Tuesday, August 23, 2016

impulstanz 2016 – Tagebuch 8: „CLAPTRAP“-AMOUR FOU VON DER „JUNGEN“ MARION DUVAL MIT DEM „ALTEN“ MARCO BERRETTINI


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Was sich dieser Mann (Marco Berrettini) nicht alles gefallen lässt, von der mächtigen Frau (Marion Duval), die ihn ....

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... nicht einmal liebt. Oder vielleicht liebt, aber nur mit ihm arbeiten will ...
(Fotos © Yvonne Dickopf)

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Solange sie auf der Bühne stehen, läuft alles perfekt. Selbst die „größte“ Zaubernummer: da gibt Duval sogar seine Assistentin.

 
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Hinter der Bühne aber ist sie „Claptrap“, ein quasselnder, gefühlszerrissener Roboter zwischen Macht- und Ohnmacht-Obsessionen. Da kann sich Berrettini noch so sehr anpassen, sie will ihn als Liebespartner nicht erhören. (Fotos: © Dorothée Thébert Filliger)



Welch unmögliches, passendes Paar!




3.8., gegen 24h, im Wiener Schauspielhaus:




Was zählt für eine mittelalterliche Frau, wie mich, am Ende dieser 2h45min-dauernden Aufführung Claptrap?
– Das Dilemma der darin gezeigten Amour-fou-Beziehung.
Und dass ich ohne schlechtes Gewissen schmunzeln konnte.
Beides nicht selbstverständlich beim ImPulsTanz-Festival.

Beziehungen spielen sich hier in den Aftershow-Parties ab, zu denen ich nicht hingehe.
Ich bedanke mich an dieser Stelle, weil mich die Einladungen trotzdem freuen.
Die ImPulsTanz-Leute sind ja sehr angenehme Menschen ohne versteckte Aggressionen. Sie bewegen und diskutieren sich den Alltagsfrust sozusagen von der Seele.
Ginge ich hin, würde ich kein Wort über die Stücke schreiben.
Weil ich schon vieles ausgesprochen hätte.
Und alles Nur-Ausgesprochene wird in der Regel wieder vergessen.


Mich beschäftigt die „junge“ Marion Duval wegen ihres im Stück dargestellten Gefühlszustands.
Sowie der„erfahrene“ Marco Berrettini, wie er als Mann mit der ihm eigentümlichen Distanz auf „ihr“ Gefühlswirrwarr reagiert.
Ihr Altersunterschied von zwanzig Jahren erscheint mir nicht zu groß.
Wenn jüngere Frauen auf ältere Männer stehen, zeichnet sich das sowieso im Kindesalter ab.
Das ist so ähnlich wie mit der Homosexualität.
Der von Marion Duval empfundene Unterschied im Alter ist daher weniger der Grund für die Unmöglichkeit ihrer Beziehung als jener ihrer Charaktere.
Es gibt unterschiedliche Charaktere, die insgesamt harmonieren, und es gibt unterschiedliche Charaktere, die für eine gewisse Zeit für einander spannend sind, am Ende aber nicht harmonieren.


Da wird also das Stück von dieser selbst bezeichnet talentiert-geltungssüchtigen, quasselnden Künstlerin (eh schon 32 Jahre!) zwischen Bühne und Zuschauerreihen eröffnet. Neben ihr der etablierte, für gewöhnlich auf Reflexion bedachte Performance-„Star“ und ihr ehemaliger Geliebter, Marco Berrettini (eh erst 53!). Bei ihm sitzt jede Pointe, originell, kein Wort zu viel. Sie ist zerrissen, sowohl in plötzlich zwischen Manie und Depression kippenden Emotionsgegensätzen, als auch in ihren Gedanken.

Was sie an einander fasziniert, ist ihr („schweizerischer“) Humor, ihr Lachen über unmögliche, „geschmacklose“ Pointen. Deshalb auch das Prinzip der unpassenden Szenenabfolgen dieser „Groteske“. Möglicherweise liegt es an Duval, der „zuliebe“ sich Berrettini darauf einlässt: „Ich wäre ohne sie nicht da, weil ImPulsTanz „meine“ Show nicht gekauft hätte“, gibt er trocken während der Kommunikationseinführung mit dem Publikum zu bedenken. „Ohne entsprechende Stimmung kann das Stück nicht beginnen“, ergänzt sie, die hier für Regie und Konzept verantwortlich ist. „Pina ist tot, und Cunningham ist tot, und ich fühl mich dabei nicht so gut“, meint Berrettini über sich selbst lachend, „und das war noch mein bester Witz für heute“. Dann gibt´s noch ein paar Angriffe aufs österreichische Publikum, um die letzten Schranken zu brechen: „Vienna Calling, sagte Regensburger zu mir, Leute aus den 80ern verstehen das. Rock Me Amadeus ist kein Nazi-Spruch.“ Und die Aussicht: „Es wird noch richtige Drachen geben.“

Damit beginnt die eigentliche Show des einmal auch privaten Paares: Nach dem legeren Erstauftritt erscheint Berrettini im Smoking und animiert die im schwarzen Abendkleid mit sensationellem Dekolleté auftretende Duval zum übermäßigen Sektgenuss. Das ist der Auftakt zur slapstickhaften Doppelconférence, wo zwar klar ist, wer der klügere, aber nicht, wer der mächtigere ist. Sie ist mächtig, weil sie privat inzwischen einen anderen und hier die Führungsrolle hat. Sie raucht ihm ins Gesicht, er lässt es sich gefallen. Sie küsst ihn, aber ohne Zunge, was ihn stört. Darauf folgt eine Zauberer-Assistentin-Nummer zur Musik Nino Rotas, wo jeder konventionelle Trick in der Offensichtlichkeit endet. Jetzt erst öffnet sich der Bühnenvorhang und zwei riesige Papierdrachen erscheinen: Berrettini und Duval befinden sich in den Drachen, einander drohend umgarnend und bekämpfend. Bis die Bühne mit Schachbrettboden zusammenfällt. Pause.
 
Nach einem erfrischend leichten Gene-Kelly-Steppduett wird es spannend: die beiden Künstler ziehen sich auf der Bühne um, die jetzt zur Garderobe geworden ist. Als Duval ihren BH öffnet, ist man erst mal verblüfft, dass ihr Busen tatsächlich so übermäßig groß ist, sichtlich, ohne operiert worden zu sein. Vom schwarzen Hosenanzug wechseln sie ins weiße Paar-Outfit. Und alles, was das Publikum sieht, sind die Auf- und Abläufe über eine quergestellte Treppe, was es hört, sind Applaus und Dialoge von der seitlichen Hinterbühne. Wir erleben also die nüchterne Realität hinter der Illusion des schillerndes Ex-Pärchens, das da in angespannter zwischenmenschlicher Stimmung seinen Bühnenjob verrichtet.

Nach der Show zieht sich Duval Rollschuhe an, die ihre jugendliche Befindlichkeit verstärken. Er solle nicht bleiben, meint sie. Sie findet aber den Weg nicht hinaus und stolpert ununterbrochen über Stühle. Als sie hinter der Bühne verschwindet, kommt er mit einem zu ihren Rollen passenden Scooter in gut ausgefüllter Unterhose daher, deren Inhalt sich aber wenig später als Banane offenbart. – Duval ist mit ihrem Busen also „echt“ sexy, er tut nur so. – Sie erscheint in einer unförmig riesigen Schaumstoff-Roboter-Polsterung mit eckigem Gesichtsausschnitt, sodass sie, wenn auch geschützt vor Prellungen, noch ungelenker herumkugelt. Jetzt ist seine Zeit gekommen, wo „er“ ihr Herr sein kann: er tritt und hüpft auf sie drauf. Sein Liebesbekenntnis über das Mikrofon danach hilft nichts, „ich vertraue dir nicht“, sagt sie. „Ich bin deshalb noch in der Show, weil ich dich liebe“, antwortet er, und das klingt echt echt. Das knappe, gefühlsmäßige Verpassen ihrer beider Bedürfnisse zeigt ihre Kleidung, die sie wechseln, wobei er aber erst dann ihren Stil und ihre Farben trägt, wenn sie sich schon wieder umgekleidet hat. „Komm, lass uns ins Burgtheater gehen“, sagt der routinierte Berrettini, um das Spiel mit der After-Show-Party endlich zu beenden. Aber eben diese Routine reicht der Duval nicht, sie erkennt: „Ich will stärker und Opfer zugleich sein. Du bist alt, ich bin jung.“ Das hört er aber nicht mehr, und vielleicht ist das auch besser für ihn.

Ich lese später nach, was „Claptrap“ eigentlich bedeutet: Es handelt sich dabei um einen kleinen, schreckhaften Spielkonsolen-Roboter in der Form eines Kastens mit einem Bildschirm als Auge.
Wegen eines Programmierungsfehlers quasselt er ununterbrochen, schlicht, weil er alles, was er denkt, aussprechen muss.
Von akuter Geltungssucht geplagt, hält er sich für den Größten, sodass sein Spieler, dem er die Türen öffnet, immer nur Untertan sein kann.
Verblüffender Weise ist er trotz seiner Ungelenkigkeit von einem Rad als Beine ein guter Tänzer: er steppt virtuos, seine Schwäche sind jedoch Treppen.
– Es zeugt doch für große Selbstironie und Distanzfähigkeit, sich als Frau mit so etwas charakterlich gleichzusetzen.
Und vielleicht ist Fräulein Duval ja in Wahrheit weniger weit von Berrettini entfernt, als sie glaubt.


Schön, dass sich Berrettini und Duval trotz ihrer gefühlsmäßig deklarierten Unvereinbarkeit am Ende mit lachenden Gesichtern verbeugt haben. Denn, was ist schon echte Liebe? – Hauptsache, man kann etwas Intensives miteinander schaffen. e.o.




DAS URTEIL MARION DUVAL IST IN IHRER WEIBLICHEN GEFÜHLSZERRISSENHEIT UND -ÜBERLADUNG AUSSERGEWÖHNLICH KOMISCH. MARCO BERRETTINIS KNAPP UND EXAKT PLATZIERTE POINTEN SIND ABER DIE HÖHERE KUNST. WEIL EIN PRINZIP DER KUNST DAS WEGLASSEN IST. – DENNOCH EINE ERFRISCHENDE, DA WAHRHAFTIGE BEZIEHUNGSKISTE INNERHALB DES IMPULSTANZ-PROGRAMMS.



THEATER - PERFORMANCE Claptrap * Konzept & Text: Marion Duval * Performance: Marco Berrettini, Marion Duval * Künstlerische Mitarbeit: Louis Bonard* Bühnenbild: Florian Leduc * Kostüm: Severine Besson * Dramaturgie: Adina Secretan * Skulpturen: Djonam Saltani * Choreografie: Noémie Maton Dujardin * Ort: Schauspielhaus Wien * Zeit: 3.8., 21h; 5.8.2016, 23h

Wednesday, August 17, 2016

impulstanz 2016 – Tagebuch 7: IVO DIMCHEV IN SEINER SADO-MASO-OPERNSTADT „OPERVILLE“

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Stimmt es, dass der höchste Punkt der Trio-Vereinigung in der Oper nur durch koitale Intensität entstehen kann?

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Oder stimmt es, dass sich einer von den Dreien dafür stets zum Hund unterwerfen und demütigen lassen muss?

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Es stimmt auf alle Fälle, dass sich ein Sänger in den anderen so einfühlen muss, dass sie zusammen verschmelzen können. Hier fühlt sich allerdings nur der Bass-Bariton Nickolay Voynov in den nervös-dominanten Ivo Dimchev ein: er bekommt dessen Perücke aufgesetzt und verliert sein Gesicht. (Fotos © Ivo Dimchev)



„this stage is an ugly wired paradise“



25.7., gegen 22h15, im Akademietheater:


Was habe ich gelacht,
plötzlich befreit von schier unendlich großer, innerer Anspannung,
als der querste aller queeren Künstler,
Bulgare Ivo Dimchev,
ob seiner eigenen seelischen Verkrampftheit,
an die Rampe tappt,
und versucht,
das Keyboard hervorzuzerren,
das unter einer schwarzen Abdeckung am vorderen Bühnenrand
verborgen liegt.


„with hard pain“


Dieser zögerliche Moment war keinesfalls geplant,

und doch hat ihn Dimchev zur eigenen Befreiung genutzt,
um stoßzornig auszurufen,
was ihn ununterbrochen bedrückt.
Jene helle Erlösung
war ausreichend,
um das gesamte restliche Stück,
mit Augenzwinkern zu betrachten.

„I´m partly forbidden in this country“


Denn die hysterische Leidensgeschichte Dimchevs,
worin er sich als unpassend „Widerlicher“ ständig selbst bemitleidet,
ist im Grunde nebensächlich;
seine Anklage,
als geschmacklos wie ein Sandler gekleideter Queerer
in der obligatorischen Dreierkonstellation
aus schönem, designer-weiß tragendem, selbstsicheren Bassbariton
und routinierter, samt-eleganter Soprandiva in Rot,
nervös und aggressiv wie ein Tier
nicht den vollwertigen, dritten Tenor-Teil auszumachen,
unbegründet.

Selbst wenn er diese emotionale
und seelische Überzeugung braucht,
um das zu schaffen,
was diese hohe Kunst ausmacht.


„The tragedies: being dead is political correct“


Hier „leidet“ und profitiert ein hochmusikalischer Künstler,
er offenbart die Oper als ein Genre, das
– bewiesenermaßen –,
musikalisch noch lange nicht erschlossen ist.


„whores and banks are friends with diseases, we prefer dirty dicks“


Da mag es die zeitgenössische (Geräusche-)Oper geben,
die Arien-Überlieferte mit ihren Klassikern;
wenn ein Dimchev
mit seinem exakt platzierten Halskraulen, Krächzen, Jammern, Jaulen,
vor Schmerz – wie ein Elefant – Trompeten
und Brüllen wie ein Löwe,
mit Pop-Rock-Zitaten der 70er-80er Jahre,
mit Jazz-Stoßwörtern in Kabuki-Atmosphäre,
mit taktgenauem Rapp,
anfängt, zu zeigen,
was klanglich im Opernarrangement schön ist,
ohne dem Bekannten anzugehören,
dann sorgt das für ein Aha-Erlebnis,
das vergessen macht,
in welchem Rahmen diese Musik stattfindet.


„somebody died in the back of the theater“


Dass sich diese drei
einander mit einer Fantasiesprache des Subtexts
konkurrierenden
und um gegenseitige Liebe gierenden Gesangskünstler
– auf Anstachelung Dimchevs –
untereinander
in sadomasochistischer Manier demütigen,
zum Hund degradieren,
und um die Vereinigung in koitaler Intensität betteln,
wobei aber stets einer das Nachsehen hat,
mag überzeichnet dem Bild der Realität entsprechen.
Und doch kommen Sänger nur an diese Spitzen heran,
wenn sie die grenzüberschreitende innere Tiefe anstreben,
wenn sie via Perücken-, Körperhaltungs- und Positionstausch
in den anderen hineinschlüpfen,
was sich hier allerdings nur auf den Körper Dimchevs bezieht.
Und das ist auch o.k., weil er jemand ist,
der die anderen beiden in ein neues Universum führen kann.


„there are too many pessimists in this country“


So entstehen die schönsten Duette und Trios
in eigener Musikalität
und körpergrafischer Anordnung.
Verzweifelte, um einander ringende Ausdrücke,
im Sinne der auf die Bühnenrückwand platzierten Gedanken,
„there´s only one person I love, it´s not you“
die immer wieder in akustisch wohlklingenden,
wundersamen Harmonien münden.

Die Oper ist eine Landschaft des Seelenschmerzes.
Da passt das zelebrierte Selbstmitleid
eines Nicht-Gesellschaftsfähigen
bestens dazu.


„we are social-democrats, we love prostitutes of all colours“


Traurig,
dass die Schönheit der Klänge am Ende vergeht,
wie der Wind,
den Dimchev im Finale zitiert,
denn der Verstand erinnert sich wohl an die Rührung
durch die verzückenden, unbekannten Melodien,
vergessen ist aber,
wie die Melodien waren.
„Sie sind“, tatsächlich, „die stummen Qualen eines sterbenden Windes“.
Und keine Kritik wird ihnen gerechter
als jene der sprachlichen Poesie. e.o.




DAS URTEIL
IVO DIMCHEV IST MIT OPERVILLE DIE WEITERENTWICKLUNG SEINER MUSIKALISCHEN SPITZENWERKE LILI HANDEL, CONCERTO UND SONGS FROM MY SHOWS GELUNGEN. DAS LEIDENSSPEKTRUM DES GROTESKEN HYSTERIKERS BEGRÜNDET HIER DIE DIENENDE NEBENROLLE. DIE HAUPTROLLE ÜBERNIMMT SEIN UNKONVENTIONELL KOMBINATORISCHES GESPÜR FÜR MELODIEN, RHYTHMUS UND GRAFISCHE (KÖRPER)ARRANGEMENTS. DA IST DIMCHEV ERFINDUNGSREICH UND – WENN AUCH OBSTRUS – EXTREM FEIN.


OPERNTANZ Operville * Text, Choreografie, Vocal Scores: Ivo Dimchev * Performance, Improvisation: Plamena Girginova, Nickolay Voynov, Ivo Dimchev * Musik: Chopin, Stephan Hristov und anderen * Ort: Akademietheater * Zeit: 25.7.2016, 21h

Friday, August 12, 2016

impulstanz 2016 – Tagebuch 6: UNEITLER „MACHO“ ISRAEL GALVÁN IN „FLA.CO.MEN“

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Israel Galván
beginnt FLA.CO.MEN mit einer ironischen Einführung des Flamenco: die Geigerin Eloísa Cantón übersetzt seine Zeichensprache überspitzt ins Englische.
--> Pure Faszination geht von dem Rhythmusgott Galván in spannender Lichtsetzung aus.


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Auf Geldmünzen barfuß zu tanzen, hört sich noch einmal anders an, es hat in Sachen Flamenco und dessen Geschichte jedoch gewiss eine tiefere Bedeutung. (Fotos © Hugo Gumiel)

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Was für eine Erscheinung! Dieser Rebell voller unberechenbarer Lebensfreude.



22.7., gegen 22h45, im Wiener Volkstheater:



Standing Ovations für Spanier Israel Galván.

Ich bin eine von jenen, die ihn anhimmeln.

Für jemanden wie mich,

der andauernd in Vorstellungen geht,

ist diese Form von Begeisterung selten.


Man wird ja irgendwann routiniert,

vielleicht sogar abgestumpft.

Es muss etwas ganz außergewöhnlich sein,

damit man sich von seinem Sessel erhebt.


Nun hatte Israel Galván wahrscheinlich nicht einmal seinen besten Tag. Man sah, als er sich verbeugte, dass seine beiden Beine bandagiert waren. Außerdem fehlte eine bestimmte Tanzsequenz, die im Video für vorab berichtende Journalisten zu sehen war. Jene Szene, wo Galván drei bis vier blitzschnelle Pirouetten dreht, um dann in der rasenden Bewegung ganz plötzlich mit dem Fuß auf der ausgestreckten Hand des Gitarristen Caracafé Proyecto Lorca abrupt zum Stillstand zu kommen.


Diese akrobatische Spitzenleistung gab es heute nicht, dafür war alles radikaler und übermütiger als im „Konzert“ der früheren Vorstellung.


Ich frage mich,

wie dieser vor Energie, Frechheit und Freude
sprühende Mann

in der Premiere vor zwei Tagen war.

Ich bin mir sicher, dass jede Vorstellung anders ist,

auch wenn – wie Galván versichert –,

alles, bis ins kleinste Detail geprobt ist.


So viel Spontaneität lässt sich nicht einstudieren.

Oder liegt gerade in dieser Charaktereigenschaft
die größte Begabung dieses Künstlers?

Es wie „das erste Mal“ aussehen zu lassen?


Die dem Stück zugrunde liegende Botschaft des legendären Flamenco-Komponisten und Sängers Enrique Morente, ,„beim Flamenco geht es darum, die Tradition zu übertragen und sich dabei des Verrats bewusst zu sein, der bei diesem Unterfangen immer mitschwingt“, ist in diesem Konzert mehr als nur präsent, wobei man aber als „Nicht-Flamencoaner“ dazu neigt, eher den „bewussten Verrat“ zu attestieren;
– der eine mit mehr Begeisterung,
– der andere mit weniger.
(Und das hat jetzt gar nichts damit zu tun, ob man nun ein Freund von Folklore ist, oder nicht.)


Jedenfalls meinte der für die Paartänze Sevillanas regieführende artistische Direktor Pedro G. Romero: „Destruktion und Konstruktivismus gehören nicht (nur) zu Galván, sondern zum Flamenco selbst. Die Reihenfolge der Silben (Titel: FLA.CO.MEN) mag verändert sein, es bleibt doch Flamenco.“


Nur so lässt es sich verstehen, dass der rebellische, Finger schnipsende Galván nach einer Trommel-Einlage mit seinem Fuß triumphierend ruft, „na, bin ich ein Zigeuner?“, und der ebenfalls mit dem Fuß paukende Flamenco-Sänger, David Lagos, trotzig antwortet, „ja, bist du!“. – Denn die Zigeuner beeinflussten den Flamenco historisch maßgebend. Und Galván ist genetisch einer von ihnen, dank seiner Flamenco tanzenden Mutter. Dass aus Galván ein Kuriosum werden musste, das ständig seinen Stachel in seinem Fleisch zu spüren scheint, ist schon an seinem Namen abzulesen: „Israel Galván“, mit jüdisch konnotiertem Vornamen bedeutend „Gott streitet (für uns)“ Sohn des Flamenco-Tänzers und Zeugen Jehovas, José Galván, der ihm im Kindesalter beängstigende Sprüche über den Weltuntergang zumutete.

Nun, da unsereinem am Flamenco alles „spanisch“ vorkommt, zählt am Ende nur die vielschichtige Verbindung jedes einzelnen Elementes zu einem für jeden Akteur und Betrachter stimmigen Ganzen. Es ist faszinierend, wie sich die Instrumente E-Bass und Geige (Eloísa Cantón), Gitarre (Caracafé Proyecto Lorca), Saxophon und Gaita del Gastor - ein hornartiges Aerophon (Juan M. Jiménez), Marimba, Kesselpauke, Timbal, Cajón flamenco, und andere Perkussionsinstrumente (Antonio Moreno), sowie die beiden Flamenco-Sänger (David Lagos, Tomás de Perrate) für westliche, am Zahn der Zeit stehende Kunstbefürworter zu einem authentisch „atmenden“ Konzert verbinden lassen, das insbesondere heute – wo die EU vor der Entscheidung steht, eine kulturelle Linie über alle Länder zu ziehen oder ihnen ihre Eigentümlichkeiten zu lassen – auch kulturpolitische Aussagekraft erhält. Doch wäre dieser starke Charismatiker Galván nicht, der dem Kunterbunten letzten Endes mit seinem breiten Kunstverständnis und körperlicher Vielfältigkeit Sinn verleiht, würde da mit Sicherheit gar nichts stimmen. Für wen passt schon Ligeti zur Rondena, Luigi Nono zur Granaina, die US-Band Antony and the Johnsons zur Verdiales und die Tarantella zum Taranto, ohne den Funken des Flamenco zu verlieren?


Da trippelt Galván also zuerst mit der Kochschürze herein. Er erklärt tanzend veranschaulichend, allerdings mit neckender Deutung, die traditionellen Gesten des Flamenco. Dass die Nase nach oben schauen muss, steht für sich selbst und bringt Spott genug. Für jedes kleine Zeichen braucht Galván ein ganzes Notenblatt. So groß scheint die Achtung der selbstbekennenden Traditionalisten vor jeder kleinsten Regel zu sein. Galván tauscht die Schürze gegen ein frauliches Taillenmieder ein (denn die Männer-Frauen-Unterschiede müssen im Flamenco streng eingehalten werden). Dann zerbricht er einen „festzementierten“ Flamenco-Schuh, in den Galván gerade noch im Duett mit der singenden Geigerin Eloísa Cantón geblasen hat. Schon da faszinieren die Qualität der Lichteffekte und des Tons, sowie der rhythmisch genau getimte Ablauf.


Bis die weiteren Musiker auftreten, setzt sich Galván mit einem Packerl Chips essend vor das Publikum. Im Hintergrund läuft derweilen aktuelle Computer-Popmusik, so wie sie in den Straßen Spaniens laufen könnte. Man fühlt sich wie in das Land versetzt. Da fährt die Percussion im Steppduett Galváns stark wie Technodrums unter die Zuschauerhaut. Die beiden versuchen sich als rhythmisches Bauch-Klopf-Duo, woran man merkt, wie Schlagzeug-orientiert Galváns Musikalität doch ist, und Percussionist Moreno tanzt später Flamenco. Allerdings haben alle Flamenco-Musiker und Sänger die Rhythmus-Begabung einverleibt. Ein Highlight ist das Klatschduett zwischen Sänger Lagos und Galván. Doch das andere Highlight, das ständig in der Luft liegt, ist die Unberechenbarkeit. Vor allem, wenn Galván ins Publikum steigt und stampfend, klatschend, steppend durch die Gänge knallt oder am Bühnenrand gegen die Kante hämmert. Bei diesem Schlag-Kommando muss die Bühne präpariert worden sein! Das verleiht der Vorstellung ein modernes Ambiente, das es mit jeder animierenden Disco aufnehmen könnte.


Während der Rock-Nummer holt der Tänzer den Notenständer wieder hervor und klebt sich die Notenblätter auf Kopf und Körper, die sich sogleich im Nirgendwo verteilen. Die Botschaft: Die Noten müssen ständig neu geschrieben werden, damit der Flamenco lebendig bleibt! Der Gitarrist balanciert wie in einer Zirkusnummer und entsprechender Musikbegleitung seine Gitarre auf den Händen – was so viel heißt, wie: „Man kann sich im Flamenco durchaus zum Clown machen! Man muss sich selbst nicht so ernst nehmen, um groß zu wirken.“ Die Stimmen, die Gitarre, sowie die Percussion führen in ihren klassischen Zugängen jedoch immer wieder zum Flamenco zurück, wobei für unsere westlich geprägten Ohren die Instrumente angenehmer klingen als der Vibrato-bestückte Gesang. Aber faszinierend ist und bleibt Galván, wenn er „seinen“ Flamenco tanzt, während ihm jede Sekunde anzusehen ist, wie langweilig ihm das „Normale“ sein würde. So verwundert es nicht, dass er im Zuge des Konzerts die Schuhe auszieht und barfuß auf einem Brett mit Geldmünzen steppt. Das erzeugt einen neuen Klang und wirft die Idee von der Bedeutung des Geldes in dieser Tradition auf.


Die 90 Minuten Konzertdauer vergehen wie im Flug. In höchster Spannung und begeistertem Staunen. Die Faszination steht den Zuschauern sprichwörtlich ins Gesicht geschrieben, als Galván sich am Schluss im Flamenco-Rüschenkleid verbeugt – ein unvermuteter Gag, der ihm noch einmal Sympathien bringt. Denn manche "Men" = Männer des Flamenco haben genug Eier für eine humorvolle Extraportion Selbstironie.

– Das zeitgemäß Treffendste und – trotz Konzerts – Tänzerischste, was ImPulsTanz heuer unter all dem großen Star- und Qualitätsaufgebot zu bieten hatte! e.o.

DAS URTEIL
ISRAEL GALVÁNS FLA.CO.MEN IST DAS AUFREGENDSTE, WAS IMPULSTANZ JE GEZEIGT HAT. DIESER MANN IST AUF DER BÜHNE WEDER EITEL, ÜBERHEBLICH, NOCH MACHO, DENNOCH EIN DURCH-UND-DURCH-MANN MIT UNGLAUBLICHEM RHYTHMUSGEFÜHL UND CHARISMATISCHER PRÄSENZ. DASS ER AUCH NOCH SO NEUGIERIG IST, EIN SPANNENDES STÜCK MACHEN ZU WOLLEN, IST EINE ZUGABE, DIE IHM WAHRSCHEINLICH WICHTIGER IST ALS DEM PUBLIKUM.


TANZKONZERT FLA.CO.MEN
* Regie, Choreografie, Tanz: Israel Galván * Gesang: David Lagos, Tomás de Perrate * E-Bass und Geige: Eloísa Cantón * Gitarre: Caracafé Proyecto Lorca * Saxophon und Gaita del Gastor: Juan M. Jiménez * Marimba, Kesselpauke, Timbal, Cajón flamenco u.a. Perkussionsinstrumente: Antonio Moreno *Bühnenregie & Choreographie Sevillanas: Pedro G. Romero * Bühnenregie & Choreografie Alegrías: Patricia Caballero * Ort: Volkstheater Wien * Zeit: 20., 22.7.2016, 21h


TANZ & MUSIK LA FIESTA /  Das Fest * Konzept, Choreografie, Tanz: Israel Galván, Patricia Caballero * Mitwirkende: Nino de Elche, El Junco, La Uchi, Minako Seki, u.a. * Musik: Live * Dramaturgie: Pedro G. Romero * Ort: Festspielhaus St. Pölten * Zeit: 6.5.2017, 19h30 WELTPREMIERE!



Tuesday, August 09, 2016

impulstanz 2016 – Tagebuch 5: XAVIER LE ROY HAT MICH IN „UNTITLED (2014)“ GEFRAGT, UND ALEXANDER WRABETZ HAT IHM FALSCH GEANTWORTET

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Xavier Le Roy ist im zweiten Teil von Untitled (2014) das unbewegte Subjekt, das zwei Mumien-Objekte zur Bewegung bringt (Foto © Jamie North Kaldor Public Art Projects)


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Xavier Le Roy ruft dazu auf, auch ohne etwas von einem Künstler zu kennen, in dessen Vorstellung zu gehen: das habe ich heuer bei Thiago Granato Treasured in the Dark gemacht (Foto © Bertrand Delous) ...
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Er ist doch sowieso immer „unbekannt“ ...



21.7., gegen 22h30, im Wiener Akademietheater:




Xavier Le Roy befand sich in Untitled 2014
in legerer Alltagskleidung
zwischen Bühne und Zuschauerreihen,
und fragte mich,
ob ich zu jemandem Unbekannten,
also ohne jede Vorab-Information
kommen würde.


Er meinte, „ins Theater kommen“.
Frage:
Ist das Theater jetzt so etwas wie diese Mode des anonymen Partnertreffs?
Wo man sich Hals-über-Kopf in jemanden verlieben soll?
Erfolgschance: 1 zu 99?
Das heißt: 99 Reinfälle, 1 Treffer?


Wie groß wird die Wahrscheinlichkeit sein,
dass ich nach 99 mal Frustration,
überhaupt noch einmal ins Theater schaue?


Gut, man kann einwerfen:
wenn ich ins Theater gehe,
hat zumindest ein Kurator / ein künstlerischer Direktor eine Vorauswahl getroffen.
Andererseits: Partnervermittlungsagenturen tun das auch.
Trotzdem ist die Bilanz nicht besser.


Ich habe ihm gesagt,
als er mich fragte,
ob ich zu jemandem Unbekannten ins Theater kommen würde,
„ich bin doch eh da!“.


Er hat mich angesehen,
aber nichts darauf geantwortet.


Wahrscheinlich dachte er,
da er mich wohl,
seit gut 15 Jahren als seine Stücke-Besucherin in Wien kennt,
ich hätte ihn falsch verstanden,
oder ich wollte ihn aufziehen.


Also deutlicher:
Ich kam zur Veranstaltung Untitled,
wusste also nicht,
was da auf mich zukommen würde.


Und bei einem Xavier Le Roy weiß man
trotz seines Namens = seiner bewährten „Marke“,
nie,
was auf einen zukommt.


Reicht das nun also zum Motiv „des Unbekannten“?
In der Kunst?


Ich denke „ja“,
denn „Kunst“ bedingt eine Grundform des „Könnens“,
also die Garantie, dass da jemand etwas „kann“,
damit das Werk „Unbetitelt = Unbekannt“,
Daseinsberechtigung hat.


Halt!
Ich merke bezüglich meines Bekenntnisses zum Nervenkitzel an,
dass ich bei ImPulsTanz jedes Jahr
zumindest einen Künstler im „Zufallsverfahren“ auswähle,
also einen,
den ich nicht einmal hinsichtlich seines Namens kenne.
Man will sich ja selbst auch fortbewegen,
und hofft auf die freudige Überraschung einer Neuentdeckung.


Das Wagnis ist in der 8:tension-Newcomer-Schiene besonders groß.
Heuer traf es den brasilianischen Performance-Künstler Thiago Granato
mit Treasured in the Dark im Wiener Schauspielhaus.
Wie zufällig, dass er beim von Le Roy betreuten Ex.e.r.ce 8 Programms am Centre Chorégraphique National de Montpellier Teilnehmer war ...
Das habe ich erst im Programmbuch gelesen,
und auch an seinem nackten Hintern erkannt,
der losgelöst vom Körper im Stil der Travestie „sang“.
Die Übereinstimmung war allerdings nur
der sich verselbständigende Körperteil.
Möglicherweise lag auch eine Parallele
in den lange ausgeführten, bewegten Bildern,
die danach ein Aufbäumen und Widerstandleisten
gegen politische Unterdrückung (von Homosexualität)
ausdrückten.
Das Thema der Homosexualität hat allerdings mit Le Roy nichts zu tun.
Le Roy
s lange ausgeführte Szenen,
sind auch meist mehrdeutiger,
als die naiv-eindimensionalen Granatos.


Ich muss sagen,
hätte ich das Granato-Stück nicht gesehen,
hätte ich auch nichts verpasst.

Ich bewundere jene ImPulsTanz-Leute für ihren langen Atem,
die die Newcomer-Schiene kuratieren.

Immerhin sind da einige Stars hervor gegangen:
2001 Akram Khan zum Beispiel.
Er zeigte in der Zwischenzeit immer wieder
umwerfende Arbeiten,
meist in Zusammenarbeit mit anderen Top-Partnern
wie Sidi Larbi Cherkaoui.
Aber als Genie gilt er in Österreich erst seit 2013,
als er im Solo Desh bei ImPulsTanz auftrat.
So lange dauert es also,
bis ein „Unbekannter“ in der Kunst die absolute Spitze erreicht.


Da gehe ich natürlich gerne hin,
wenn ich nichts von diesem Künstler kenne.
So ein Ereignis bedeutet dann:
ein treues Publikum auf alle Ewigkeit.


Wenn Xavier Le Roy im ersten Teil, Untitled (2005), eine Lecture,
(Lecture bedeutet eigentlich Lehrstunde, Vorlesung, Vortrag)
seiner dreiteiligen Aufführung,
eine Publikumsansprache hält,
hat das im Rahmen des von ihm praktizierten Konzeptualismus,
natürlich noch einen weiteren Sinn.


Konzeptualismus ist ein Begriff,
den sich die Tanz-Zeitgenossen mit der Bildenden Kunst teilen
hier heißt es schlicht Konzeptkunst
es sind jene Tänzer,
die in der Regel mehr reden als tanzen,
ob sie tatsächlich mehr an innewohnender 

und kunsthistorischer Systematik hinterfragen,
als andere Tanzkünstler,
wage ich zu bezweifeln.


Jeder Künstler, der Bestehendes verfremdet und erweitert,
betreibt im Prinzip „Konzeptualismus“,
dann ist es eben ein Konzeptualismus der Intuition
oder der Begabung,
jener Charakterzug,
der eigentlich auch maßgebend für den Künstler sein sollte.


Xavier Le Roy
ist schätzungsweise auch künstlerisch begabt,
deshalb ist er einer der wenigen „Konzeptualisten“,
die ich kontinuierlich verfolge.

Die Begabung zeigt sich bei ihm über seinen Charme,
und über seine berechnete Unberechenbarkeit,
ich würde sagen,
Xavier Le Roy
ist der George Clooney der Zeitgenossen,
er ist bis heute attraktiv,
er ist in seiner Unaufdringlichkeit charmant
wie sein Landsmann, Schauspieler Mehdi Nebbou,
beide gesegnet mit einem Touch von Yves Montand,
warmherzig und vertrauenswürdig,
nur ist das Trivago-Testimonial natürlich viel kommerzieller,
und Le Roy intellektueller.


Ich frage mich,
warum er es sich als intelligenter Liebenswerter antut,
immer wieder Publikumsansprachen zu halten,
(denn in Wahrheit hat er ja nicht nur mich gefragt,
sondern alle),
die dann in mehr oder weniger Schmäh-Einwürfen,
Ungeduldsbekundungen
und dümmlichen Besserwissereien enden.
Schon in Low Pieces hatten wir das 2013 bei ImPulsTanz.
Auch da tat er mir leid.


Le Roy sieht das anders,
er nennt es,
„wie lange ist es für beide erträglich,
wenn das Publikum zum Fragen-stellenden Subjekt,
und er als sein Gedächtnis verlorener Künstler zum Objekt wird?
Wie lange ist dieses von beiden Seiten empfundene
„unangenehme Gefühl“ auszuhalten?“.


Meine Frage:
Käme diese unangenehme Kommunikation auch zustande,
wenn das Publikum aus echten, passiven Zuschauern bestünde,
die in Wahrheit nicht selbst Tänzer, Performer, Darsteller sind,
wie die bei Le Roy größtenteils anwesenden Künstler?
Die Sätze rufen wie:
„Warum hast du die Vorstellung nicht abgesagt, wenn du das Gedächtnis verloren hast?“, „Warum ziehst du deine heißen Socken nicht aus, und tanzt einfach auf der Bühne?“, „Ich glaube, du gehst nach hause, und ich geh auf die Bühne.


Wie „unangenehm“ wäre die Beziehung erst,
wenn die verkehrten Verhältnisse von Subjekt und Objekt wirklich „echt“ wären?
Wahrscheinlich würde es im verlassenden Protest des Publikums enden.


Denn das Theater bedingt:
ein vorbereitetes, gebendes Subjekt auf der Bühne,
und ein nehmendes, für das Gegebene zahlendes Objekt im Zuschauerraum.

Wie auch immer,
Xavier Le Roy
spinnt den Gedanken im zweiten Teil Untitled Trio weiter,
selbst wenn das Publikum nicht selbst das Geschehen steuern muss,
sondern eine Verschiebung von Subjekt und Objekt auf der Bühne beobachten kann.


Zuvor sitzen die Zuschauer aber noch eine geraume Unendlichkeit im Schwarzen.
Ungehaltener können sie kaum noch werden.

Es liegen zwei braune,
von Kopf bis Fuss mumifizierte Gestalten auf der dunklen Bühne.
Mystische Butoh-Atmosphäre macht sich breit,
bei den vier gegrätschten Beinen.

Eine weitere „Mumie“ sitzt irgendwo seitlich.
Als sich die eine aufrichtet, glaubt man,
es sei Le Roy,
unheimlicher Weise wird aber klar,
dass die Statische Le Roy ist.
Er steuert mit seinen beschnürten Armen deren Körper,
gleich einem Puppenspieler,
wobei Le Roy in der Nebenrolle das unbewegte Subjekt,
die Puppe in der Hauptrolle das bewegte Objekt ist.
Gemeinsam werden sie zur Bodenchoreografie
zur emotionalen Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta von Béla BartókRIAS Symphonie Orchester Berlin, dirigiert von Ferenc Fricsay.


Steigerung erfährt das Geschehen,
als Le Roy vom Boden aus
mit ruhigen,
zackig bewegten Händen und Füßen
die zweite Mumienpuppe
aufrichtet,
in die Höhe transportiert,
bis sie knapp unter der Decke
in wilden,
aber weichen Bewegungen,
in den Lüften tanzt.


Im dritten Teil: Untitled Solo lässt sich Le Roy schließlich
als Objekt von einem Subjekt-haften Kopfhörer
durch die Musik Changelling und Number, Song von DJ Shadow führen,
die der Zuschauer nicht hört. 
Abwechselnd zucken sein rechtes gegrätschtes Knie
und sein linker Fuß.
Wie schon in früheren Arbeiten
verselbständigen sich seine Gliederelemente roboterhaft,
allerdings passiert das in diesem Kontext „ferngesteuert“.
Seine Schultern und Arme bewegen sich,
als würden sie jetzt von Schnüren gezogen.
Doch die symmetrische Bildsetzung verrät,
dass hier „ein Künstler“ der „Schnur-Zieher“ ist,
nicht etwa ein beliebiger, dem Zufall gehorchender Zuschauer.


Ist das der Grund, warum sich Le Roy vor dem Ende
aufrichtet und krächzt und schreit?
Hat er gerade jetzt sein Gedächtnis wieder erlangt
und erkannt, was ihn gelähmt hatte?
– Dass er ein selbstbestimmter, kreativer Mensch sein
und sich ohne kunsthistorische Vorgaben darstellen möchte?
Heißt das aber nun, dass sich jeder,
ohne Können,
auf die Bühne begeben darf?
Ich denke, das wollte Xavier Le Roy damit nicht sagen.



Alexander Wrabetz hat Xavier Le Roy`s Untitled falsch verstanden



Just heute, am 9.8.2016 wurde der ORF-Generalintendant Alexander Wrabetz wiedergewählt. Sein Fernseh-Konzept lautet: „Die Zukunft bringt eine Öffnung für alle Social-Media-Kanäle und damit für die Zuschauer. Wir werden uns schon demnächst den Zuschauern stellen, Kritik und Vorschläge hören – und das auch live übertragen. Am Schluss dieses Prozesses soll ein neuer ORF stehen, in dem die Seher über Internet und Social Media das Programm mitgestalten.“ Interessant ist Wrabetzs Randbemerkung, die wohl für den Verwaltungsapparat ORF den größten Vorteil dieser Entwicklung bringen soll: dies sei eine „leistbare Weiterentwicklung“.

Es werden sich im Zeitalter der Selfie-Publizisten auf Facebook sicher genügend vom Krankheitsbild des Narzissmus befallene, vom Objekt zum Subjekt Selbsterkorene finden, die erfreut sind, gratis und ohne Leistung (= Können) ins Fernsehen zu gehen. – Ob dann allerdings die Zuschauer gewillt bleiben, dafür Gebühren zu bezahlen, oder ob sie bereit sind, sich selbst als Werbetreibende zu verstehen und über ihre Gebühr ihren Sendeplatz zu kaufen, das steht wohl in den Sternen.
Sicher jedoch ist, dass die „Professionalität“, die nach langer Erfahrung ihre Bühne verdienen würde, mit diesem „günstigen Fortschritt“ auf der Strecke bleibt.

Ein Selbstbedienungsrestaurant ist zwar ein berechtigter Ort des günstigen Konsums, aber was bringt es, wenn sich der konsumierende Mensch selbst, beziehungsweise seinesgleichen, aufisst?
– Nicht nur die Kannibalisierung, sondern auch den Kannibalismus. e.o.





DAS URTEIL XAVIER LE ROY HAT IN SEINER DREITEILIGEN ABSTUFUNG DER SUBJEKT- UND OBJEKTVERSCHIEBUNG DARGESTELLT, WO DIE NUANCEN LIEGEN, WIE JEMAND DIE AUFFÜHRUNG LENKEN KANN: DAS PUBLIKUM, DER ANONYME UNSICHTBARE KÜNSTLER , UND DER FREMDBESTIMMTE SICHTBARE KÜNSTLER, DER JEDOCH SELBSTBESTIMMT SEIN MÖCHTE. – MAN SOLLTE DAS ALS AUFRUF, SICH AUF UNKONVENTIONELLE PFADE ZU BEGEBEN, VERSTEHEN. EGAL OB ALS KÜNSTLER ODER KUNSTKONSUMENT. ES IST DABEI ABER IM SINNE DER KUNST-  UND  UNTERHALTUNGSENTWICKLUNG EMPFEHLENSWERT, DIE GRENZEN ZWISCHEN PROFESSIONALITÄT UND AMATEURHAFTIGKEIT ABZUSTECKEN.
 

PERFORMANCE Untitled (2014) * Konzept & Performance: Xavier Le Roy * Puppen: Coco Petitpierre * Ort: Akademietheater, Wien * Zeit: 21.7., 21h

PERFORMANCE Treasured in the Dark * Konzept, Regie & Performance: Thiago Granato * Sounddesign: Gérald Kurdian * Ort: Schauspielhaus, Wien * Zeit: 22.7., 21h; 24.7., 20h