Wednesday, January 30, 2008

MUSIK/THEATER: ANARCHISCHER GORAN BREGOVIC IN "KARMEN WITH A HAPPY END"

Charismatiker Goran Bregovic mimt in seiner Carmen-Oper den trommelnden Rezeptionisten, der die Hure Karmen und ihren Zuhälter Ceausescu aushorcht.

Karmen (Vaska Jankovska) wird von zwei barden-duellierenden Trompetern umworben: von Polizei-Blaskappellenchef Emilio (Dalibor Lukic) und von Onkel Fuad Kostic (Bokan Stankovic).

Davon gibt es selbstverständlich eine CD, weil Bregovic selbst auf der Opernbühne ein Konzert-Komponist bleibt, der lediglich inhaltlich fortlaufende Lieder schreibt ...


THEATER AN DER WIEN GORAN BREGOVIC LÄSST IM BÜRGERLICHEN ETABLISSEMENT DIE SAU RAUS UND IST MIT HURE KARMEN UND ZUHÄLTER CEAUSESCU DENNOCH AUF NIVEAUVOLLEM TERRAIN: WEIL ER MIT KARMEN WITH A HAPPY END DIE ZYNISCHE WAHRHEIT UNSERER ZEIT OFFENLEGT

So ein Jux. Ja, Goran Bregovic macht sich einen Jux aus dem Genre Oper, und er hat damit vollkommen recht. Weil das die einzige Art ist, die zu ihm, seiner Musik, seiner Identität paßt, sodass sein kühnes Rockprojekt von der Bizet-Carmen-Adaption mit Titel Karmen With A Happy End als "einzige Oper, die wir Zigeuner haben" auch aufgehen muß. Das bespickt er mit einer höchst persönlichen, bitter-zynischen Kritik bezüglich des jetzigen westlichen Show- und TV-Biz. Hut ab, vor dieser Komplexität an Spott und Ironie, was für einen in unserer Zeit so raren echten und starken Charakter steht. Dass mancher Carmen-Nostalgiker vorzeitig das Theater an der Wien verließ, weil er das alles offensichtlich nicht begreifen wollte, um sich seine Festgefahrenheit zu bewahren, ist umso bedauernswerter. Es beweist in doppelter Sarkastik, dass künstlerische Wahrheit für viele "bessere" Menschen ein von Vormachern geleiteter Wert, wenn nicht ein Fremdwort ist.

Opernverarschung mit Stil

Dennoch blieb das bürgerliche Theaterhaus an der Wienzeile gesteckt voll. Es liegt an den anderen vielen Menschen serbokroatischen Hintergrunds sowie an den vielen Fans, die der "balkaneske Popmusiker" Goran Bregovic seit seiner Emir-Kusturica-Filmvertonung für sich verbuchen kann. Für all jene Besucher ist die profane Art, Oper zu spielen, auch gar nichts Neues, weil sie wahrscheinlich weder je eine sahen, noch kennenlernten. Das, was sie hier sehen, ist für sie "ein gewohntes Balkankonzert aus Liedern", wo einfach eine Nummer nach der anderen eine fortlaufende Geschichte erzählt. Als Spott auf den elitären Theaterverlauf des Opernwestens, umgekehrt aber auch in respektvoll huldigender Anlehnung auf die folkloristische Tradition des östlichen, "zigeunerischen" Mugam, wird die Geschichte verstärkend und einleitend vorab des melodischen Teils von - aus dem Publikum auftretenden und redenden - Musikern aus dem Bregovic-Orchester geschildert. Diese Story hat es in sich, denn sie treibt die vielen Namen, die der Besucher für gewöhnlich in der "akademischen" Oper lesen muss, um überhaupt mitzukommen, samt der obligatorisch verstrickten Handlung, verdoppelnd und verschachtelnd auf die Spitze. - Auf der Übertitel-Tafel steht, dass man sich vor dem Start die Inhaltsangabe durchlesen soll. Das ganze Ereignis ist damit auf doppelbödige Weise reinste Anarchie zulasten kultureller Instititutionsmacht, zugunsten eines erstarkenden Minderheitenbewußtseins, indem jede konventionelle Form parodiert, und die Ausbeutung des armen Volkes demonstriert wird. Dabei wollen "die Armen" über das Zigeunertum hinaus allgemein verstanden werden, sodass sich wiederum jeder Durchschnittbürger dieser Erde angesprochen fühlen kann. Und in diesem gezogenen Bogen - von der kleinen Minderheit zur großen "Bemindert-sein-heit" -, darin liegt die künstlerische Leistung des Goran Bregovic. Abgesehen davon fetzt seine Musik mit sechs Bläsern (darunter der geniale Saxofonist Stojan Dimov), den zwei Trommlern und sporadischem Akkordeon. Sie fährt einfach unter die Haut.

Von der grotesken Zuhältergeschichte ...

In dieser Geschichte ist Karmen "eine Hure mit der Stimme einer Jungfrau", die gleichzeitig in der Wahrsagerin Kleopatra steckt, die in einer Fernsehshow Leuten ihr Glück prophezeit - beides besetzt mit Vaska Jankovska, die tatsächlich spielt wie eine dümmlich-naive Hure und die die hell-klare Engelsstimme einer Jungfrau besitzt. Insider kennen sie als Bregovics Haupt-Solosängerin in der Wedding And Funeral Band. Ihr Liebesgegenüber ist der Müllmann Bakia bzw. dessen Trompete-spielende Onkel Fuad (Bokan Stankovic - ebenfalls bekannt aus der Band), den Kleopatra am Telefon als Nena, die Stripperin, verführen will. Kleopatra ist das ganze Stück über auf der Suche nach Bakia und Fuads Musikern, weil sie eine Show mit Fuads Musik machen will. Im Auto reist sie durch Europa. Sie stößt auf das Doppelbegräbnis von Onkel Fuad neben der nicht weit liegenden, an Aids verstorbenen Karmen. Und als Highlight der zynischen Groteske versteckt sich hinter dem Mann, der Karmen eine Karriere als Sängerin versprach, um sie aus ihrem sicheren Job in der Tabakfabrik zu locken und am "Bahnhof" auszunehmen, ein Zuhälter namens Ceausescu: der charismatische und körperlich Höchstes leistende Trommler Alen Ademovic. - Eine klare Anspielung auf (nicht nur künstlerisch) prostituierende Castingshows und parallel eine politische Anklage gegenüber der rumänischen Führungsmacht im Land mit den meisten Zigeunern (Roma).

Goran Bregovic steht selbst auf der Bühne: Er gibt sich den selbstironischen Part des "Brega", Schlagzeuger in Fuads Orchester, der außerdem als Rezeptionist im Bahnhofshotel arbeitet und uns als letzter Einleitungserzähler im edlen weißen Anzug unter all den Müllmännern mit angenehm tiefer Stimme weismacht, der ordinär über "eine-Hure-(Frau)-zu-befriedigen-wie-die-andere" redende Ceausescu habe Karmen geschlagen, weil er sie liebte... Paradoxerweise fruchtet denn auch die Liedzeile von den Huren am Müll über die bunte Welt am Bahnhof : "Die Welt ist eine Kuh. Sie aß alles, was sie besaß, und sie ist immer noch hungrig. Europa, brauchst Du Huren? Hier sind wir, 100 Euro Cash!" Zum Trost folgt darauf der verschärfend "beschwichtigende" Nachsatz: "Wir sind keine Huren, wir sind Prostituierte!" - Na, immerhin!

... zur bekennenden Zigeunerromantik

Weil Bregovic aber prinzipiell zur Lebensfreude steht, siegt am Ende die Liebe. Und zwar auf einen Sprung innerhalb der Geschichte: nach einem Trompetenduell-Bardenbattle der beiden um Karmen duellierenden Männer, kehrt der störend verstörte Polizist Emilio zu seiner früheren Geliebten zurück. Und nach dem offiziellen Ende kommt es in der Zugabe zur Doppelhochzeit, worin Wahrsagerin Kleopatra zu ihrem Angetrauten, Müllmann Bacia, sagt: "Deine sanfte Liebe ist wie ein Zigeunervogel. Manchmal fliegt er allein, manchmal fliegt er mit mir." Karmen therapiert sich als ursprünglich nur ihre Freiheit liebende "Carmen" selbst, indem sie jetzt weiß: "Den Lebenskoffer zu tragen, ist zu zweit leichter." - Und für uns, im Volkspublikum Verbleibende, gibt es noch mal das ermutigende Lied Gas, Gas mit auf den Weg, worin uns gesagt wird, wir sollten aufs Gas treten, "weil Gott sich freut, wenn arme Leute Feste feiern". Das muss man uns nicht zweimal sagen, die sexy Rhythmen begleiteten uns noch lange gut gelaunt Richtung nach haus - denn wer ist heute nicht gerne lieber arm, um sich selbst noch mögen zu können?! e.o.


DAS URTEIL EIN WAHNSINN DIESER BREGOVIC, FRECH, EIGEN. EINFACH TOLL!

MUSIK/THEATER Karmen With A Happy End * Von: Goran Bregovic (Libretto, Musik & Regie) frei nach Georges Bizets Oper Carmen * Mit: Wedding and Funeral Band: Vaska Jankovska, Bokan Stankovic, Dragan Ristevski, Goran Bregovic, Ljudmila Ratkova-Trajkova, Stojan Dimov, Alen Ademovic, u.a. * die gleichnamige CD (produziert 2007 von Mercury, Universal Music France) gibt´s im Fachhandel

Friday, January 25, 2008

TANZ: LANGWIERIGE "HETEROTOPIA" VON THE FORSYTHE COMPANY

Wenn ein Tänzer - bzw. Choreograph Forsythe (!) - nicht mehr weiß, wie er sich tänzerisch ausdrücken soll, ...

... sollte er sich vielleicht ein anderes Ausdrucksmittel suchen. (Fotos © Dominik Mentzos)


TANZQUARTIER WIEN DER GROSSE WILLIAM FORSYTHE TOURT MIT HETEROTOPIA KÜNSTLERISCH KLEIN DURCH DIE WELT - MAN HÄTTE IHM BESSER SEIN FRANKFURT BALLETT GELASSEN!

Nach Trisha Brown ist William Forsythe in dieser Saison der zweite legendäre US-Name im Tanzquartier, wo man sich denkt, woher "die Legende" bei diesem Tanzkünstler wohl stammen mag? Forsythes neue Arbeit Heterotopia ist zwar nicht ganz so peinlich wie es die wieder gezeigten 70-er Kurzstücke der Brown (click zur Kritik) waren, weil sie immerhin eine zusammenhängende Dramaturgie mit klarer Aussage aufweist, als Kunstwerk mit Anspruch hat aber selbst Österreich-Italiener Elio Gervasis kürzlich im Tanzquartier gezeigtes Aria mehr auf dem Kasten. - Die Kritik dazu reichen wir in Kürze nach. - Fast ist man gewillt, zu resümieren, dass die Sprache dieser US-gebürtigen zeitgenössischen Tanzikonen nur in Verbindung mit dem klassischen Ballett zum imageverdienten Glanz findet. Denn Forsythe hat bis 2004 das Ballett Frankfurt geleitet, wonach er nun sein unabhängiges Ensemble The Forsythe Company GmbH gründete und mit seinen "zeitgenössischen" Stücken durch die "zeitgenössischen" Spielstätten der Welt touren muss. Und da hat er sich wohl an die dort scheinbar vorherrschende Tanzsprache anzupassen!?! Vielleicht ist er in der (gesellschaftspolitisch) gewachsenen Tanzalltagspraxis genauso wenig vor der berühmten Schere im Kopf gefeit, wie sie als Pendant die meisten Überlebensalltagsjournalisten manipuliert und lähmt. Oder die Europäer haben im Vergleich zu diesen beiden Amerikanern in Sachen zeitgenössischen Arbeitens einfach doch von Haus aus mehr zu bieten, weil in ihnen so etwas wie kunsthistorisches Erbe liegt.

Nonverständnis von Papageien und Ziegen

Was ertragen die Besucher also in Heterotopia während langer 90 Minuten: von einem Grossraum mit unsinnig aneinander gereihten Buchstaben auf Tischen, auf denen sich ein Teil einander nicht gleich zu verständigen fähiger Tänzer bewegt, haben sie sich, sobald sie sich langweilen, in den zweiten kleineren, schwarz verkleideten Leerraum zu begeben, wo sich ein bis vier Menschen körperlich und stimmlich quälen, indem sie offensichtlich versuchen, eine künstlich verfremdete Off- oder auch Tanzkollegenstimme adäquat mit ihrem Körper umzusetzen. Sobald sich ein Besucher wiederum hier langweilt, kann er in den ersten Raum zurückwechseln. - So dass er also ständig auf den Beinen ist. Denn die Langeweile ist in beiden Räumen groß. Da mag der eine oder andere Tänzer noch so gut Tiere wie Papageien oder Ziegen nachahmen, sich die eine oder andere Tänzerin momentweise noch so harmonisch zu den offensichtlichen Befehlsstimmen bewegen - das als Choreographie(installation) auszudehnen, ist doch ein wenig zu wenig für ein Kunststück. Denn verstanden hat man die Sache ja sofort. Und dass ein Tänzer sagen will, eine Akustik mit noch so großem Bemühen doch nie hundertprozentig übersetzen zu können, läßt sich wohl in größerer Vielfalt darstellen als in unzusammenhängenden Einzel-Improvisationen, andernfalls sollte sich dieser Tänzerchoreograph vielleicht eine andere Kommunikationsform wählen, da er das Tanzen (bzw. Choreographieren) offenbar verlernt hat.

Keine Kunst auf der Bühne, dafür im Zuschauerkopf

Nun mag die Langwierigkeit vielleicht bewußt dafür stehen, dass auch jeder Mensch im Alltag nie gänzlich verstehen und wiederholen kann, was der andere von einem wünscht. - Oder der Choreograph spekuliert darauf, all diese Non- bis Versuchskommunikation möge den Besucher dazu zwingen, sich seine eigenen Gedanken zu spinnen, wenn etwa oberhalb der Tische "Irre" miteinander ringen und sich eine Frau unter die Tische verkriecht, um sich ihrer eigenen Identität vor einem Spiegel zu vergewissern. Der Besucher denkt sich: "Macht es Spaß, sich (als Gruppe) auf Befehl eines anderen wie ein Affe aufzuführen? Vielleicht, denn das mach(t)en auch Sekten- und SS-"Soldaten." - Der Zuschauer muß sich notgedrungen mit sich selbst unterhalten, weil er sonst vor lauter Ärger über diese Zumutung zerspringen würde. Nach Zweidrittel des Abends ertönt endlich etwas Kunst, nämlich Klaviermusik - also "gesellschaftlich anerkannte" Kultur - und alles scheint sich ein wenig "in paarmäßigem Bewegungsverständnis" zu entspannen. Das macht sich aber wiederum der einzige "Anzugträger" zunutze, der die zum Volk gewordenen Einzelgänger nun mit Pistolen beherrschen will, während sich eine sexuell bereite Frau vor ihm und seiner Macht auf dem Boden räkelt. Plötzlich kommt "im Volk" ein Fantasiesprachen-Streit auf, sodass sich nach zweimal Kurz-Schwarzbild (Licht aus) die einzig witzige theatrale Szene heraus kristallisieren muss, wo der Anzugträger den Untergebenen endgültig seine gezwitscherten Befehlsworte einzutrichtern versucht. Bei einem fruchtet das, die anderen krähen und mähen aber weiter wie bisher - denn das ist ihre Sprache, zu einer anderen sind sie entweder nicht fähig, oder auch nicht bereit. - So ist und bleibt daher die menschliche "Un"-Kultur frei ... (!!!) e.o.


DAS URTEIL MUSS SICH DER ZUSCHAUER SEINE ERKENNTNIS VOM FREIWILLIGEN NICHT-VERSTEHEN-WOLLEN WIRKLICH SO UNERTRÄGLICH ERARBEITEN, WIE ES IHM FORSYTHE IN HETEROTOPIA AUFZWINGT?

PERFORMANCE Heterotopia * Von: The Forsythe Company (D) * Choreographie: William Forsythe * Mit: Esther Balfe, Yoko Ando, Amancio Gonzales, David Kern, Ioannis Mantafounis, Fabrice, Mazliah, Cyril Baldy, Francesca Caroti, Dana Caspersen, Inma Rubio, Ander Zabala, u.a. * Ort: Tanzquartier Wien: Kunsthalle / Halle E * Zeit: 25.1.2008: 20h30

INSTALLATION Scattered Crowd * Von: Forsythe und Dramaturg Steven Valk * Mit: The Forsythe Company * Ort: Österreichisches Parlament * Zeit: 29.7.2008: 17h + 30., 31.7, 1.8.2008: 16h

PERFORMANCE Snowman Sinking * Von und mit: Company Antony Rizzi (US/DE) (Forsythe-Extänzer) * Ort: Akademietheater * Zeit: 28.7.2008: 21h

TANZ Gala-Abend "Preljocaj/Forsythe/Rosas/Chouinard" * Mit: Manuel Legris und Laetitia Pujol vom Ballet de l’Opéra National de Paris; Tänzern des Mariinsky-Kirov-Balletts; Antony Rizzi & Leslie Heylman, Ex-Tänzer des Ballett Frankfurt; Mitgliedern von Rosas und Chouinard * Ort: Burgtheater, im Rahmen von ImPulsTanz Wien * Zeit: 14.7.2008: 19h30, 16.7.2008: 20h

Sunday, January 20, 2008

MUSIK: JÄRVI UND ANGELICH BESEELEN IHRE "RUSSISCHE SEELE"

Heiss ersehnt, zeigte der temperamentvolle Klassikrocker-Dirigent Kristjan Järvi (Foto © Peter Rigaud) seine für wahre Größe stehende, bescheidene, einfühlsame Seite: Indem er sehr passend ...

... bei Rachmaninow dem amerikanischen Pianisten Nicholas Angelich (Foto © Stéphane de Bourgies) die insgeheime Führung überliess und "nur" mit den Tonkünstlern begleitete.


MUSIKVEREIN WIEN ZWISCHEN DIS-HARMONIE ZEIGT SICH DER HEISS ERSEHNTE KRISTJAN JÄRVI IN RUSSISCHE SEELE IN BESTFORM UND GLEICHZEITIG FEINFÜHLIG-BESCHEIDEN BEI RACHMANINOW

Kristjan Järvi is back. - Nach mehreren kurzfristigen Absagen und nicht immer adäquatem Ersatz, steht Kristjan Järvi, Chefdirigent des Tonkünstler Orchester Niederösterreich, tatsächlich leibhaftig wieder am Pult des Wiener Musikvereins. Man könnte das gezielte Hörigkeitsmanipulation des Publikums nennen. Denn sehnsüchtiger erwartet, als dieses Mal, als Russische Seele am Programm steht und nach einigen "doch-nicht-mit-Järvis", wurde der 35-jährige Este aus New York nie. Und das, obwohl er doch schon fünf Jahre den Tonkünstlern vor- und bereits sein Nachfolger feststeht: Kolumbianer Andrés Orozco-Estrada, der Österreichs Kritikern angeblich während eines Järvi-Einsprungs aufgefallen ist, wird den "rockigen" Charismatiker ab Saison 2009/10 ablösen. Und Orozco-Estrada soll wie Järvi den Spagat zwischen Moderne und Klassik pflegen.

Möglichst große atonale Grenzen innerhalb der Harmonie

Moderne und Klassik, Tonalität und Atonalität - wo da nun die absolute Grenze ist, sprich, wo gerade noch so viel Tonalität sein kann, damit die Musik auf Anhieb nachvollziehbar und angenehm klingt, und dennoch intelligent und besinnlich erscheint, das beschäftigte mehr oder weniger alle drei Komponisten, die an diesem Abend im Dezember 2007 gegeben werden. Wahrscheinlich ist das überhaupt die entscheidende Frage neuer Musikschaffender seit Beginn des 20. Jahrhunderts, insofern sie sich nicht von vornherein dafür entscheiden, mit ausschließlich abstrakten Intellekt-, Mathematik-, Geräuschtönen nur eine kleine Insidergemeinschaft erreichen zu wollen. Fest steht aber auch dann: je abstrakter, desto wichtiger die Interpretationskompetenz von Dirigent und Musikern. Und dann schafft es "so ein Werk" vielleicht sogar, ein breites Publikum anzusprechen.

2x Järvi-Rhythmik und -Theatralität

Järvi jedenfalls, war bei John Adams´ einleitender "Abstraktion" Slonimsky´s Earbox aus dem Jahr 1996 mit jener Präsenz und Agitiationskraft am Werk, wie man es von ihm gewohnt ist: bei einer Hommage auf den Harmonik-Lehre-Ausreizer Nicolas Slonimsky, Ex-Russe und ab 1923 in den USA Lebender, worin Adams bezüglich dessen Theorie zu "seiner" Erkenntnis erklärt: "als fundamentales Primat für die äußerste Harmoniegrenze, die Tonalität nicht antasten zu dürfen." - Das ist in erweitertem Sinn auch zu hören. Es hört sich so an, als dass sich ein anfangs gewaltiges akustisches Orchester-Durcheinander in einem lautmalerisch feinen Gewebe einzelner Instrumente auflösen muss, so, dass sich ein intrumentengruppen-clusterhaftes Übereinander um ein solistisches Klavier und ein vielbeschäftigtes Schlagwerk legt. Das ist spannend wie ein(e) interessante/r Film(musik), minimalistisch-typisch rhythmisch, mit stillem, weitem Ausholen langgezogener Töne vor einem Xylophon-besprungenen Ausklang mit plötzlichem Schluß.

Strawinsky´s - in diesem Sinne - durchgehend tonale Petruschka aus dem Jahr 1946/47 ist eine tanztheatrale Komposition über eine mit Volks- und Jahrmarktsweisen narrativ-beschriebene Kasperl-Gliederpuppe, die wehmütig und tolpatschig eine kühl-grazile Ballerina liebt und sich gegen den polternden Rivalen "Mohr" zu behaupten versucht. Järvi setzt seine ganze eigene (Schau)spielfreude ein, zu der er wie kein anderer Dirigent fähig ist. Zwischen kraftvoller Dynamik und ungemeiner Lust, strahlt ein Klang von unheimlicher Scheinheiligkeit durch. All das, was in der Komposition vielschichtig und doppelbödig angelegt ist, bliebe versteckt, würden es die Interpreten nicht erlebend miterleben. Das geschieht hier in dem Ausmaße, dass die melancholisch-groteske Klobigkeit der Töne, die doch so zum Lachen reizen, in der Endpointe selbst Järvi zum Lachen bringen: Fröhlichkeit ziert sein Gesicht. - Und jenes vieler seiner Musiker. Froh ist damit auch das Publikum.

Fremdes Rachmaninow-Erlebnis mit Kick

Zum Staunen und Mitfiebern ist danach aber der Höhepunkt, das letzte Werk: Sergej Rachmaninows Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 d-moll op. 30. Erstens, weil man Järvi so noch nie erlebte. Zweitens, weil da ein genialer Pianist als Solist brilliert, der alle Stückerln der emotionalen Gefühls-Irr-Welten wiederzugeben weiß, und das, obwohl es bei diesem Werk kein episches Thema gibt: Hier steht die Musik für nichts als Musik. - Und "Moll" ist simpel gesagt, auf jeden (Ton)fall immer - ergreifend schön. - Was 1909 als "neue Ästhetik im Romantischen" gefeiert wurde, gilt insofern auch heute(!) Auf die temperamentvolle Kontrasthärte der beiden ersten Werke, erklingt zunächst ein durchgehender, sinnlicher Fluß an ineinander changierenden Tönen. Amerikaner Nicholas Angelich (geb. 1970) durchlebt seine Klaviermelancholie mit Händen, Fingern, Armen und Körper auswendig, ohne vom Blatt zu spielen; Järvi begleitet und führt das Orchester einfühlend und unaufdringlich, selbst wenn das Werk in abschweifende Vergeistigung abtriftet. Er beläßt souverän alle dramatische Führung dem Pianisten, sodass das Publikum sich völlig in die Musik fallen lassen kann. Järvi wirkt in diesem Moment um Jahre reifer und erwachsener, erfüllt von Musik der absoluten Schönheit, wo sich in der Mitte auftretende Aggressivität in verfremdeten, kurzen Walzerklängen beruhigt, vor einem abrupt aufbäumenden Finale mit hartem Klavierbearbeiter, der sich nun an der realistischen Materie orientiert, wenn er sich mit der Querflöte im Duo vereint. Genial! e.o.


DAS URTEIL ENDLICH GESTILLTE SEHNSUCHT NACH KRISTJAN JÄRVI, UND MIT DEM GEFÜHLSJONGLEUR NICHOLAS ANGELICH AM RACHMANINOW-KLAVIER GLEICHZEITIG EIN ANS HERZ GEHENDER SEITENSPRUNG VON UND MIT BEIDEN.


Nächste Järvi-Konzerte
KONZERT Jazzland* Mit: Kristjan Järvi (Dirigat), James Morrison (Trompete), Tonkünstler Orchester Niederösterreich * Ort: Musikverein Wien * Zeit: 9.4.2008: 20h30