REIGEN WIEN AM 3. JUNI 2015 IST ES WIEDER SO WEIT: DER US-SINGER-SONGWRITER, BLUES- UND JAZZ-PIANIST JON REGEN GASTIERT MIT TRIO IN ÖSTERREICH. ENDE APRIL ERSCHEINT SEINE NEUE CD STOP TIME. ES IST EINE TIEFGRÜNDIGE ABHANDLUNG ÜBER DEN STATUS QUO SEINES LEBENS, SEINER LIEBE UND EINE MUSIKALISCHE LOSSAGUNG VON JEDER KOMMERZIELLEN ANBIEDERUNG.
Einen langjährigen Fan werden die ersten drei Nummern seiner neuen CD Stop Time kaum überraschen: obschon das drei melodisch meisterlich gemachte Blues-Kompositionen sind, wie man sie von dem geschmackvollen Singer-Songwriter Jon Regen kennt. Das erste Lied I Will Wait besticht allerdings durch textlich außergewöhnliche Raffinesse. Es eröffnet, um was es in den zehn Nummern gehen wird: um Jon Regens Liebe zu seiner zweiten Frau Kristin, die er letzten Frühsommer geheiratet hat, sowie seine damit einhergehende Selbstfindung als ein in der Lebensmitte stehender Mann. Und bei all dem Glück, das man dem lange „Flirtenden“ für die Paar-Entscheidung wünscht, echt spannend wird man seine existenziellen Erkenntnisse aus Lebenserfahrung finden: weil sie ihn auch kompositorisch zu Neuem führen.
Produzent Mitchell Froom hatte für die neue CD die Idee, der Intimität von Regens Liedern ein ebensolches Setting zu verschaffen. Dadurch wurde sie selbstbewusster als jede andere zuvor, wo mehr Instrumentalisten und weniger Experimente mitspielten. Die ganz nah ins Mikrofon singende Stimme Regens und sein Klavierspiel werden nur von zwei Koryphäen am Bass und am Schlagzeug unterstützt: Davey Faragher (bass) und Pete Thomas (dr), den Band-Mitgliedern von Elvis Costello and the Imposters. Gezielte Text-Stellen ergänzen Froom und Regen durch rare Keyboard-Effekte, die umso stärker auffallen und die Aussage noch signifikanter machen. Dadurch wird die souveräne „Liedermacher-Persönlichkeit Jon Regen“ präsentiert, so wie Frooms Label-Stars, Randy Newman und Paul McCartney, oder wie in den 90er Jahren die ebenfalls stark Text-Lied-orientierte Suzanne Vega (Luka, 1987, My Favorite Plum, 1996), mit der Froom zu jener Zeit auch verheiratet war.
Der Dichter Jon Regen über Ego und Liebesfindung
Der „Dichter“ Regen zeigt sich nun in I Will Wait, indem er akustisch wiederholt scheinende Textzeilen so minimal abwandelt, dass sie einen wendungsreichen, psychologisch fundierten Sinn ergeben:
Well, there´s millions of people
(Es gibt Millionen von Leuten)
Adrift in this world
(treibend (auch: herrenlos) in dieser Welt)
Hoping to find themselves a boy or a girl
(Sie hoffen, sich selbst zu finden – ein Junge oder ein Mädchen)
Regen sah sich als einer von diesen suchenden Leuten, bis er jene - gerade weit entfernte - Frau fand, auf die er wartet. Die Sehnsucht nach ihr bringt ihn dazu, über sich selbst und seine Veränderung durch sie nachzudenken. Um den Kitsch zu entschärfen, baut er Situationskomik ein, die noch einmal doppeldeutig mit dem „herrenlosen“ Tier spielt: „I´d sleep with your cat, But I´m scared he might bite, Before the day I met you, I was losing my mind“ / dt: „ich könnte (Anm. Red.: statt mit ihr) - mit deiner Katze schlafen, fürchte aber, sie könnte beißen, Bevor ich dich traf, War ich dabei, meinen Verstand zu verlieren“.
Well, there´s millions of people
(Es gibt Millionen von Leuten)
Alive in this world
(Die in dieser Welt leben)
Hoping to find them a boy or a girl
(Sie hoffen, auf ein Mädchen oder einen Jungen zu treffen)
Mit der Nuance-haften Verkürzung von „themselves“ (sich selbst) auf „them“ (für sich) gelingt Regen die psychologische Erkenntnis, dass sich die Suche nach sich selbst eigentlich mit dem Finden des passenden Partners erledigt. Sich damit zufrieden zu geben, ist für jeden Single in dieser Welt, der sich bindet, das Zeugnis zur Paar-Reife.
Über den Partner zu sich selbst
Diese Erkenntnis verleitet Regen im zweiten, dynamisch-beschwingten und positiv motivierten Blues-Song Morning Papers noch zu einer Steigerung der Prioritäten-Setzung von individuellen Bestrebungen in Bezug auf die in Zeitungen gepriesene Außenwelt, wo über „Gewinner und Nehmer“, „Fusionierungen und schöne Wolkenkratzer“, „Mogule-Treffen und Fernseh-Vortäuscher“ berichtet wird. Zu jenen möchte der Einzelne in seinen Träumen gehören, so auch Regen, der das aber mit an Unechtem orientiertem „Größenwahn“ vergleicht. In Wahrheit bringe der Austausch über diese Außenwelt mit dem Partner die tatsächlich erstrebenswerte Echtheit. „Die Außenwelt“ mündet als akustische Verdoppelung des Texts in einem Echo-haften Künstlichkeitston, der zunächst zaghaft mitspielt, und am Ende wie im unwirklichen Film als Schall und Rauch vor dem übrig bleibenden, „echten“ Klavier in der Ferne ausklingt.
Das dritte Lied Run To Me richtet sich in der einschlägig melancholischen Blues-Stimmung an die Partnerin, die er ermutigt, zu ihm, dem „Kompass-Zeiger, dem Freund, dem Geliebten“ zu kommen, wenn sie ihren Halt oder Glauben verloren hätte. Und er endet mit dem Medien-Anknüpfungspunkt des zweiten Songs: „Wenn deine wildesten Pläne weggeworfen werden, wie die Magazine des letzten Monats, Und wenn nichts mehr übrig bleibt, als zu schreien, Kannst du zu mir eilen.“ Damit meint er, dass sich auch die Partnerin – so wie er zuvor – darüber bewusst werden muss, dass „er“ die vertrauenswürdigere Garantie von Nähe bringt als jedes ehrgeizige Streben nach Anerkennung von der Außenwelt.
Kein Woody Allen, aber ein New Yorker mit Borderline-Problem
Ab Song Nr. 4 kann sich dann der treueste Jon-Regen-Kenner fünf Nummern lang überraschen lassen, weil nicht nur jedes Lied sehr speziell, fein und künstlerisch eigenständig ist, sondern auch inhaltlich und akustisch Außergewöhnliches bietet. Borderline beschreibt das Bild des New Yorker Stadtneurotikers, allerdings nicht so, wie man sich eine Woody-Allen-Figur vorstellt, sondern den enttäuschten Musik-Künstler Jon Regen, der eben jede Hoffnung verloren hat und deshalb durch die Stadt irrt. „Geschlagen von Feinden, Und aufs Kreuz gelegt von Freunden, So dass es schwierig ist, auszumachen, wer ehrlich ist und wer sich verstellt...“ Darauf folgt der Refrain, und der ist als psychoanalytische Selbstdiagnose gleichermaßen brutal wie als Liedtext über das Stilmittel der Übertreibung komisch: „Cause I´m Stuck in the middle on the borderline ...“ (Denn ich stecke mitten in der Borderline) – was „Grenzlinie vor einer Entscheidung“ oder eben die „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ bedeuten kann. Beides ist aufgrund des restlichen Textes plausibel, weil Gefühle der Leere und Instabilität in Beziehungen, Stimmung und Selbstbild beschrieben werden. Gegensätzlicher Weise wirkt der Refrain aber wie ein guter alter, Zufriedenheit ausdrückender American Country-Song, wozu der zweistimmige Chor (Val McCallum und Davey Faragher) einstimmt und beruhigende Gitarretöne erklingen (McCallum). Die Abreise aus der Weltstadt aufs Land ist also praktisch schon zu hören, bevor der Entschluss „zu gehen“ am Ende ausgesprochen wird. Motivierend und hell signalisiert das Keyboard die innere Erstarkung, bis es nach dem Tief zu dieser „Erleuchtung eines Neuanfangs“ kommen kann.
Ein kleines Kunstwerk: Stop Time als Einheit von Form und Inhalt
Mit Stop Time folgt in seiner Leichtigkeit, in seinem Schalk, in seiner künstlerischen Komplexität von musikalischer Form und Inhalt, kurz in seiner Originalität, ein Highlight der CD. Nicht umsonst trägt sie ja auch den Titel dieses Liedes. Der Rhythmus des Schlagzeugs ist schon einmal komplett a-typisch für Jazz und Blues, und für Jon Regen an sich, sodass man allein deshalb zuhören muss. Marschartig, als ticke der Sekundenzeiger einer lauten Uhr, treibt es einen humorvoll ausgeglichenen Mann an, den Blick auf sein bisheriges Leben zu richten. Er steht allerdings noch nicht so abgeklärt über allem darüber, denn sich mit seinen amourösen und materiellen Rückschlägen sowie dem Altern abfinden, das will er nicht. Lieber möchte er mit der Fantasie eines Kindes die Zeit stoppen und sie zu jenen Momenten zurückdrehen, um Fehler des Lebens auszubessern: „When I was a boy, I had it all too good, No one ever said, it would turn to soot, Getting old´s a bitch, I don´t believe you should, Stand in line like all these fools, I will not lay down, I won´t turn to dust, I´m gonna crack this code like a scientist“ („Als ich ein Junge war, hatte ich es rundum gut, Niemand sagte jemals, es würde sich alles in Ruß verwandeln, Alt zu werden, ist eine Schlampe, ich glaube, du solltest nicht wie all die Narren in der Schlange stehen, Ich werde mich nicht hinlegen, ich werde nicht zu Staub zerfallen, Ich werde diesen Code knacken wie ein Wissenschaftler“) Das Schöne und Geistreiche an der Nummer ist allerdings, dass die Musik diesen Wunsch konterkariert. In der Mitte gibt es zwar einen rhythmischen „Stop“, worauf eine den Reparatur-Willen des kleinen Jungen ausdrückende Kinderlied-Passage folgt. Diese geht aber in einem ausufernden Swinging-Jazz-Piano-Solo auf, sodass dem Zuhörer über die Virtuosität vor Begeisterung der Atem stockt. Damit wird klar, dass in der Kunst alle Irrwege und Lebensbruchstellen willkommen sind, es geht nur darum, sie gekonnt und harmonisch ins geradlinige Ganze einzubetten. Und letztendlich gilt das auch für das Leben und die innere Reife des Menschen an sich.
Feinheiten zum Nachdenken, sinnlich träumen und experimentell ankommen
Darauf folgen drei ruhige, ernste Lieder. Walk On Water ist mit melancholischer Moll-Note ein Aufruf an jeden Einzelnen, die schmerzlichen Herausforderungen des Lebens anzunehmen; es ist zum puren Klavier einnehmend intim und hat mit den Bildern „über Wasser oder durch Feuer zu gehen“ religiösen Charakter. Das Klavier geht diesen Weg der lohnenden Überwindung im kurzen Solo vor. Nur so könne ein Neuanfang gelingen, der die ureigenen Träume wahr werden ließe.
Verführerisch ist Annie, wobei die „Verführte“ die Gitarre von Val McCallum ist, die im Duett von Jon Regens sensibel-liebevollem Wurlitzer-Spiel zu einer unglaublichen Einfühlung gelangt: Erotischer und sinnlicher kann die Musik zweier zusammen spielender Instrumentalisten kaum sein. Da ist es fast hinfällig zu bemerken, dass auch der Text von der „geflohenen Annie“ nichts anderes will als Sex und Liebe, Geben und Nehmen, und das auch noch mit Ewigkeitsversprechen.
Home Again hat mit subtiler Anspielung an Message In A Bottle von The Police - eine von Jon Regen verehrte Band - am meisten Pop-Charakter. – Es ist der erste Song, den es von Regen in diesem Stil gibt. – Denn es werden durchgehend Verfremdungseffekte verwendet. In der reduzierten Anwendung bleibt der Song aber künstlerisch fein und experimentell. Regens Stimme arbeitet mit Echo, als sei die singende Person weit weg, und die Musik wird wie aus der Ferne ins Jetzt eingeführt. Regen träumt „von dort“ vom Gesicht der Geliebten, das vor seinen Augen schwebt. Er zählt die Meilen, die noch fehlen, um wieder daheim zu sein. Wobei das „Wieder Daheim“ generell auf „sie“ als Person gerichtet ist, die ihm endlich wieder dieses Gefühl von Zuhause geben kann.
Wem das zu verdanken ist
Chapter Two ist der fröhliche Ausklang, eine Hymne an „Sie“ als sein „zweites Kapitel“, das er diesmal durchzieht, obwohl er nicht genau weiß, was an ihr eigentlich so speziell ist. Und er resümiert über sich: „Mir gehen die Gründe aus, warum ich alleine lebe, All die leeren Versprechen enden mit dir, Ich weiß, ich kann jetzt für immer lieben.“ Als Nachspiel ist wohl das kurze These Are the Days gedacht, (möglichweise hat er es am Tag vor seiner Hochzeit geschrieben). Jon Regen allein an seinem Klavier. Er sinniert über die kleinen Erdbeben dieses Lebens: über das Regeln-Befolgen in der Kindheit und deren Brechen in der Jugend, über die Fehler und großen, unwirklichen Träume, die nun, mit „ihr“ als Partnerin, vorüber sind und nur noch als Erinnerung bleiben. Die machten ihn alt, während „sie“ ihn jetzt verjünge ... e.o.
Siehe auch Link: Jon Regen Stop Time-Album-Trailer
Sowie Link: Für das Lied Home Again gibt es bereits ein Studio-Video
Sowie Link: Studio-Video von I Will Wait
DAS URTEIL JON REGEN WIRKT MIT SEINER NEUEN CD STOP TIME SELBSTBEWUSSTER DENN JE. TROTZ INSTRUMENTALER REDUKTION UND WEGEN EXPERIMENTELLEN ÜBERRASCHUNGSMOMENTEN. VIELLEICHT IST SEINE ERKENNTNISFÄHIGKEIT ALS MANN DER LEBENSMITTE DER GRUND DAFÜR, VIELLEICHT HAT IHN SEINE NEUE, GROSSE LIEBE „BEFREIT“. ER IST JETZT INTIMER, KLARER, FEINER – UND LOCKERER IN SEINEM SCHWARZEN HUMOR.
CD & KONZERT Stop Time * Jon Regen Solo 2016 * Mit: Jon Regen (piano, voc) * Ort: Reigen Wien * Zeit: 29.9.2016: 20h30
CD Erscheinungsdatum: 28. 4. 2015 bei Motéma Music * Musik und Text: Jon Regen * Produzent: Mitchell Froom * Mit: Jon Regen (piano, wurlitzer, voc), Davey Faragher (bass), Peter Thomas (drums), Mitchell Froom (keyboards), Val McCallum (guitar), Don Heffington (congas)
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