEMEINSCHAFTSWERTE IST DAS LEBEN SCHWER - UND DENNOCH GIBT ES IN DIESER WELT DERZEIT KEINEN ANDEREN AUSWEG ALS LEBENSMODELL: DAS HAT WIM VANDEKEYBUS IN MENSKE TREFFEND ERSPÜRT UND ILLUSIONSREICH UMGESETZT

Wim Vandekeybus Sensorium für das aktuelle Gesellschaftsproblem der Zeit verschaffte dem diesjährigen ImPulsTanz-Festival den brisantesten Inhalt aller Vorstellungen. - In "journalistischer" Kategorie bekommt der belgische "Instinktchoreograf" dafür also die glatte Eins. Das ist überdies bemerkenswert, da sich seine weltberühmte Intuition letztes Jahr in Spiegel noch - wie gewohnt - im unmittelbaren Körperausdruck äußerte, während sie heuer auf dem Wege seiner Wahrnehmung der Körperumgebung am Zahn der Zeit bohrt: an den Teilkulturen, die im globalen Zeitalter nach der Massengesellschaft nicht nur unaufhaltsam sind; sie beinhalten zugleich den (un)freiwilligen Druck auf den einzelnen Menschen, seine individuellen Werte, seine eigene Sicht auf die Welt, sein Ego in der Gemeinschaft entwickeln und durchsetzen zu müssen. Das ist einer der schwersten Umbrüche, denen sich die Welt je zu stellen hatte. Und wie schwer es dem Menschen fällt, sich darin zu realisieren, das sieht man in Menske in aller Schärfe.

Gedämpfte Spannung durch Popmusik

Doch leider dämpft Vandekeybus diese Inhaltsschärfe durch stilistische Puffer, sodass für den Zuschauer weder der Kick im Faszinosum einer grenzenlosen Überraschung eintritt, noch dass ihm das Thema als lebenswichtig unter die Haut fährt. Hier, in der utopischen Weltuntergangsstadt, voll von Säcken mit verstautem (Traditions-)Mist, wo sich gleichzeitig über verschlußbereite Elektronikkabel ein Neu-Aufbruch abzeichnet, haben die Bewohner ihre gemeinsamen Werte und den Zusammenhalt verloren. Es steht keiner mehr als starker, gleicher Mensch da, sondern nur als unsicheres, kleines "Menske". Und obwohl all diese "Menschlein" weder verkümmert leise, bescheiden, noch verschwindend agieren, sie sogar regelrecht obsessiv mit gezückten Messern um ihr "Überleben" kämpfen; obwohl jeder für sich seine kulturelle, charakterliche, interessensbezogene, sture Eigenart militant und ausdrucksstark gegen den anderen zu verteidigen müssen glaubt, hängen die steigerungsarme Dramaturgie und die Musik des belgischen Pop-Dandys Daan am Erzählverlauf wie steinschwerer Ballast. Zu einer gesteigerten Spannung kommt es zunächst noch durch - für Tanz ungewöhnlichen - Pop-Elektroniksound mit Klavier, Fingerschnipsen, sporadischem Gitarrenhardrock - oder auch nur -tscheppern - doch findet dieser Klang letztendlich keinen exzessiven Höhepunkt. Er flacht viel mehr im "Refrain" als kommerziell-verkitschte Breitmelodie ab, und zwar ausgerechnet dann, wenn die Emotion aufbrechen sollte. Derartige "Happy-Nummern" bremsen leider mehrmals das Stück, sodass es im Endeffekt auch die inhaltliche Aussage über des Menschen Unsicherheitsempfinden entkräftet. Könnte aber auch sein, dass Vandekeybus damit genau das Gegenteil von "kommerziell" beabsichtigt hat, um wiederum dem dramatisch zugespitzten Verlauf eines "Musicals" oder Kommerzfilms auszuweichen: denn an einer windumwehten Akrobatikstelle ähnlich der Bugszene im DiCaprio-Titanic-Film fällt sinngemäß inmitten der Geschichte der Regiesatz: "Das ist für eine Tanzkunst-Inszenierung vielleicht doch etwas zu viel ..."

Verwirrung in Sex und Liebe bei aufgedrängten (Berufs-)rollen

Dem Company-Namen Ultima Vez (= (Tanz, wie) das letzte Mal) glaubwürdig gerecht werden dafür die - das gibt´s selten in Tanzaufführungen - sprechsicheren Schauspieler sowie die sprech- und bewegungssicheren Tänzer (Stimmcoach: Angélique Wilkie) in illusionsstarken, dramatisch beleuchteten Bildern - vier starke, nicht unbedingt Tänzer-Persönlichkeiten sind erstmals mit dabei. Den dramaturgisch bindenden Faden spannt bei all den episodenhaft auftretenden Einzeläußerungen die wiederkehrend erzählte Liebeserinnerung des spanisch-akzent-sprechenden "Pablo" an einen verflossenen Italiener, der anfangs ganz in "Weiß" inmitten von dichtem Nebel zu sehen ist. - Das Ende der Liebe scheint somit symbolhaft für den Beginn allen Kontrollverlusts zu stehen. Doch über seine sehnsuchtsvolle "Abrechnung" gelangt Pablo zu einer spirtuellen und nach außen hin aufmerksameren Wahrnehmung, sodass er (von sich selbst) von anderen findet: "Ich liebe die umher irrenden Menschen..." Er ist selbst "lieber allein" und bittet seinen Geliebten im geistigen, rückversetzten Zwiegespräch, "uns nicht unzertrennlich zu machen".
Den zweiten prinzipiellen "Halt" im Leben brüllt sich eine punkstarke Domina in Bergsteigergurten aus dem Leib: "Ich steh nur aufs Ficken; und will das so, wie es immer war! Große Schwänze sind das einzige, was zählt im Leben!"
- Liebe und Sex scheitern allerdings an den unsicheren "neuen" Rollenbildern von militanten Frauen bis zu verkappten Westernhelden von heute. Und das Gefühl des Lebensglücks generell daran, was jemand hinsichtlich Berufs konstatiert: "Wir müssen alle Rollen spielen! Wir müssen uns alle anbieten!"

Hassliebe oder Zerrissenheit der Geschlechter steckt deshalb auch in der Bewegung; und ist sie kein Kampf mit dem anderen - eines Paares oder der Gruppe -, dann zumindest ein Kampf mit sich selbst: Akrobatische Luft-, Seil- bis Bodenübungen suchen vergeblich und verzweifelt nach Bodenhaftung. Aufgespannte Stromkabel-Netze garnen kurzfristig und hoffnungsvoll die Einzelkämpfer ein. Ein expressives Männertrio löst ein ebensolches Frauentrio ab, eine verführerische Frau tanzt abwechselnd (als gleich bedeutend) mit einem Müllsack und einem Anzugträger. Der Western-Macho wird angesprungen und wieder abgestoßen.

Vom Stilbruch ins Irrenhaus

Und all dieser "Menschenmüll" landet mit plötzlichem Stilbruch in einem riesengroß abgebildeten Korridor einer Irrenanstalt - wenn auch in einer im Ablauf zu lang geratenen Szene -, wo zuerst dem Macho seine Cowboykluft ausgezogen, und er alsdann in seiner "Rolle" verlacht wird - ausgerechnet von lauter "anonymen" Menschen in grotesken Masken. Die Devise der Therapie lautet: "Es ist Zeit zu rasten!" Selbst für lustige Hypochonder, wie den entmannten Cowboy (Franzose Valéry Volf), dem ständig "Gewülste" wachsen, die die Krankenschwester "als von ihm selbst reingestopfte Polster" entfernt. - Bei ihm mögen die Krankheiten (Probleme) Einbildung sein, der Rest jedoch wird sich wohl oder übel dem Neuaufbau von sich selbst - oder auch einer Stadt - stellen müssen ... e.o./p.p.s.


DAS URTEIL MENSKE IST BESSER ALS DAS MEISTE BEI IMPULSTANZ, ABER NICHT DAS BESTE VON WIM VANDEKEYBUS - DER NÖTIGE EXZESS ERSCHEINT DURCH DAAN´S POP LEIDER FLACHGEDRÜCKT.

TANZ Menske * Regie, Choreographie, Szenographie: Wim Vandekeybus * Von und mit: Laura Arís, Max Cuccaro, Konstantina Efthimiadou, Elena Fokina, Birgit Gunzl, Jorge Jauregui Allue, Manuel Ronda, Helder Seabra, Valéry Volf, Kylie Walters * Musik: Daan * Stimmcoach: Angélique Wilkie * Texte: Ultima Vez * Licht: Alban Rouge, Wim Vandekeybus, Francis Gahide * Ort: Museumsquartier / Halle E * Zeit: 21.+23.7.2008

1 comment:

Anonymous said...

I have seen this performance as well. I found it way too aggressive and in the same way too ordinary for a metropolis topic.

If you are interested you can listen to my interviews which I made during the imPULStanz with Angelique Wilkie, Joe Alegado, Anthony Rizzy, etc.
Visit at http://www.ar2com.de/radiofavela-blog/category/impulstanz/

Don t space your moves but move in space.