Monday, April 09, 2007

OPER: NICOLA RAAB INSZENIERT "WHEN SHE DIED" UND "EIGHT SONGS FOR A MAD KING"

Fotos von ©Christian Husar: Die Bühne von Duncan Hayler als Riesenfernseher steht einerseits für die deformierte Massenpsyche des heutigen TV-Volkes, das in When She Died nur noch "dumme" Geschichten projiziert, anstatt selbst zu leben ...

... was die Bühne erst recht betont, wenn sie auch als Hintergrund zu Eight Songs for a Mad King dient, worin der geniale Bariton Martin Winkler von seinem klaustrophoben Geisteswahn in einem Vogelkäfig singt, während die ihn umgebenden Instrumentalisten die freien Vögel darstellen.

Wird in When She Died nur ein außenstehender, fernsehfreier Bettler (Mentu Nubia) zum weisen König ...

... so wird auch der irre König Geoge III in Eight Songs for a Mad King am Ende zum "rückblickenden" Bettler, als er noch - fern von aller Hofes- (Fernseh-)Dekadenz - demütig eingestellt war.


WIENER KAMMEROPER VOM WAHNSINN EINES BRITISCHEN KÖNIGS ZUM HEUTIGEN FERNSEH-IRRSINN DER MASSE - EINE DEMOKRATISCHE STEIGERUNG; EIN GEWAGTER DOPPEL-OPERNABEND DER ZWEI BRITISCHEN KOMPONISTEN JONATHAN DOVE UND PETER MAXWELL DAVIES


Das ist ein hochinteressantes Experiment, was sich die Wiener Kammeroper da leistet: Stünde allerdings der erste Teil, die 2002 von Jonathan Dove komponierte Oper When She Died für sich allein, müßte man sagen, was für ein stupides Stück Musiknarration! Was für ein Armutszeugnis für unsere Zeit! Denn diese "Oper" wurde für das britische Fernsehen (Channel 4) geschrieben; und ist das Fernsehen die heutige Volksbildungsstätte schlechthin, kann sie in diesem Zusammenhang nur "armselig" genannt werden. Das Ärgste daran: der Text. Sätze, die eins-zu-eins den Äußerungen von Passanten vor TV-Kameras auf den Tod Prinzessin Dianas 1997 hin entnommen wurden, verbrochen durch David Harsent, der "auch" fürs Fernsehen schreibt. Und die, fast durchgehend, ausgesprochen guten, anglistisch- australisch- amerikanischen Sänger hatten diesen Mist zu lernen. Das grenzt an sadistische Nötigung!

Dumme Fernseh-Menschen, weise TV-lose Bettler

Inhaltlich hinzu konstruiert wurde dem ein Durchschnittspaar, wovon die Frau (Mezzosopranistin Suzanne Carey) nach London möchte, um der Prinzessin die letzte Ehre zu erweisen - wie es auch die an Kerzendekor vor Dianaporträts rundum der Kammeroper vorbeigehenden Theaterbesucher "müssen" -, der Mann dieser Frau (Bass-Bariton Steven Gallop) aber ausgerechnet da Probleme mit dem Auto hat. Außerdem geht es um die seelisch lädierte, unfruchtbare Annie (Sopranistin Marianne Gesswagner), die vom Tod der schwangeren Diana auf den Kindstod ihres eigenen Babies schließt, sowie um den gestörten Ryan (Tenor Michael Spyres), der eine Diana-Doppelgängerin (stimmlich als Einzige weniger gewinnend: Mezzo-Sopranistin Gisela Theisen) zwecks Sühneopfer-Ritual engagiert, um Diana auf ihrem Himmelsgang von der Last der Sünde zu befreien. Und es geht um einen schwarzen Obdachlosen, der das Geschehen beobachtet und kommentiert.

Die naiven Sätze, die teilweise gebetsartig klingen, dienen wie eine Entschuldigung für die filmisch konventionelle Musik, die das Ganze transportiert, und um die es letztendlich wohl gehen sollte. Dazu ein anspruchsvoller Solistenchor, der ab Mitte des Stücks aus dem Zuschauerraum aufsteht, Leuten Kerzen in die Hände drückt und anfängt zu singen. Als einziger Held erstrahlt der Bettler, Bass Mentu Nubia, der sich als objektiver Außenstehender die Krone aufsetzt (wobei aber auch er unsäglich dümmliche Worte äußert). - Sozusagen als arm, aber weise Gebliebener mit gesundem Menschenverstand.

Vom Irrsinn zum Geniestreich

Diese ausgedachte Interpretation vom "gesunden" Bettler mit der Krone dient dann als Verbindungselement zum zweiten Operneinakter Eight Songs for a Mad King von Peter Maxwell Davies aus dem Jahr 1969. Und dachte man sich zuvor noch, warum hat sich Regisseurin Nicola Raab für When She Died als Inszenierungsform nicht eine komplette Verarschung überlegt, so weiß man ab nun, warum: Warum etwas Schlechtes durch eine Interpretation aufwerten, wenn man seine Schlechtigkeit durch ein brillantes Gegenüber erst recht betonen kann? - Das ist tatsächlich ein gewitzt intelligenter und neuer Ansatz. Das Aberwitzige daran aber ist, dass ausgerechnet beim zweiten Geniestreich die Zuschauer vereinzelt den Saal verlassen. - Und das ist gleichzeitig wieder typisch für Werke, die polarisieren, und gerade deshalb genial sind (selbst wenn prinzipiell auch Nicht-Geniales zu polarisieren vermag... denn es gibt einfach kein Rezept für die Kunst!).

Warum jubeln also die verbliebenen Zuschauer beim zweiten Stück, während einige Einzelne gehen? Warum bleiben beim Ersten alle, jubelt aber keiner? - Es liegt an der Musik und Erzählweise, die im ersten Stück harmonisch und analog ist, während im Zweiten beides zumeist disharmonisch, abstrakt ist. - Passend zum Inhalt des Stückes, wo es um die wirren Gedanken des Königs George III geht. - Und da sich der Großteil der Zuschauer in seiner Existenz immer nur bestätigt wissen möchte - finden alle im ersten nichtssagenden, banalen Durchschnitt zumindest einen gemeinsamen Berieselungsnenner, und die Hälfte der Verbliebenen im zweiten Geniestreich echte Herausforderung und Identifikation, die andere Hälfte Grund zum Nachdenken und dazu, sich weiterentwickeln zu wollen. - Denn es gilt ja auch im Volksmund: vom Irrsinn zum Genialen ist es nicht weit! - Das bezieht sich auf die Form der Kunst, bzw. darauf, wie ein Künstler auf eine besondere Form kommt.

Überraschende Erzählweise als künstlerische Überzeugung

In Eight Songs for a Mad King "ist" nun George III tatsächlich auch irr. Darsteller Martin Winkler - der Vorarlberger Bariton - singt, spielt und interpretiert diese Figur wiederum auf geniale Weise. Denn auch er legt die Figur nicht, wie man meinen könnte, in gesteigertem Irrsinn an, sondern in Durchgehendem, im abrupten Wechsel von Kopfstimme-, höfischem (Cembalo-) Schöngesang zu Gekreische, während er sich erst am Ende im Kapitel "Rückblick" - wiederum in die Bettlerkleider des vorigen Darstellers geschlüpft - mental gefestigter gibt. Im Vogelkäfig, worin er zuvor aber gefangen ist, spricht er in Kapiteln wie "Antike Seele", "Die Hofdame", "Auf dem Lande" und "Die Täuschung" Facetten des Zustandekommens seines Geisteszustandes an. Alles scheint ihm feindlich gesinnt. Da bleiben ihm nur die Vögel zum Reden, die im Gegensatz zu ihm, bewacht durch das Schlagzeug, außerhalb des Käfigs als "Streicher" und "Holzbläser" sitzen. Aber auch mit ihnen kommt er auf Dauer nicht aus: Gegen Ende zerschlägt er die Violine.

In beiden Stücken überzeugen Dirigent Daniel Hoyem-Cavazza - neben den ausgezeichneten Musikern des Orchesters der Wiener Kammeroper - und der typisch britische Ausstatter Duncan Hayler durch eine Bühne, die zur Gänze in einen Riesenfernseher verpackt ist, der dann auch noch in den klaustrophoben Geisteszustand des Königs bei anspruchsvoller Musik hinein führt. - Als Symbol für die heutige, freiwillig gewählte "Volksbildung" der Masse bei wiederum banal-berieselnder Musik, die letztlich zu nichts anderem erzieht als zu Wahnsinns-Projektionen wie "Diana". - Zum "König" wird dabei nur, wer sich dem in bescheidener Demut zu entziehen vermag! r.r./e.o.


DAS URTEIL ZUERST MAG MAN SICH DENKEN, WARUM REGISSEURIN NICOLA RAAB DIESE DUMME OPER WHEN SHE DIED NICHT VERARSCHT HAT - DOCH MIT DEM GENIESTREICH EIGHT SONGS FOR A MAD KING WECHSELT DAS ZUM AHA-ERLEBNIS. EIN HERRLICH UNKONVENTIONELLER ZUGANG! MIT EINEM HERRLICHEN OPERN-SCHAUSPIELER MARTIN WINKLER!


OPER When She Died / Eight Songs for al Mad King * Von: Jonathan Dove / Peter Maxwell Davies * Regie: Nicola Raab * Musikalische Leitung: Daniel Hoyem-Cavazza * Mit: Orchester der Wiener Kammeroper * Bühne: Duncan Hayler * Mit: Mentu Nubia, Suzanne Carey, Steven Gallop, Marianne Gesswagner, Bryan Rothfuss, Magdalena Hofmann, Michael Spyres, Gisela Theisen, Martin Winkler * Ort: Wiener Kammeroper * Zeit: 10., 12., 14., 17., 19., 21., 24., 26.4.2007: 19h30

Tuesday, April 03, 2007

THEATER-MUSICAL: MICHAEL SCHOTTENBERG MIT "CABARET" AM ZENIT SEINES SCHAFFENS

Fotos © Lalo Jodlbauer: Sally Bowles (Maria Bill Mitte, neben Annette Isabella Holzmann links, und Andy Hallwaxx, Katharina Straßer rechts) arbeitet als laszive Star-Tänzerin und -Sängerin in einer Berliner Bar Anfang 1930 ...

... Dort lernt sie den amerikanischen, mittellosen Schriftsteller Clifford Bradshaw (Raphael von Bargen) kennen, in dessen kleine Mietwohnung sie einzieht...

... wo die beiden allerdings von der opportunistisch-pragmatischen Wirtin "Fräulein" Schneider (Hilde Sochor) abhängig sind, die ihren jüdischen Verehrer (Heinz Petters) feige fallen läßt, sobald die Nazis an der Macht sind ...

... Dieser psychologische Angstmechanismus dient dann Conférencier Marcello de Nardo als Thema seines Revue-Kabaretts mit einem Affen als "geliebten Juden": eine der intelligentesten und berührendsten Nummern des mitreißenden Abends.


VOLKSTHEATER MICHAEL SCHOTTENBERG HAT ES GESCHAFFT: MIT DEM MUSICAL CABARET HOLT ER ALLES AUS SEINER BÜHNE UND SEINEN SCHAUSPIELERN HERAUS, WAS NUR HERAUSZUHOLEN IST - EIN WAHRLICH BEGLÜCKENDES KUNSTERLEBNIS

Keine Frage - da hat jemand Regie geführt, der jeden Quadratmilimeter des Raumes kennt. Da hat jemand besetzt, der jeder Facette seiner Schauspieler gewahr ist, allen voran der Hauptdarstellerin (die denn auch seine Frau ist) als leuchtender weiblicher Revuestar "Sally Bowles" in Cabaret: Maria Bill. Obwohl nicht groß, macht sie - mit Permanentbetonung ihrer Beine - die beste Figur, obwohl keine Tänzerin, bewegt sie sich am anregendsten, obwohl nicht mehr blutjung, wirkt sie verspielt naiv wie ein kokettes Mädchen, doch da eine Sängerin, singt sie alle anderen an die Wand. Allerdings nur die weibliche Mannschaft: Marcello de Nardo ist es der Bill unter den Männern als Conférencier in jeder Hinsicht: er ist präsent, ein wunderbarer Tänzer und Sänger und obendrein ein wandelbar überzeugender Schauspieler.

Schottenbergs Anlaufzeit hat sich rentiert

Eigentlich bestechen aber nicht nur die Hauptfiguren, die ebenso durch Raphael von Bargen als Schriftsteller, Hilde Sochor als Wirtin "Fräulein" Schneider, sowie durch Heinz Petters als "Herr Schultz" mehr als nur glaubwürdig verkörpert sind. Nein, es gewinnt das ganze, starke Ensemble, was für die verantwortungsbewußte und zu führen fähige Hand des Regisseurs und Theaterdirektors Michael Schottenberg steht. Mit dieser Inszenierung wird nun klar, was er in der Zusammenstellung seines Hausstabs sah - in vergangenen Stücken war das nicht sofort augenscheinlich. Selbst wenn sich langsam herauskristallisiert, dass einige dieser "Typen", wovon die meisten erst auf den zweiten Blick auffallen, immer spannender werden. Indem der Zuschauer vom einen zum nächsten Mal an ihnen Neues entdecken will - gerade wegen des zweiten Blicks.

Die zur Geduld mahnende Anlaufzeit, bis das Volkstheater mit dieser Inszenierung zur absoluten künstlerischen Reife erblüht ist, hat sich also gelohnt. Für Schottenberg, für das Ensemble, für das Publikum. Das anfänglich "zu Neue" hat sich in Richtung "Vertrautheit" verlagert, nicht im Stil von Showmaster-Schmeicheleien seitens Schauspielern, wie man sie von heimischen Langzeit-Bühnenstars kennt, sondern im Aufspüren-Wollen der Zuschauer bezüglich deren Verwandlungskunst und Vielfalt. Und in Cabaret zeigte sich nun, dass einige von diesen Schauspieler-Typen auch noch ausgesprochen gut singen können: Von Bargen spielt zudem Saxophon, Jennifer Frank Violine.

Ein Cabaret, das in den Bann zieht

Sofort, als der amerikanische Schriftsteller Clifford Bradshaw - wohinter sich der echte Autor Christopher Isherwood verbirgt, dessen Berliner Erzählungen über die Begegnung mit dem Revuegirl Bowles mit der Musik von John Kander zu einem Musical (Fassung von Chris Walker 1997) zusammen gefaßt wurden - 1930 in Berlin ankommt, ist man als Zuschauer gefangen. Schon, weil die roten Lampen der als Raum im Raum ausziehbaren Revue-Bar, wo Sally singt, in den Zuschauerraum reichen - eine wunderbare Bühnenkreation von Hans Kudlich. Im gefälligen Wechsel zwischen laszivem, von einmalig gutem Orchester begleiteten Gesang und gespielter, kleinbürgerlicher Handlung, worin sich zuerst der Dichter und dann auch Sally bei der Wirtin Schneider einquartieren, wird man plötzlich mit dem politischen Wechsel konfrontiert, als die naiv-arme Gesellschaft zu jener der Nazis mutiert: die Lampen im Raum sind nun Nazi-Fahnen gewichen.

Sensibel gesetzte, reflexive Kontraste

Sehr sensibel und musikalisch weiß Schottenberg mit den Kontrasten umzugehen, ohne etwas auch nur eine Sekunde auszureizen. Und der Tontechniker wechselt dabei kongenial in ebenso virtuoser Exaktheit zwischen Echo und Sprechakustik. Die Text-Bilder werden in entsprechende Visuelle umgesetzt: Will also etwa die Wirtin mit der einsetzenden Nazizeit aus opportunistischen Gründen ihren Verehrer, den Juden Schultz, nicht mehr heiraten, tanzt als Parallele Conférencier Nardo mit einem Affen und singt dabei: "Sähe man sie (den Affen = den Juden) mit meinen Augen, würde die Welt sie anders sehen." Oder es singt Maria Bill als Highlight "Life is a Cabaret" tief und präsent, nachdem zuvor eine hochqualitative Kleszmer-Nummer aus Akkordeon und Klarinette einem ebenso starken - von den Nazis durch ihre für-sich-Beanspruchung "vergewaltigten" - Volkslied-Sängerknaben gegenüber gestellt wurde. - Dieser politische, für die Durchläufigkeit von Gesinnungen stehende Kontrast wird dann am Ende noch einmal durch die Figur des clownesken De Nardo bekräftigt, indem er sich schnell gerafft vom Nazi-Zöllner zum Conférencier und dann zum Mann mit Judenstern wandelt.

Und vor diesem Hintergrund zerbricht auch die dreijährige Beziehung des Künstlerpaars, weil der Schriftsteller seine schwangere Frau nicht mehr auftreten lassen wollte. - Er, der von ihr als "klein" titulierte Schreiber: "Es wird dir niemand nachweinen." Sie, das Kind abtreibend und wieder auftretend: "Ich bin Künstlerin!" - In der Realität wurde der Schriftsteller Isherwood später freilich weltberühmt, während Bowles einen kommunistisch-britischen Journalisten heiratete, Mutter wurde, und vom früheren Sally-Bowles-Vamp nichts mehr wissen wollte. e.o.


DAS URTEIL MICHAEL SCHOTTENBERG HAT MIT CABARET EIN GESAMTKUNSTWERK GESCHAFFEN. SEIN BISHER BESTES STÜCK - NICHT NUR AUF DIE VOLKSTHEATER-ZEIT BEZOGEN. UND DABEI ABER EINE VORZEIGELEISTUG FÜR EIN "VOLKSTHEATER": ALS GROSSARTIGE UNTERHALTUNG, INTELLIGENTE LEHRE. EIN ABSOLUTER PFLICHTTERMIN VON UND MIT TOP-PROFIS!

THEATER (MUSICAL) Cabaret * Von: Joe Masteroff nach dem Stück Ich bin eine Kamera von John van Druten und Erzählungen von Christopher Isherwood, Musik: John Kander, Gesangtexte: Fred Ebb, Fassung: Chris Walker 1997 * Regie: Michael Schottenberg * Bühnenbild: Hans Kudlich * Choreographie: Susa Meyer * Musikalische Einrichtung: Herbert Pichler * Mit: Marcello de Nardo, Maria Bill, Raphael von Bargen, Hilde Sochor, Heinz Petters, u.a. * Ort: Volkstheater Wien * Zeit: 31.12.2007, , 5., 10., 14., 19., 20.1.2008: 19h30

Thursday, March 22, 2007

THEATER + MUSIK: KABINETTTHEATERS GÄHNENDE "GUTE GÖTTER - SO EIN THEATER"

Orpheus (Tenor Ulfried Haselsteiner) verschläft seinen Auftritt - denn er ist so von Sehnsucht nach Eurydice gefangen, dass er einfach nur müde ist. (Fotos © Michael Michlmayer)

Wie gerne würde Orpheus Eurydice (sie besteigend) um sich haben...

... doch es bleiben ihm nur die Cancan-Erotisismen der Grisettinnen zu Offenbachs Orpheus in der Unterwelt ...








... und das Singen mit dem gelehrten Dichter, der für ihn Eurydice sein will - da er (ganz berechnend!) für die echte Kunst seine ganze Liebe fordert! Selbst wenn das die Öffentlichkeit am Ende wahrscheinlich nur in den Dreck ziehen wird.


THEATER AN DER WIEN DIE PUPPEN - SPIELGRUPPE "KABINETTTHEATER" LÄSST ORPHEUS ALS TENOR UND PUPPE "TANZEN" - EIN SCHÖNES STÜCK WEISHEIT, ANFANGS AUCH ZUM GÄHNEN

Dass Orpheus, der göttliche Sänger, dazu fähig war, mit seinem Gesang den Totenschiffer Charon einzuschläfern, Geister, Furien sowie Plutos zähnefletschenden Hund Cerberus zu zähmen, ist zu Beginn von Gute Götter - So ein Theater von der Puppenspielgruppe Kabinetttheater in der Unterbühne "Hölle" des Theaters an der Wien gut zu wissen. Denn sonst wird die etwas zu lange Einführung zwischen Gähnen zweier Frauenpuppenköpfe und dem "Wuff, Wuff" des augenglühenden Wolfskopfs zur Kammermusik von Akkordeon (Georg Schulz), Flöte (Yvonne Weichsel) und Violoncello (Ruth Straub) bald unlustig. Das ist aber auch das Einzige, was an der Produktion von Christopher Widauer, Julia und Thomas Reichert zu beandstanden ist.

Orpheus leidet dreimal anders

Denn dass da alles so müde ist, einschließlich des zwischen Singen und Schlafen wandelnden Orpheus - sodass selbst das Publikum zu gähnen beginnt -, hat ja seinen Sinn: Orpheus, Tenor Ulfried Haselsteiner, ist der Hauptdarsteller einer echten Inszenierung und sollte auf die Bühne kommen. Irgendetwas hält ihn aber zurück: die Puppen, seine innere Unruhe, sein Sehnen nach Eurydike. So singt er sehr schön und ruhig phlegmatisch in archaischen Tenorliedklängen und weint seiner Eurydike nach, der er nach diversen amourösen Ausschweifungen bedingungslose Treue schwor, sie aber dennoch für immer gegangen ward... Da sagt eine Gelehrten-Dichter-Puppe: "Ich bin Eurydike." - Kann aber "Kunst" auf Dauer alleiniger Liebesersatz sein? - So sinniert der gute Orpheus vor sich hin - dabei sollte er doch dringend auf die Bühne! - bis die Sinnlichkeit ihn und das Publkum gefangen nimmt. Nämlich als einer der Frauenköpfe auf den vollbusigen Torso wandert, der die ganze Zeit über leblos im Raum stand. Das muß nun Eurydike geworden sein! - Orpheus schlüpft unter ihren Rock, sodass "sie" vor freudiger Lust nur so kreischt und erklimmt sie, indem er - plötzlich zur Miniaturpuppe mutiert - auf ihren Körper steigt, und doch vergeblich. Er rutscht wieder und wieder ab. So bleibt ihm nur übrig, sich bei Jacques Offenbachs Cancan Orpheus in der Unterwelt zwischen den Pariser Grisettinnen-Beinen zu trösten, aber auch das schürt letztenendes nur sein Sehnen.

Orpheus ist verdammt zur Kunst

Dann ist es so weit. Er geht (als erneut andere Puppe) auf die Bühne - und bekommt als Dank nur die Rohheit des Showbusiness zu spüren: Er wird in Form eines Schattenspiels auseinander genommen, sodass das Blut aus seinem Körper spritzt. - Auch Ruhm und Ruf können ihm daher weder den Frieden bringen, noch Befriedigung, sondern nur Stress und Verkaufsdruck: seiner selbst, seiner Gefühle. Die öffentliche Meinung bringt ihn um. Und doch ist er, wie alle Kunstschaffenden, dazu verdammt, wie auf hoher See weiter zu singen, zu sinnieren, zu ringen, und um die Gunst des Publikums zu buhlen. - Eine schöne Metapher, die alle Abgründe des Künstlerlebens wiederspiegelt. - Nur der kleine Text auf dem Schildchen war am Ende nicht zu entziffern - War der wichtig? e.o./a.c.


DAS URTEIL EIN KLEINES STÜCK WEISHEIT ÜBER DIE INNEREN KÄMPFE DER KÜNSTLERSEELE. EIN DETAILREICHES SPIEL ZWISCHEN MUSIK, PUPPENKUNST UND PHILOSOPHIE - MIT JE EINEM GÄHNER UND WUFF ZU VIEL!

ERWACHSENEN-PUPPENTHEATER MIT MUSIK Nachtflug mit Puppen - Neue Reise mit Theaterminiaturen aus vielen Federn (Marinetti, Balla, Scarpa, Russulo Texte von Konrad Bayer/Oswald Wiener, Gert Jonke, H.C. Artmann) durch den abenteuerlichen Aufführungsraum * Von und mit: Kabinetttheater * Musik: Wolfgang Mitterer am präparierten Flügel und Live–Electronic * Ort: Semperdepot - Kooperation über Theater an der Wien * Zeit: 30., 31.7. + 3., 6., 7.8.2008: 21h

ERWACHSENEN-PUPPENTHEATER MIT MUSIK Ein bekehrter Wüstling * Regie: Thomas Reichert * Musik: Opern des 20. Jahrhundert * Von und mit: Kabinetttheater * Ort: Hölle im Theater an der Wien * Zeit: 4., 6., 8., 9., 13.10.2008: 20h

ERWACHSENEN-PUPPENTHEATER MIT MUSIK Haydn bricht auf * Musik: Joseph Haydn und Bernhard Lang * Buch: Michael Sturminger * Regie: Thomas Reichert * Von und mit: Kabinetttheater * Ort: Hölle im Theater an der Wien * Zeit: 14., 15., 19., 20., 22.3.2009: 20h

Tuesday, March 20, 2007

THEATER: ANTOINE UITDEHAAG UND DIE TAUBE IN "GLAUBE, LIEBE, HOFFNUNG"






Elisabeth (Patrycia Ziolkowska) arbeitet als Unterwäsche- Vertreterin kaum zufriedenstellend,
da sie sich mit einer "computerhaften" Puppe zwar identifizieren sollte, es aber nicht kann - lange behält sie den Job daher nicht;
Fotos:
© Gabriela Brandenstein


Als Elisabeth den Polizisten Alfons (Till Firit) kennen lernt, scheint ihr Zustand etwas besser zu werden - obwohl "ihr Geheimnis" die Beziehung überschattet...

... sodass Alfons sich abwenden wird, und Elisabeth ins Wasser springt. - Bevor sie stirbt, kommt sie noch mal zur Wache: zu Alfons.

Der Präparator (Rainer Frieb) läßt eine hoffungsvolle Taube steigen - wie es das Bürokraten- und Menschenopfer Elisabeth war.


VOLKSTHEATER ANTOINE UITDEHAAG BRINGT POESIE UND ELEGANZ INS HAUS - TROTZ BITTERER DOPPELBÖDIGKEIT: IN ÖDÖN VON HORVÁTHS GLAUBE LIEBE HOFFNUNG

Was der Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts lebende Autor und Diplomatensohn Ödon von Horvath schonungslos realistisch und desillusionierend ausstellte, war das von Sentimentalität, Kitsch, Gier, Lieblosigkeit, Egoismus und Brutalität geprägte Milieu der "kleinen Leute". So verwundert doch anfangs das geziert und gestisch aufgesetzte Gehabe der Elisabeth - Schauspielerin Patrycia Ziolkowska - im Stück Glaube, Liebe Hoffnung am Volkstheater. Noch dazu, da das Bühnenbild vom - mit renommierten Choreografen wie Jiri Kylián zusammenarbeitenden - Tom Schenk elegant designt aus einer Bühne in der Bühne besteht, einem gekünstelten einseitig offenen Kasten im offenen Raum. Und doch verhilft diese Irritation gerade deshalb zum Verständnis des Nicht-Verstanden-Werdens der in dieser Gesellschaftsschicht Unangepaßten. Das wird spätestens nach zwanzig Minuten klar, wobei kurze Tableaux Vivants mit symbolhaften Körperbildern als Übergänge zwischen den Szenenwechseln dienen. Aber auch, weil der Untertitel zum Stück Ein kleiner Totentanz in fünf Bildern die überhöhte formale Ästhetisierung als konzeptuelles Prinzip vorwegnimmt.

Selbstmord: Konsequenz in kleinbürgerlichem System

Dass diese Elisabeth so "abgehoben" ist, steht - wobei ihrem wörtlich Gesagten, trotz klarer Aussprache, lange kaum zu folgen ist -, nonverbal inhaltlich dafür, dass die Heldin von Beginn an psychisch angeschlagen ist. Kreidet das die kleinbürgerliche Gesellschaft als Negativum an, wertet es Regisseur Antoine Uitdehaag ins ironische Positiv um. Sodass die mit Justiz und Behörden hadernde Elisabeth fürs Publikum das anmutig-schöne, sensible Opfer ist, für die agierenden Polizisten und Kleinbürger die zu zerstörende "Kriminelle". Und das nur, weil sie einmal ohne Wandergewerbeschaft gearbeitet hat und seitdem vorbestraft ist. So versucht sie, zu Lebzeiten ihren Körper an die Anatomiemedizin zu verkaufen, wobei ihr der Präparator (überzeugend: Rainer Frieb) lediglich Geld borgt, das sie sogleich für die Bezahlung der Geldstrafe verwendet, was wiederum den Präparator erzürnt. Ihr vom Pech getränktes Schicksal scheint sich für Elisabeth in Richtung Sonnenseite zu wenden, als sie dem Polizisten Alfons Klostermeyer begegnet: Mit ihm ist eine Liebesbeziehung möglich. Ab nun wird Elisabeths Spiel lebendiger, doch die Apathie holt sie bald wieder ein: Nachdem Polizistenkollege Alexander Strobele Alfons hinterhältig pflichtbewußt von "der Vorbestraften" abrät, da sie ihn die Karriere kosten könnte. Für Elisabeth scheint die einzige Lösung zu sein: ins Wasser zu gehen.

Poesie und Schönheit: Die Macken machen sie wertvoll

Was an der Inszenierung so berührt, sind die Worte des sich vom Abnormen angezogenen, aber sich nicht dazu bekennen könnenden Alfons, überzeugend gespielt von Till Firit: Elisabeths Aura erinnert ihn an seine verlorene (tote) Liebe. Andererseits der Versuch Elisabeths, Alfons vor ihrer Schattenseite zu schützen, indem sie ihm von der Vorstrafe nichts erzählt. Aus diesen inneren Konflikten heraus, dramatisieren beide Schauspieler ihr Spiel immer mehr. Patrycia Ziolkowska verliert, trotz ihres noch immer anmutigen Äußeren, in der Sterbeszene die Manieriertheit; Till Firit intensiviert sein haltungsfeiges Dasein - wer ihn als Fritz in Liebelei und jetzt in dieser Rolle gesehen hat, wird in Zukunft weiterhin auf seine Schauspielkunst achten. Denn jetzt ist klar: er repräsentiert eine ungemein spannende Abart des klassischen Helden: nämlich mit interessanten, kleinen Fehlern innerhalb des Edlen, angefangen vom Äußeren bis zum beklemmenden Agieren. - Schließlich hinterlassen aber auch die kleinen formalen Details in Glaube, Liebe, Hoffnung angenehme Eindrücke: Tauben, die für die Hoffnung auf eine allgemein bewußtere Wahrnehmung gegenüber "Tauben" wie Elisabeth stehen, indem sie am Ende choreografisch abgerichtet über die Bühne fliegen; Regen, der fällt. Die Eleganz hält somit Einzug ins Volkstheater. - Nur die Musik von Het Paleis van Boem ist in diesem Stück ein wenig sehr schlecht. e.o.


DAS URTEIL DAS VOLKSTHEATER HAT GESCHMACK ENTWICKELT: SCHÖNE HAUPTDARSTELLER, DIE VON GESTISCHER ELEGANZ HERAUS IN IHREN ROLLEN WACHSEN, EIN STÜCK IN TREFFEND POETISCHER FORM - DIE DER INHALTLICHEN ANKLAGE IRONISCH BITTER ENTGEGENLÄUFT. ERGO: HÜBSCH MIT ETWAS SCHMUTZ.

THEATER Glaube, Liebe, Hoffnung * Von: Ödön von Horvath * Regie: Antoine Uitdehaag * Mit: Patrycia Ziolkowska, Till Firit, Rainer Frieb, Vera Borek, Beatrice Frey, Alexander Strobele, u.a. * Ort: Volkstheater Wien * Zeit: 22., 30., 31.3.; 1., 2., 11.,12.,17., 18., 23.4.07: 19h30

Wednesday, March 14, 2007

TANZ: BEN VAN CAUWENBERGHS QUEEN-GESCHMACKLOSIGKEIT

Karina Sarkissova und András Lukács sind in diesem Duett so gut wie das einzig Erträgliche in der Queen-Homage der Wiener Volksoper. Foto © Dimo Dimov/DasBallett der Wiener Staatsoper und Volksoper


VOLKSOPER WIEN NACH DER BESSEREN ANNA KARENINA VON BORIS EIFMAN FÄLLT DAS WIENER STAATS- UND VOLKSOPERNBALLETT MIT BEN VAN CAUWENBERGHS TANZHOMMAGE AN QUEEN ABERMALS IN DEN STATUS DER PROVINZKOMPAGNIE ZURÜCK

Hat man in letzter Zeit nur überdurchschnittlich gelungene Kunst erlebt - siehe letzte Kritiken unten -, fällt es besonders auf, wenn etwas unter jedem Niveau liegt: das Ballett der Wiener Staats- und Volksoper hat mit Ben van Cauwenberghs Tanzhommage an Queen wieder einmal den Vogel abgeschossen. Diese Produktion reiht sich in die Flops "Ballettgala" und "Cavallari-Tschaikowski Impressionen" ein. Nämlich, indem der belgische Choreograph und Dmitrij Simkin (Bühne, Konzept, Video) genau das bis zur Spitze der Unerträglichkeit herausgearbeitet haben, was bereits bei der Popgruppe Queen (Freddie Mercury) als prinzipielle Geschmacklosigkeit angelegt ist: die Vereinigung von Rock und Pathos. Und das alles verpackt in altbackene, verstaubte Atmosphäre. - Etwas fürs Schmuddelgefühl.

So wie Mercury in unermeßlicher Hysterien-Theatralität - wozu keine Frau jemals imstande wäre - die Rocksongs sang, so tanzt hier das Ballett zu den Queen-Songs: da trippeln zum Beat gekünstelte Ballerinas, schweben zu Drums Jazztanz-Gruppen - jede körpergeerdete Britney Spears oder Jennifer Lopez wüßte besser, wie das umzusetzen ist, damit es wirkt, groovt und "stimmt". Selbst Boris Eifman wüßte es mit seiner Liebe zur platten Direktheit besser.

So wie Mercury in seinen Frauenkleidchen staubsaugte, so verkleidet sich mancher travestierende Tänzer. Das ist in einer Szene für zwei Minuten einigermaßen lustig. - Denn man sucht als Zuschauer ja stets innerhalb des Grauens verzweifelt nach etwas halbwegs Erträglichem, damit es doch zu überstehen sei. Die anderen acht Minuten in den zwei grindigen Stunden machen kurze Duette des leidenschaftlichen Paars András Lukács und Karina Sarkissova, und von András Lukács und Daniil Simkin aus, sowie eine Radfahr-Nummer zu I Want To Ride My Bycicle, wo ein extra gedrehtes Video mit einer Realfahrradszene überschnitten wird. Dagmar Kronberger, Irina Tsymbal und Mihail Sosnovschi sowie Emilia Baranowicz fallen durch ihr Bewegungscharisma - wie immer - auf. Das reicht aber bei Gott nicht, um an dieser Unästhetik und dramaturgischen Unreflektiertheit auch nur irgendetwas zu entschuldigen. e.o.


DAS URTEIL NOCH SCHRECKLICHER ALS ES QUEEN JEMALS WAR. WEDER RETROCHIC, NOCH ALS TANZ-INTERPRETATION ZEITGEMÄSS.

BALLETT Tanzhommage an Queen * Von: Ben van Cauwenbergh * Bühne, Konzept, Video: Dmitrij Simkin * Mit: Das Ballett der Staats- und Volksoper * Ort: Volksoper Wien * Zeit: 07.02+27.06.2008: 20h + 17.02.2008: 18h + 14., 24.4.+22.6.2008: 19h * 29.2.2008: 19h30, siehe www.volksoper.at

Thursday, March 01, 2007

OPER: STEIN WINGE LÄSST ANDRÉ PREVIN IN "A STREETCAR NAMED DESIRE" DEN VORTRITT


Sixpack-Prolo Stanley Kowalski (Teddy Tahu Rhodes) nimmt sich seine Frau Stella (Mary Mills) vor seinem Pokerfreund Steve Hubbell (Erik Arman) fast genauso brutal ...

...wie deren Schwester Blanche (Janice Watson): "Das wollten wir doch von Anfang an", schreit er. - Bei ihm schaut´s immer wie eine Vergewaltigung aus, wenn er den "Nicht-Frauen" des Tennessee Williams den "Mann" aus- und durch sich eintreibt. Fotos © Rolf Bock













THEATER AN DER WIEN DIESE JAZZ-MODERNE ENDSTATION SEHNSUCHT IST GEGENÜBER DER GÄNGIGEN NEUEN ODER KLASSISCHEN OPER ERFRISCHEND - STEIN WINGE HAT SICH ZUGUNSTEN DER EROTISCHEN HOMO-VERSTRICKUNGEN IM TENNESSEE WILLIAMS-STOFF ZURÜCK GEHALTEN

Tennessee Williams - da denkt man an die Pflichtlektüre der Schulzeit. An den Schreiber, der in allen seinen Figuren seine Homosexualität und deren gesellschaftliche Ablehnung verpackte. - Was man nun als Schüler nicht verstand, da man ja nicht einmal die gewöhnlichen "Erwachsenengefühle" nachvollziehen konnte, bekommt nach ein, zwei Jahrzehnten Leben deutlichere Züge. Und wenn jemand an den Figuren nicht allzu viel herumdoktort - auch nicht mittels Inszenierungsstil -, dann werden jene Züge tatsächlich klar. So geschehen in der österreichischen Erstaufführung von Endstation Sehnsucht am Theater an der Wien unter Norweger Stein Winge, der auf einer ziemlich leeren Bühne mit ein paar losen Möbeln für Schlaf-/ Wohnzimmer sowie Küche ohne Wände spielen läßt, als dauerpräsentem Schauplatz. Der einzige Luxus, den sich die Inszenierung leistet, ist das Drehen der Bühne, was aber für etwas steht: für das Irre-werden der Blanche DuBois.

Jede Figur - Homosexuellen-Klischees

"Regie" und Charakterinterpretation stecken dafür in der Musik - denn hier handelt es sich um das Theaterstück, das als Oper (Libretto Philip Littell) 1998 vertont wurde. Wenn sie auch weniger tiefenpsychologisch, als handlungsunterstreichend komponiert ist: Und das, obwohl André Previn durchgehende Rhythmik und komplexe Jazz-Arrangements mit typisch dramatischen Bläser-Passagen innerhalb einer zeitgenössisch-atonalen und melodischen Orchestersymphonie geschaffen hat, wobei einige Musiker der Wiener Symphoniker ihre Soli - wie etwa der für gewöhnlich selten in Orchestern solierende Kontrabaß - tatsächlich über längere Zeit "alleine" spielen. Die dramatischen und lyrischen Arien drücken dagegen die einzelnen, klar gezeichneten Charaktere in ihrem Agieren empfindsam und kammermusikalisch aus. Ja, viele Melodien sind regelrecht romantisch, sodass im Kontrast zu Atonalität und Kälte der Geschichte ein schmerzhaft doppelbödiges Flair aufkommt.

Diese Atmosphäre geht von der Figur der Blanche DuBois aus, die sich einerseits in der Handlung von einem mondänen Glamourvamp zu einer tugendhaften Dame bekehren will, indem sie den sensiblen Harold Mitchell aus einfachen Verhältnissen heiratet. Andererseits legt sie als "Frau" männlich-eigenständiges Gebaren an den Tag, sie trinkt Whiskey und flirtet mit jedem Mann, um bestätigt zu bekommen, dass sie noch "ankommt". Dass sie sogar nymphomanisch veranlagt ist, stellt sich im Zuge des Geschehens heraus: Nach einer Ehe mit einem Homosexuellen, den sie durch ihre aggressive Konfrontation diesbezüglich in den Selbstmord getrieben hatte, verführte sie in ihrem Beruf als Lehrerin einen minderjährigen Jungen. - Lauter Anspielungen also, auf die gängige sexuelle Lust schwuler Männer: die Lust auf Schönheit und Zartheit, ewige Jugend bis zur Pädophilie sowie wechselnde Partner.

Aus Blanches Hochzeit wird allerdings nichts. Schuld daran ist der Ehemann ihrer Schwester Stella, Stanley Kowalski, ein Prolo-Macho sondergleichen, der seine schwangere, ihm völlig verfallene Frau schlägt. Tennessee Williams dachte sich selbst auf eine Bemerkung Thornton Wilders hin, der es in dem Werk als unglückliches Mißverständnis ansah, dass eine Dame wie "Stella" niemals so einen Proleten wie Stanley heiraten könne: "Dieser Typ (damit meinte er Wilder) ist nie zu einem guten Fick gekommen." Tatsächlich geht es aber um die Beziehung von Stanley und Blanche, zwischen denen die größte Erotik herrscht, da ein Machtkampf ausgetragen wird. Stanley fühlt sich von der "Männlichkeit" Blanches so angezogen, dass er sie "entmannen" muss: Er vergewaltigt sie. - Dieser kalt-distanzierte Sex- und Machttrieb also auch ein typisches Homosexuellen-Klischee.

Jede Figur - blendend besetzt

All diese sexuellen Querverstrickungen hinter den offiziellen Paarkonstellationen, unterstreichen die blendend besetzten Darsteller durch ihre Körperpräsenz: Stanley ist der große Sixpack-Athlet Teddy Tahu Rhodes, der nicht nur im Spiel seinen festen nackten Oberkörper - und Hintern - gerne zu zeigen scheint. Blanche ist mit Janice Watson eine recht korpulente Frau und hat mit attraktiven langen Beinen die Größe eines stattlichen Mannes. Stella ist die zierlich-kleine Mary Mills (mit einer sehr schönen Stimme), und Mitch ist mit Simon O´Neill ein molliger Nicht-Sportler, dem man die sensible Konnotation abnimmt, die die männlich-schwule Blanche zur innerlichen Heilung sucht. Mitch sagt allerdings - wieder typisch für enge Mutter-Sohn-Bindungen von Homosexuellen: "Sie sind nicht rein genug, um mit meiner Mutter im selben Haus zu wohnen." - Sie alle, einschließlich der Nebenrollen-Interpreten, singen und spielen ausgesprochen gut. - Diese Klischee-Charakterzeichnungen sowie die pointiert erlebt gespielte Musik des Orchesters, dirigiert von Sian Edwards, sind die stärksten Eindrücke der musikalisch-erfrischenden und doch psychisch-dunklen modernen Oper. e.o./r.r.


DAS URTEIL ANDRÉ PREVIN MAG SICH ALS BISHER AUSSCHLIESSLICHER FILMMUSIK- UND MUSICAL-KOMPONIST DEN VORWURF VON "HOLLYWOODESKEN" IN SEINER ERSTEN OPER GEFALLEN LASSEN MÜSSEN - GERADE DIE ZEIGEN ABER - RHYTHMISCH UNTERHALTEND - DIE ZERSTÖRTE ROMANTIK HINTER DER "GERADLINIGEN" HANDLUNGSFASSADE: VERSTECKTE HOMOSEXUELLEN-EROTIK EBEN.

OPER A Streetcar Named Desire / Endstation Sehnsucht * Von: André Previn nach Tennessee Williams * Regie: Stein Winge * Dirigat: Sian Edwards * Mit: Janice Watson, Teddy Tahu Rhodes, Mary Mills, Simon O´Neill, u.a. * Mit: Wiener Symphoniker * Ort: Theater an der Wien * Zeit: 3.,6.,9.3.2007: 19h30

Tuesday, February 20, 2007

MUSIK: KRISTJAN JÄRVIS HALBER "BOLERO" UND GANZER "US-BEETHOVEN"

Foto: Der Rock´n`Roller der Klassik, © Kristjan Järvi, hat sein übliches Tempo ungewohnter Weise beim Spanischen gedrosselt. Umso intensiver kam sein Bolero rüber. Bei Béla Bartok ging dafür - extrem passend - wieder der Rocker in ihm durch!


WIENER MUSIKVEREIN DAS TONKÜNSTLER ORCHESTER NIEDERÖSTERREICH HAT SICH ETWAS SPANISCHES UNTER DEM TITEL BOLERO ZUSAMMEN GEBASTELT. BEIM BASTELCHARAKTER BLIEB ES DRAMATURGISCH, MUSIKALISCH GAB ES HÖHEPUNKTE

Was Kristjan Järvi unter dem Konzerttitel Bolero dirigierte, hatte den Charakter einer stilistisch nicht wirklich einleuchtend durchgezogenen Nummernaufführung - positiver formuliert - eines zwei-geteilten Patchwork-Abends, wobei der erste Teil kaum etwas mit dem zweiten zu tun hat. Denn nur weil im Titel der im ersten Teil auszugsweise aufgeführten Oper Der Babier von Sevilla eine spanische Stadt genannt wird, und es um einen Figaro und zwei verliebte Frauen geht, ist die Musik des Komponisten Gioachino Rossini noch lange nicht spanisch. Das ist italienische Klassik, wie sie leibt und lebt. Sie fängt als Einleitungssinfonie gleich rhythmisch spritzig an - wer den Film mit Adriano Celentano gesehen hat, worin er als Busfahrer um Ornella Muti wirbt und für sie ein Ständchen vor dem Fenster dirigiert, weiß sofort, um welches Stück es sich handelt. Auch von Järvi dirigiert ist es ziemlich lustig, wenn er mit den Geigern eine mimische Gedankenkonversation führt.

Diese Theatraliät bringt gleich darauf auch Starbariton Morten Frank Larsen - einer der momentan besten, bühnenpräsentesten Sänger der Szene, wie auch in Sophie´s Choice an der Volksoper zu sehen war - als Figaro in seinem Kavatinen-Solo Nr.2 sprühend und charismatisch unter, indem er sich als Friseur selbst lobt und gratuliert, die Arbeit ihm aber dann zu viel wird, sodass es ihm am Ende "gekonnt" die Stimme überschlägt. Weniger gewollt passiert das ganz kurz Annely Peebo als Rosina. Sie grinst in ihrem nicht wirklich geschmackvollen, türkisen Blumenkleid staatstragend ins Publikum, vermag es aber, mit ihrem vollen Mezzosopran die leichte Hinterlist anzunehmen, von der sie im Text singt. Danach wird´s unbedeutend: das Duo, das Trio, die Arie von Sopranistin Barbara Paya - es wirkte am Ende nur wie ein Teaser für die komplette Aufführung der Oper im Festspielhaus St. Pölten. Nur dass dort eine besondere szenische Herangehensweise wartet: Mit lebensgroßen Puppen.

Kristjan Järvi ausnahmsweise nicht rasant, dafür intensiv

Durchgehend stimmig wird´s nach der Pause. Die gespielten Komponisten des 19. Jahrhunderts haben das spanische Flair in ihrer Notation berücksichtigt. Järvi lebt völlig mit und steckt das Publikum mit seiner Freude an. Im komplexen Espana von Emmanuel Chabrier sprüht die rhythmische Verve im Dreivierteltakt nur so rüber, während die Streicher eine überdimensionale Gitarre imitieren. Das ist griffig und körperlich, sodass Järvi nicht um seinen berühmten Sprung als Schlußtaktierung umhin kommt. Gesteigert wird das spanische Lebensgefühl in Nikolai Rimski-Korsakows beschwingtem Capriccio espagnol, was der Komponist durch folkloristische Zitate und Anspielungen an spanische Volkslieder- und Tänze erzielt, wobei im Grundmotiv-abgewandelten zweiten Abschnitt auch wehmütig Russisches einfließt. Darauf folgt eine Zigeuner-Weise, wo der brillante Geigen-Solist sein ganzes Temperament los werden kann. Im Finale animiert Järvi mehrere Solisten (Querflöte, Klarinette, Harve) gleich einem wendigen Stierkämpfer mit jeweils anderer Bewegungssprache zu ihren charaktervollen Musikabschnitten, die trotz der Wechsel und Eigenständigkeit eine Einheit ergeben. Das könnte fast einem Jazz-Arrangement entlehnt sein. Das Ende ist hinausgezögert, kommt dann aber laut und dumpf.

All das mündet in Maurice Ravels Minimalismus- und Techno-Vorläufer, der der Aufführung den Titel gibt: Bolero. Dasselbe Motiv in Variationen von Blasinstrumenten soliert, schleppt sich das Stück in marschmäßig intellektuell-gedehntem Rhythmus gleich einer Wüsten-Karawane durch die Zeit. Die unzähligen Anläufe dirigiert Järvi diszipliniert besonnen. Denn sagte Ravel, "spielt man den Bolero schnell, so scheint er lang; spielt man ihn langsam, so scheint er kurz", so kommt´s bei Järvi weder kurz, noch lang, sondern einfach richtig, mit Highlights wie der "betrunken" klingenden Trompete und einem immer lauter werdenden Finale, als würde das Tonkünstler Orchester Niederösterreich dem Publikum eines sehr eindringlich einreden: Denk jetzt an nichts, denn das ist eine Hypnose.



WIENER MUSIKVEREIN KRISTJAN JÄRVI REALISIERT SEINE ROCK-SYMPHONIE-VISION IN BEETHOVEN IN AMERIKA - DAS BISHER STÄRKSTE TONKÜNSTLER-KONZERT

Den Weg des Kristjan Järvi bezüglich seiner Rock-Symphonieorchester-Vision zu verfolgen, gewinnt an Spannung. Beethoven in Amerika am 6.3.07, nur wenige Tage nach dem Bolero-Konzert im Wiener Musikverein, war atemberaubend. Das Tonkünstler Orchester Niederösterreich wurde unter Järvi zur Ausgeburt einer teuflisch temperamentvollen, hundertköpfigen Red-Hod-Chili-Peppers - Kampftruppe. Zwar bei Béla Bartóks Konzert für Orchester, das der Ungar 1943 im amerikanischen Exil geschrieben hat. Dass es zu diesem Exzess kommen konnte, zeichnete sich schon vorher ab: bei John Adams´ The Chairman Dances aus dem Jahr 1985 und Ludwig van Beethovens Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5 Es-Dur op. 73 (1809).

Wie immer bei Järvi wurde also ein Spagat durch die Geschichte gezogen, diesmal war er musikalisch auch nachvollziehbar, sprich nicht nur ein Themen-Aufhänger "Klassik und Amerika". Er war schon von der unterschiedlichen Tonarchitektur der Stücke und ihren Bezügen zueinander her interessant. Amerikaner John Adams, Jüngster der drei Komponisten, schachtelt seine in sich geschlossenen Musikpassagen übereinander, sodass sie in Überlagerungen Cluster bilden. Eingeleitet wird das in minimalistischen Wiederholungen und versetzten Sätzen, wobei die sich im Einsatz befindenden einschlägigen Intrumentengruppen im Saal auch noch zu akustischen Verlagerungen beitragen. Innerhalb dieser Überschachtelung von Gershwin-, Bernstein- und Bigband-Anspielungen kommt es zu dem im Titel angesprochenen "Tanz", wobei Adams das Bild der tänzelnden Gattin von Mao Tse Tung vor sich hatte, bei dem Präsident Richard Nixon zu Gast ist: "ihre Bewegung" ist ein sehr subtiles, dünnes und feines Tongewebe an Pseudo-China-U-Musik, das die "klobigen Staatsherren" zwischendurch verführerisch aus der Bahn wirft. Järvi ersteigt dieses unterhaltsame Intellektuellen-Hochhaus, wie den ganzen Abend, in scharf gezeichneten Kontrasten und läßt ihn in ungewöhnlichem Klavier-Reibe-Schlagzeug-Getöne ausklingen.


Die interessanten zwei "Bs"

140 Jahre vorher hat Beethoven sein eins-nach-dem-anderen erzählendes Klavierkonzert Nr. 5 geschrieben. Er gilt vor allem in Amerika als Ausgangspunkt vieler Zeitgenossen. Bevor man das merkt, beginnt seine Musik nach Adams´ vielfach "geklopftem" Werk gedehnt und sanft und damit gefühlsmäßig nachvollziehbar. In den laut-leise, schnell-langsam abrupt wechselnd gespielten Klavier-Solo-Passagen von Antti Siirala kann man den Rebell Beethoven bald ausmachen. Die Musikrevolte wird allerdings immer wieder durch das Leitmotiv und den Orchestereinsatz gebändigt. - Denkt man sich anfangs, dass der junge Pianisten-Finne ruhig noch temperamentvoller und aggressiver sein könnte, beschließt man ab der Mitte, das wieder zu revidieren: denn da offenbart er, wie sehr sich jemand innerhalb gegebener tonaler Grenzen beschweren kann. - Selbst wenn Järvi dies bei Bartók als Dirigent und Persönlichkeit noch toppt.

Das liegt grundsätzlich an der sehr dramatisch angelegten Komposition Bartóks, die er - an Leukämie erkrankt - als letzte Lebensbejahung in fünf Sätzen notierte. Die Klage beginnt geheimnisumwittert, äußert sich aber bald sperrig, abstrakt und fordernd. Järvi ist zum aggressiven Heerführer mutiert. Er treibt die hellwachen Tonkünstler bis zum äußersten Angriff, während sie ihre Fanfaren in ungarischem Kolorit "blasen", um sie im zweiten Satz sogleich wieder in lustigem Gegensatz und sehr komisch davon abzulenken. Das nützt aber nichts. Es kommt zum leidenschaftlichen Aufschrei in abrupten Instrumentenblöcken und endet im Spiel der wehleidigen, einsamen Querflöte. Sie lockert sich wieder ein wenig auf, indem ihr die Streicher etwas sehr Schönes erzählen. Doch alle zusammen wissen im Grunde doch - geführt von einem sehr männlichen, aufbegehrenden Kristjan Järvi - dass die Bedrohung rundum nicht aufzuhalten ist. Abstrakt, dramatisch abgewehrt, kommt sie doch ohne Kompromisse in kurzer Zeit: Béla Bartók starb neun Monate nach der Uraufführung des Werks. e.o.


DAS URTEIL BOLERO: SPANISCHES PATCHWORK, DAS NICHT NUR SPANISCH KLINGT. EIN ERSTER TEIL MIT THEATRAL-STARKEM ANFANG. EIN ZWEITER TEIL VON MUSIKALISCH ERLEBTER GRÖSSE.
BEETHOVEN IN AMERIKA: JÄRVI HAT AUS EINER MUSIKARCHITEKTONISCHEN STÜCKEANREIHUNG EIN ROCKIG-DRAMATISCHES ERLEBNIS GEMACHT. SPANNEND WIE EIN KRIMI!

Achtung Jazz-Bigband-Highlight: JÄRVI-KONZERT MIT SEINEM NEW YORKER ABSOLUTE ENSEMBLE:
Forgive me, is this the Way to the Future? * Mit: Kristjan Järvi und Absolute Ensemble * Mit: Goran Bregovic Wedding and Funeral Band * Ort: Konzerthaus Wien, Grosser Saal * Zeit: 29.04.2007: 19h30

Wednesday, February 07, 2007

MUSIK: ENTDECKUNG JON REGEN AUF "ALMOST HOME"-TOUR IN WIEN

Cover der CD Almost Home von ©Jon Regen.






Jon Regen mit seinen aus Großbritannien importierten Sidemen an Baß und Schlagzeug: gefühls- und energiegeladen bestritten sie ihr Blues´n´Jazz-Konzert im Wiener Birdland, Fotos © Elfi Oberhuber





BIRDLAND MIT DER NEW YORKER ENTDECKUNG JON REGEN STIRBT "BILLY JOEL" NICHT AUS. BEI SEINEM LIVE-KONZERT IN WIEN BEWIES DER ENTERTAINER AUSSERDEM, DASS ER EIN GROSSER JAZZ-PIANIST UND "THE POLICE" - INTERPRET IST. UND SEIN CHARME IST GERADEZU STÜRMISCH

Mit geballter Ladung Präsenz sitzt er hinter seinem Klavier. Bevor er sich wie nebenbei, aber zielsicher "seinen" Tasten widmet, schmettert er einen handfesten Witz von sich. Doch nichts ist bei diesem Mann aufgesetzt, alles strömt als natürliche Energie und Leidenschaft aus ihm heraus. Selbst seine anspruchsvollen Jazz-Soli, die er als Zwischenspiel in seine Blues-Songs einbaut, sind Klangerlebnisse, die mehr aus dem Körper, als aus dem Geist fließen, während er leicht und unsentimental von seinen innersten Sehnsüchten und Gedanken singt. Jon Regen ist schlicht und ergreifend ein Schatz, ein Hitzefeuer an genußsüchtigen Sinnesfreuden.

Diesen Eindruck hinterließ die neueste Entdeckung aus New York mit seinem "The Jon Regen Trio" (Klavier + Gesang: Jon Regen, Bass: PJ Phillips aus GB sprang kurzfristig für Jonathan Sanborn ein, Paul John Miller am Schlagzeug für Eric Addeo) Samstag abend, während seines Konzerts im Wiener Birdland, wo es im Rahmen der Almost Home - Großbritannien - Wien - Italien - Tour stationierte. Doch spielte Regen nicht nur Songs seines bisher größten Einspielerfolgs, sondern auch Neues, das Anfang April 2007 auf seiner Let It Go-CD zu hören sein wird. Dem ihm - trotz interessanterer, da herberer, Stimme - anhaftenden "Billy Joel"-Vergleich wird er darin in Lied-Arrangement und Melodiebau wieder gerecht. Der augenscheinliche Bezug besteht aber eher nur live, wie während des Solo- bzw. Trio-Auftritts zu hören war. Denn die neue CD soll "popiger" nach "The Police" und "Sting" klingen, da sie mit zusätzlichen Instrumenten, Musikern und Stimmen (Ex-The Police-Elektrogitarrist Andy Summers (!), den Sängerinnen Martha Wainwright / Kami Thompson, Schlagzeuger Matt Johnson, Cellistin Julia Kent und Gitarrist Jimmy Vivino) sowie von Produzent Brad Albetta aufgenommen wird, zu dessen Schützlingen Martha Wainwright, Teddy Thompson und der derzeitige Senkrechtstarter Sean Lennon gehören.

Jon Regen birgt allerdings noch viel mehr Facetten in sich. Und das macht ihn so hinreißend: Schon die Zusammenarbeit als Sideman von Jazz-Sängerikone Jimmy Scott und -Bassist Kyle Eastwood läßt erahnen, wieviel technisches Piano-Virtuosentum in ihm stecken mag. Bestätigt wird das in seiner CD Tel Aviv, die der 36-jährige Steinway-Artist-Titelträger 2001 aufgenommen hat.

Jon Regens Liebesodyssee

In einer Zeit exzessiven Tourens 2002/03 fielen Regen die schönsten Liebeslieder ein , die er in einsamen Stunden an seine damalige Freundin (und spätere Ehefrau?) richtete. Jede andere Frau, die sie hört, wünschte, er (= ein Mann) würde ihr Solches sagen: "Hotelbars und Limousinen sind nett, doch ich würde lieber meine Tage mit dir verbringen, als Cocktails mit Fremden zu trinken. Die Weckrufe am frühen Morgen klingen nicht nach dir und riechen nicht wie du. Alles sagt mir, wie weit du von mir entfernt bist.... Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich vermisse, den Geschmack deiner Lippen, die Berührung deiner Fingerspitzen. Wenn du dein Herz offen hältst, verspreche ich, dass ich bei dir bleiben werde." - Dieser Titel Hold-Out Your Heart ist das Eröffnungslied seines Konzerts, worauf später noch rhythmisch beschwingt bis getragen sehnsuchtsvoll Better Than Before, A Hundred Days und I Will Be Here folgen, Gedanken, worin er seine eigene Besserwerdung dank "ihr", sein inneres Ankommen zu "ihr" bekennt, wo er aber auch von der Angst spricht, dass "sie" ihn vielleicht gar nicht mehr wollen könnte. Dass diese Hingabe ihn aber zuvor einen Selbstfindungsprozeß in harter Arbeit durchmachen lassen hat, gibt er 2000 mit der CD Tel Aviv zu, wo er im Song Get Out Of Town meinte: "Verschwinde, du berührst mich zu sehr, also verlasse die Stadt!"

Nach seiner Scheidung befinden sich seine Triebe heute wieder auf rastloser Odyssee: Er beklagt sich während des Konzerts vor einem rockigen Jazz-Klavier-Solo, dass ihn eine Frau wegen eines viel weniger Attraktiven verlassen habe. In The Last Song macht er entgültig Schluß mit "ihr ", doch ist er in It´s All Right By Me auch damit zufrieden, wenn er "sie nur heute Nacht halten kann". Den Titel I Fell in Love With A Lesbian hat er schließlich zu Let It Go umbenannt, wie er larmoyant in der Einleitung erklärt, weil man so einen Titel einfach nicht behalten könne. "Aber das nächste Mal soll so eine doch bitte vor den vielen Abendessen sagen, dass sie lesbisch ist!", fügt er im Nachsatz hinzu... und haut mit Freude in seine Tasten, sodass es eine wahre Freude ist! - Diese traurige Heiterkeit ist die generelle Symbiose aus Texten, Spiel und Performance dieses - wie es scheint - typischen Stier-Geborenen. Wobei die Texte in virtuosen Wendungen auch sprachliche Qualität besitzen.

Von der Selbstreflexion zu "The Police"

In der CD Almost Home bezogen sich die Reflexionen des Jon Regen in erzählerisch poetischer Weise wie in What Am I Supposed To Do From Here auf Entscheidungen, die auch von späterem Standpunkt aus betrachtet noch die Richtigen sind, bzw. in Little One auf liebevolle Ratschläge an ein Kind, sich in Ruhe mit einem Schritt vor dem nächsten zufrieden zu geben, denn die schnelle Welt sei verrückt. Und auf der CD Let It Go denkt er auch politisch: in Better Days ist er "reif für bessere Tage", in Don´t Stop To Believe ruft er dazu auf, "nicht aufzuhören zu glauben", und in I Come Undone widmet er sich einer verstorbenen Freundin.

Scheint Let It Go als CD auch im Klang teilweise nach "The Police" zu klingen, so hat Regen im Live-Programm zwei echte "The Police"-Nummern, die er auf sehr interessante Weise und hochwertig verjazzt. Lediglich die Textzeile How Fragile We Are läßt noch eindeutig das Original erkennen. Mehr von diesem "echten" Jazz würde die Musik insgesamt noch ein bißchen mehr aufwerten - sofern das überhaupt möglich ist. e.o.


DAS URTEIL JON REGEN IST ALS ENTERTAINER EIN FREUDIGES ENERGIEBÜNDEL, ALS TEXTER EIN SENSIBLER GEFÜHLSMENSCH UND ALS JAZZ-PIANIST EIN GROSSER VIRTUOSE. EINE INTERESSANTE MISCHUNG ALSO, DIE SICH HOFFENTLICH NICHT ZU SEHR IN RICHTUNG POP ENTWICKELT, WIE ZULETZT ETWA JAMIE CULLUM. LIVE WAR DAVON GLÜCKLICHERWEISE NICHTS ZU MERKEN. SPRÜHEND!

Auf intimacy: art (www.intimacy-art.com) in artists / talks / visions spricht Jon Regen im O-Ton über seine tatsächliche Einstellung zu Musik und Liebe!


CDs: Tel Aviv 2001 * Almost Home 2004 * Let It Go: erscheint Anfang April 2007 * link: www.jonregen.com

Monday, February 05, 2007

OPER: PETER PAWLIKS "AGRIPPINA" ALS BAROCKE DALLAS-SITCOM

Gelungene Katharsis-Szene mit weißen Bademänteln und ironischem Touch: Claudius (mit der schönsten Stimme des Abends: Bariton Philip Zawisza in der Mitte) verzichtet auf seinen Thron, ganz nach Wunsch seiner intriganten Gattin Agrippina, die ihren Sohn Nero als neuen Kaiser sehen wollte, Foto: © Christian Husar

"Nero(ne)" als Punker: die Sopranistin Marelize Gerber, die zu großen Charakterrollen fähig wäre. Dahinter: die ehrgeizig-intrigante Mutter Agrippina (deutsch-frauig-überzeichnet: Wiebke Huhs), © Christian Husar

Links: Ein Regie-Holperer: Der eitle Ottone wirkt zwar schwul (Armin Gramer), liebt aber Poppea. © Christian Husar
Rechts: Auch Claudio steht eigentlich auf Poppea: Romana Beutel (sexy-elegant und mädchenhaft - zweiteres ist sie auch stimmlich: Romana Beutel), © Christian Husar


KAMMEROPER WIEN WENN LAUTER SCHWUL WIRKENDE MÄNNER MIT EUNUCHEN-STIMMEN FRAUEN LIEBEN, VON DENEN SIE MANIPULIERT WERDEN, IST DAS ENTWEDER UNGLAUBWÜRDIG ODER EINE SITCOM-GROTESKE. ZWEITERES HAT SICH PETER PAWLIK IN SEINER AGRIPPINA-INTERPRETATION ERHOFFT ...

Peter Pawlik ist einer der wenigen Regisseure, der an der Wiener Kammeroper öfter als ein-zweimal inszenieren darf. Anderen sichtlich erfolgreichen Begabungen wäre das ebenfalls zu wünschen... Dass Pawlik jemand ist, an dem man "dran bleiben" soll, war nach seiner Version von John Gays Barockoper Beggar´s Opera klar. Pawlik denkt sehr stark in Details, das macht seine Arbeit interessant. Und seine ständige Bühnenbildnerin Cordelia Matthes steht ihm dabei in Nichts nach: Man staunt und ist berührt, was für einen Aufwand sie für manche Minimalszene leistet, indem sie etwa einen Riesen-Einbaukasten für ein paar Minuten Spielzeit designt, worin sich der geliebte Held kurz versteckt. - Konkret handelt es sich hierbei um Ottones Szene in Agrippina, die neue Barockoper der Kammeroper. - Das Duo Pawlik/Matthes hat sich also wieder bewährt, auch wenn´s diesmal insgesamt nicht so eingeschlagen hat. - Schon da die Regielinie ab der Mitte bricht.

Parodie - gut gemeint, aber...

Dass Pawlik das Ganze parodistisch angeht, ist zunächst stimmig und paßt zu Komponist Georg Friedrich Händel: Die Charaktere der antiken Geschichte strotzen vor satirischen und grotesken Überzeichnungen, was in der Barockzeit, als die Komposition geschrieben wurde, zwar wegen der manieristischen Tradition noch nicht so spöttisch wahrgenommen wurde, heute aber umso dominanter sein mag. In einem Umfeld von lauter Eunuchen (Countertenor)-, Tenor- und Sopranstimmen, wohinter sich große Herrscher und Helden verbergen, besticht aus heutiger Sicht nun mal die Atmosphäre der "Tuntigkeit".

Glaubwürdig realistisch erscheinen nur die Frauencharaktere, die im Mittelalter eher grotesk gewirkt haben mögen. Wenn Agrippina aus Köln - was einst zum römischen Reich gehörte - als Urenkelin des ersten römischen Alleinherrschers Augustus und eigentliche Thronfolgerin, Macht ausüben will und es nur nicht darf, weil sie eine Frau ist, muß sie halt dreimal heiraten, darunter auch ihren Onkel Kaiser Claudius, damit wenigstens ihr Sohn Nero aus erster Ehe den Thron besteigen kann. - Das versteht die Menschheit heute, allein aus Gründen des Mutterstolzes.

"Schwulige" Männer lieben Frauen mehr als Macht

Als es scheint, als wäre Claudio auf der Schiffsreise umgekommen, sieht Agrippina den Zeitpunkt gekommen, den als Punker in Sängerknabenanzug interpretierten Nerone (Sopranistin Marelize Gerber, die in der späteren Mutterloslösungsszene erahnen läßt, dass sie mit ihrem ergreifenden Gesangsausdruck für ganz große Charakterrollen geeignet wäre) als neuen Kaiser auszurufen. Dafür manipuliert Agrippina - der große Widerspruch - die beiden homosexuell wirkenden "Verehrer" Pallante und Narciso - wobei sie (die deutsche Sopranistin Wiebke Huhs) zu offensiv intrigant und unsympathisch spielt, sodass das erst recht eigenartig erscheint. Regisseur Pawlik kompensiert das, wie erwähnt, mit der Parodie, wobei der dann doch zurückkommende Claudio ein ziemlich doofer Jammerlappen ist (obwohl er, dargestellt von Philip Zawisza wieder eine sehr schöne, charakteristische Baritonstimme hat!).

Hinzu kommt, dass all diese (Un-)Männer auf die schöne Poppea stehen - auf Romana Beutel, ein angenehmer Anblick mit mädchen-typisch klarer Sopranstimme. Vor allem der extrem hoch singende, mit Gesichtsmasken hantierende, absolut schwulig-eitle Ottone (Armin Gramer) ist ihr erlegen, dessen Liebe Poppea erwidert (???). Die sich wiederholenden Text- und Musikzeilen der barocken da-capo-Arie nützt Pawlik für ironische Steigerungen, die Handlung läuft zuwider dem Gesangstext und interpretiert ihn spöttisch um. Das ist immer wieder lustig, wird manchmal aber kindisch. Was wohl auf Pawliks Subcharakterisierung bei der Rollengestaltung zurück zu führen ist: Agrippina soll "JR", Ottone "Bobby" und Claudio die "Miss Ellie" aus der amerikanischen 80-Serie Dallas entlehnt sein. - Aber vielleicht ist unsere Fernsehgeneration ja tatsächlich so beklagenswert geschmacklos und verblödelt, dass es schon wieder zynisch treffend ist.

Die ganze Geschichte zieht sich hin, so spaßig und unterhaltsam sie erzählt ist. Irgendwie spürt man, dass selbst Pawlik die Lust an diesem Zugang verliert, denn nach der Pause wirds ganz ernst. Das ist ein Stilbruch mit Langweil-Potential, sodass man sich freut, wenn - nach der typischen Katharsis-Endlosszene - das untypische Ende endlich offenbart ist: Nero bekommt den Thron, auf den Claudio verzichtet. Und Ottone, der ebenfalls auf den Thron spähte, entscheidet sich ausschließlich für die Liebe mit Poppea. Dr. Wild / e.o.


DAS URTEIL REGISSEUR PETER PAWLIK HAT ZUNÄCHST SPASS AN IRONIE, ZYNISMUS, GROTESKE UND DETAILS. LEIDER ZIEHT ER DAS NICHT DURCH. VIELLEICHT WÄRE EINE ERNSTHAFT BAROCK-STILISIERTE INTERPRETATION DOCH BESSER GEWESEN. SEHENSWERT IST DIESE AGRIPPINA ALS MUTIGER ANSATZ ABER SICHER.

Oper Agrippina * Von: Georg Friedrich Händel * Musikalische Leitung: Bernhard Klebel * Inszenierung: Peter Pawlik * Mit: Philip Zawisza, Wiebke Huhs, Marelize Gerber, Romana Beutel, Armin Gramer, Valmar Saar, Gerhard Hafner, Sebastian Huppmann * Mit: Barockorchester der Wiener Kammeroper auf historischen Instrumenten * Ort: Kammeroper Wien *Zeit: 06., 08., 10., 13., 15., 17., 20., 22., 24., 27.2.2007: 19h30

Friday, February 02, 2007

MUSIK + LITERATUR: "DER SEELEN WUNDERLICHES BERGWERK" MIT DEN MORETTIS


Für die Ruhrtriennale mag das Auftragswerk Der Seelen wunderliches Bergwerk noch passender gewesen sein, wie die felsenreichen Szenenfotos zeigen. Aber auch im Theater an der Wien, im Bühnenbild der Idomeneo-Inszenierung war es gerade noch glaubwürdig: dank des starken Tobias Moretti und den virtuosen Musikern von moderntimes.
Fotos: © Ursula Kaufmann/RuhrTriennale 2005, Tobias Moretti & Kammerorchester moderntimes © Armin Bardel 2007



Der Kampf des Urmenschen Moretti mit dem "industriellen Klavier" - Ruhrtriennale und Theater an der Wien im Vergleich: Tobias Moretti & Natalia Grigorieva
© Ursula Kaufmann/RuhrTriennale 2005, © Armin Bardel 2007



THEATER AN DER WIEN EIN MUSIK- UND TEXTEXPERIMENT VON ZEITLOS ARCHAISCHER ELEGANZ UND MENSCHLICHER LEBENSFREUDE: DER SEELEN WUNDERLICHES BERGWERK MIT DEN MORETTIS UND MODERNTIMES


Was hat das Leben dem Menschen zu bieten, zwischen Mittelalter, industrieller Frühzeit und heutiger Computer-Realität? Eines sicher: Dass er "essen, arbeiten und trinken muss - viel trinken, da er nichts anderes tun kann." - So lautet der heitere Schlußsatz von Schauspiel-Star Tobias Moretti, begleitet von seinem narrenhaften Akkordeon-Alter Ego, Siggi Haider. In der szenischen Zeitreise aus Sprache und Musik Der Seelen wunderliches Bergwerk ist das Leben aber zu keiner Zeit leicht, man kann nur immer wieder versuchen, es positiv zu sehen: All die Anhäufung von Äußerem und Privatem, von Willkürtaten und Wunschhandlungen, von Ereignissen und Schicksalhaftem.

Dann soll es sogar geschehen, dass selbst die Kehrseite des Lebens - Tod und Vergänglichkeit - zu zauberhafter, lebendiger Poesie wird, indem sie für den Fortgang steht. Gerade als hätten die Dichter Hebel, Trakl, Heine, Grillparzer, Enzensberger, Rilke und Celan zusammen eine Geschichte verfaßt, obwohl sie doch ursprünglich unabhängige, eigenständige Gedichte und Erzählungen geschrieben hatten, geschweige denn, dass sie einander gekannt hätten. Wachsen ihre Wortgebilde und Satzwandlungen zu Bildern, ist es, als wären sie eins, dann gibt es kein Entrinnen mehr, vor der bindenden Emotion, den wenigen, wichtigen Lebensfragen, die jeden Menschen betreffen.

Die Last des L(i)ebens im Bergwerk

Diese Last des Lebens ist schwer und reich, beginnt rhythmisch und dramatisch mit viel Moll und wenig Dur als Musik des 18. Jahrhunderts von Joseph Martin Kraus, Wolfgang Amadeus Mozart und Joseph Haydn, kraft- und farbvoll gespielt vom ausschließlich aus 15 Streichern und fünf Bläsern bestehenden Kammerorchester moderntimes. Symbolreich lädt Moretti diese Musik durch seinen charismatisch, archaisch und teilweise auch unheimlich "auf allen Vieren kriechend" vorgetragenen Text auf, der von der Idee einer Frau handelt, die ihren Bräutigam verlor und ihn im Alter wieder fand, als vereiste, erhaltene Leiche. Er sieht wie damals aus, als sie ihr Leben mit ihm verbringen wollte. "Was die Erde einmal wieder gegeben hat, wird sie zum zweiten Mal auch nicht behalten", ist ihre hoffnungsvolle Antwort auf ihren Fund, was für nichts anderes steht, als für die ewige Sehnsucht nach der Beständigkeit des Glücks, das stets zu schnell vergeht. - Im harten Zeitalter des "Bergwerks", währte es als "bescheidenes Glück" noch kürzer, wohl war es aber umso intensiver und wertvoller.

Solchen Zeiten daher eine Auflockerung, zustande gebracht mit Dmitrij Shostakowitschs irrem Walzer Nr.2: wie im Karneval geraten die jetzt herumstreunenden Musiker des Kammerorchesters spielend durcheinander, entwurzelt wandern sie umher, während sich die Lautstärken ihrer Instrumente verlagern. Sie suchen nach neuem Halt und finden ihn in der Industriemusik, dem lärmenden Industriezeitalter. Ein Klavier wird rasend schnell herein geschubst, dazu eine puppenhafte Flügelvirtuosin (Natalia Grigorieva), die spielt wie es ihr paßt, mit ihren eigenen, innewohnenden, technischen Gesetzen, da kann der Urmensch Moretti noch so oft die Noten wegziehen und sich an ihr ärgern.

Die Last des L(i)ebens im Industriezeitalter

Doch mit dem nun eis-eleganten Stück Summa aus dem modernen Norden kehrt wieder Ruhe ein. Auf jene zauberhaft entrückte Weise, die dem Namen des Kammerorchester gerecht wird: Komponist Arvo Pärt versetzt alle Vergangenheit ins Jetzt, in schönste Endzeitmusik ohne Ende, in unendliche Ahnung vom Glanz ohne Eitelkeit, in ewiges Loslassen aller Zwänge. Wenn das unsere Moderne sein soll, dann ist sie gut und begehrenswert. Ein erster Moment im Abend, wo sämtliche künstlerische Höhen erreicht sind, wo alles stimmt.

Seinen Fortgang nimmt es in Benjamin Brittens Pan, ein Oboen-Solo von Orchesterleiterin Julia Moretti, die erstmals aus der hinteren Reihe hervor strahlt. Sie spielt vom "Weg des Todes", der leise, lange, beharrlich und unausweichlich ist. "Es ist wahr, dass der Tod die Liebe wie Eis konserviert, der Schmerz wird nicht weniger" - ist die Assoziation ihres Mannes dazu. Stirbt oder entschwindet jemand, den wir liebten, stirbt auch ein Teil von uns, der gleichzeitig durch den Schmerz weiter erlebt werden muss. - Das ist das Los der Bindung und der Liebesentscheidung, die zu allen Zeiten gleich ist. Sie ist verwundbar schön und voller Erinnerung, wie sie nur der großartige Violonist und eigentliche Leader des Musiker-Ensembles, Ilia Korol, in Frank Martins zeitgenössischem Polyptyque, Image de la Chambre Haute wiederzugeben vermag. e.o./r.r.


DAS URTEIL EIN WUNDERBARER ABEND, DER VORGIBT, WIE DAS THEATER AN DER WIEN LANGFRISTIG ERFOLG HABEN WIRD: ALS GESCHMACKVOLLE, MODERNE, HOCHSTEHENDE EXPERIMENTIERSTÄTTE ENGAGIERTER VIRTUOSEN UND KÜNSTLER ALLER KUNSTGATTUNGEN.

Szenische Lesung mit Musik: Der Seelen wunderliches Bergwerk * Mit: moderntimes + Tobias Moretti * Medium: Radio Ö1: Aus dem Konzertsaal * Zeit: 25.2.2007, 19h30