Sunday, January 20, 2008

MUSIK: JÄRVI UND ANGELICH BESEELEN IHRE "RUSSISCHE SEELE"

Heiss ersehnt, zeigte der temperamentvolle Klassikrocker-Dirigent Kristjan Järvi (Foto © Peter Rigaud) seine für wahre Größe stehende, bescheidene, einfühlsame Seite: Indem er sehr passend ...

... bei Rachmaninow dem amerikanischen Pianisten Nicholas Angelich (Foto © Stéphane de Bourgies) die insgeheime Führung überliess und "nur" mit den Tonkünstlern begleitete.


MUSIKVEREIN WIEN ZWISCHEN DIS-HARMONIE ZEIGT SICH DER HEISS ERSEHNTE KRISTJAN JÄRVI IN RUSSISCHE SEELE IN BESTFORM UND GLEICHZEITIG FEINFÜHLIG-BESCHEIDEN BEI RACHMANINOW

Kristjan Järvi is back. - Nach mehreren kurzfristigen Absagen und nicht immer adäquatem Ersatz, steht Kristjan Järvi, Chefdirigent des Tonkünstler Orchester Niederösterreich, tatsächlich leibhaftig wieder am Pult des Wiener Musikvereins. Man könnte das gezielte Hörigkeitsmanipulation des Publikums nennen. Denn sehnsüchtiger erwartet, als dieses Mal, als Russische Seele am Programm steht und nach einigen "doch-nicht-mit-Järvis", wurde der 35-jährige Este aus New York nie. Und das, obwohl er doch schon fünf Jahre den Tonkünstlern vor- und bereits sein Nachfolger feststeht: Kolumbianer Andrés Orozco-Estrada, der Österreichs Kritikern angeblich während eines Järvi-Einsprungs aufgefallen ist, wird den "rockigen" Charismatiker ab Saison 2009/10 ablösen. Und Orozco-Estrada soll wie Järvi den Spagat zwischen Moderne und Klassik pflegen.

Möglichst große atonale Grenzen innerhalb der Harmonie

Moderne und Klassik, Tonalität und Atonalität - wo da nun die absolute Grenze ist, sprich, wo gerade noch so viel Tonalität sein kann, damit die Musik auf Anhieb nachvollziehbar und angenehm klingt, und dennoch intelligent und besinnlich erscheint, das beschäftigte mehr oder weniger alle drei Komponisten, die an diesem Abend im Dezember 2007 gegeben werden. Wahrscheinlich ist das überhaupt die entscheidende Frage neuer Musikschaffender seit Beginn des 20. Jahrhunderts, insofern sie sich nicht von vornherein dafür entscheiden, mit ausschließlich abstrakten Intellekt-, Mathematik-, Geräuschtönen nur eine kleine Insidergemeinschaft erreichen zu wollen. Fest steht aber auch dann: je abstrakter, desto wichtiger die Interpretationskompetenz von Dirigent und Musikern. Und dann schafft es "so ein Werk" vielleicht sogar, ein breites Publikum anzusprechen.

2x Järvi-Rhythmik und -Theatralität

Järvi jedenfalls, war bei John Adams´ einleitender "Abstraktion" Slonimsky´s Earbox aus dem Jahr 1996 mit jener Präsenz und Agitiationskraft am Werk, wie man es von ihm gewohnt ist: bei einer Hommage auf den Harmonik-Lehre-Ausreizer Nicolas Slonimsky, Ex-Russe und ab 1923 in den USA Lebender, worin Adams bezüglich dessen Theorie zu "seiner" Erkenntnis erklärt: "als fundamentales Primat für die äußerste Harmoniegrenze, die Tonalität nicht antasten zu dürfen." - Das ist in erweitertem Sinn auch zu hören. Es hört sich so an, als dass sich ein anfangs gewaltiges akustisches Orchester-Durcheinander in einem lautmalerisch feinen Gewebe einzelner Instrumente auflösen muss, so, dass sich ein intrumentengruppen-clusterhaftes Übereinander um ein solistisches Klavier und ein vielbeschäftigtes Schlagwerk legt. Das ist spannend wie ein(e) interessante/r Film(musik), minimalistisch-typisch rhythmisch, mit stillem, weitem Ausholen langgezogener Töne vor einem Xylophon-besprungenen Ausklang mit plötzlichem Schluß.

Strawinsky´s - in diesem Sinne - durchgehend tonale Petruschka aus dem Jahr 1946/47 ist eine tanztheatrale Komposition über eine mit Volks- und Jahrmarktsweisen narrativ-beschriebene Kasperl-Gliederpuppe, die wehmütig und tolpatschig eine kühl-grazile Ballerina liebt und sich gegen den polternden Rivalen "Mohr" zu behaupten versucht. Järvi setzt seine ganze eigene (Schau)spielfreude ein, zu der er wie kein anderer Dirigent fähig ist. Zwischen kraftvoller Dynamik und ungemeiner Lust, strahlt ein Klang von unheimlicher Scheinheiligkeit durch. All das, was in der Komposition vielschichtig und doppelbödig angelegt ist, bliebe versteckt, würden es die Interpreten nicht erlebend miterleben. Das geschieht hier in dem Ausmaße, dass die melancholisch-groteske Klobigkeit der Töne, die doch so zum Lachen reizen, in der Endpointe selbst Järvi zum Lachen bringen: Fröhlichkeit ziert sein Gesicht. - Und jenes vieler seiner Musiker. Froh ist damit auch das Publikum.

Fremdes Rachmaninow-Erlebnis mit Kick

Zum Staunen und Mitfiebern ist danach aber der Höhepunkt, das letzte Werk: Sergej Rachmaninows Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 d-moll op. 30. Erstens, weil man Järvi so noch nie erlebte. Zweitens, weil da ein genialer Pianist als Solist brilliert, der alle Stückerln der emotionalen Gefühls-Irr-Welten wiederzugeben weiß, und das, obwohl es bei diesem Werk kein episches Thema gibt: Hier steht die Musik für nichts als Musik. - Und "Moll" ist simpel gesagt, auf jeden (Ton)fall immer - ergreifend schön. - Was 1909 als "neue Ästhetik im Romantischen" gefeiert wurde, gilt insofern auch heute(!) Auf die temperamentvolle Kontrasthärte der beiden ersten Werke, erklingt zunächst ein durchgehender, sinnlicher Fluß an ineinander changierenden Tönen. Amerikaner Nicholas Angelich (geb. 1970) durchlebt seine Klaviermelancholie mit Händen, Fingern, Armen und Körper auswendig, ohne vom Blatt zu spielen; Järvi begleitet und führt das Orchester einfühlend und unaufdringlich, selbst wenn das Werk in abschweifende Vergeistigung abtriftet. Er beläßt souverän alle dramatische Führung dem Pianisten, sodass das Publikum sich völlig in die Musik fallen lassen kann. Järvi wirkt in diesem Moment um Jahre reifer und erwachsener, erfüllt von Musik der absoluten Schönheit, wo sich in der Mitte auftretende Aggressivität in verfremdeten, kurzen Walzerklängen beruhigt, vor einem abrupt aufbäumenden Finale mit hartem Klavierbearbeiter, der sich nun an der realistischen Materie orientiert, wenn er sich mit der Querflöte im Duo vereint. Genial! e.o.


DAS URTEIL ENDLICH GESTILLTE SEHNSUCHT NACH KRISTJAN JÄRVI, UND MIT DEM GEFÜHLSJONGLEUR NICHOLAS ANGELICH AM RACHMANINOW-KLAVIER GLEICHZEITIG EIN ANS HERZ GEHENDER SEITENSPRUNG VON UND MIT BEIDEN.


Nächste Järvi-Konzerte
KONZERT Jazzland* Mit: Kristjan Järvi (Dirigat), James Morrison (Trompete), Tonkünstler Orchester Niederösterreich * Ort: Musikverein Wien * Zeit: 9.4.2008: 20h30

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