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Wednesday, March 12, 2008

THEATER: STEPHAN MÜLLER FINDET DEN ANSTAND IN GOETHES "CLAVIGO"

Die um den guten Ruf der französischen Familie besorgte Verwandte (Heike Kretschmer) und der vorhersehende Familienfreund Buenco (Till Firit) reden auf Marie Beaumarchais (Luisa Katharina Davids) ein ...

... ihr Bruder (Günter Franzmeier) will Clavigo, der in Spanien aus Karrieregründen sein Liebesversprechen an Marie brach, zu einer anstandswahrenden Erklärung zwingen, ...

... da beschließt Clavigo (Raphael von Bargen) doch, Marie zu heiraten, merkt aber, dass er sie tatsächlich nicht mehr liebt ...

... wahrscheinlich, weil ihn der windig-aalglatte Carlos (Michael Wenninger) auf kalt-starken, homoerotisch-neoliberal kalkuliernden Händen zu manipulieren versteht. (Fotos © Nathalie Bauer)


VOLKSTHEATER NACHDEM SICH "VERLETZTER STOLZ" VON SITZENGELASSENEN FRAUEN HEUTE ÜBER DIE MEDIEN ZU "KEINEM STOLZ" WANDELT, SCHEINT DIE ZEIT REIF ZU SEIN FÜR STIL UND NIVEAU IN EINEM SELBST - STEPHAN MÜLLER DRÜCKT DAS IN SEINER REGIE VON CLAVIGO MIT EINDRINGLICHEM FORMALEM SUBTEXT AUS

"Es gibt nichts erbärmlicheres, als einen unentschlossenen Menschen", sagt Freund Carlos zum zwischen persönlichem Versprechen und Wortbruch taumelnden Clavigo. Dieser Clavigo des gleichnamigen Goethe-Stücks von 1774 wird derzeit im Volkstheater vom "jungen, ehrgeizigen Schriftsteller"-Helden zu jenem des "Journalisten". Bezeichnenderweise. Ein ehrgeiziger, auf sein Gewissen nicht hörender Schreiber, kann heute nur ein Journalist sein. Weil die meisten Journalisten entweder nur mit Sensations-Klatsch oder mit meinungserkauften PR-Arbeiten auf Durchschnittsniveau existieren können - dazu sind auch jene Berichte zu zählen, die im Rahmen des "offiziellen Nachrichtenwesens", sprich in "seriösen" Tageszeitungen und Magazinen, erscheinen ...
Dass die krassierende Manipulationswahrscheinlichkeit über die Jahrhunderte hinweg stets talentierte, aber mittellose Menschen ergreift, die sich von Null emporkämpfen müssen, scheint da generell bedenklich. Ein Mechanismus, der in jeder Berufssparte zu finden ist. Dass es in diesem Fall ein Schreiber sein mußte, ist dem Bedürfnis des jungen Sturm und Drängers Goethe zuzuschreiben, den echten, innerpsychischen Kampf so eines Zerrissenen exakt in Worte fassen zu wollen; wie hätte er das realistischer tun können, als aus seinen eigenen Gewissensbissen schöpfend, die er gegenüber seiner Jugendliebe hatte. - Beim Emporkömmling werden sich diese inneren Gefühlswirren mit nutzenorientierter Entscheidung allerdings im Sinne von (Stück-Zitat) "ohne Stand keine Eh(r)e" auf vielen Ebenen zeigen, nicht nur in der Liebe.

Verletzter Stolz, der sich heute zu Keinem wandelt

In der Liebe ist das schlechte Gewissen eigentlich nicht mehr vonnöten, beanstandet zu werden. Wenn ein junger Mann einem Mädchen vor seinen Studienjahren die Ehe (seine Liebe) versprach, er dieses Versprechen dann aber nicht einhält, ist das heute höchstens bedauernswert, sicher nicht anstößig. Im Grunde ist es nicht einmal bemerkenswert. Das jetzt noch relevante Thema liegt allein im Moment, wo dieser Mann merkt, nur mit einer gesellschaftlich (einfluß)reichen Lebenspartnerin Karriere machen zu können; und dass dadurch die einstigen Liebesgefühle (tatsächlich!) verklingen. Der Nutzeninstinkt manipuliert so den reinen herzorientierten Bindungsinstinkt. Mit der Absage wird der Betroffene seinen wahren Gefühlen - und damit sich selbst - also nicht untreu. Zu schaffen machen ihm nur Moral-, Verantwortungs- und Schuldgefühl, Gefühle, die heute - im Zeitalter des Opportunismus - ebenso keine Rolle mehr spielen. Denn der Opportunist ist in dieser geschäftstüchtigen Gesellschaft ein Held, wo es nicht einmal gilt, einen ehrbaren Schein zu wahren.

Im ausklingenden 18. Jahrhundert dagegen, war Anstand noch etwas wert. Gesellschaftlich geächtet wurde, wer sich ehrenlos verhielt. Besonders wenn das zulasten eines hilflosen Mädchens (in Clavigo: Marie von Beaumarchais) geschah, das dann mit dem Ruf der "Sitzengelassenen" leben mußte. Für manche Frau ist das auch heute noch kaum zu ertragen. Dann kann sie sich aber immerhin mit ihrem verletzten Stolz an die Medien wenden, sich in Talkshows und Society-Schluderblättern ausheulen, die diesen verletzten Stolz entsprechend ihres Opportunismus in "gar keinen Stolz mehr" lenken. Dadurch macht sich so eine Frau endgültig zum bedauernswerten Gespött aller, vielleicht ohne es zu merken, weil sie die allgemeine Aufmerksamkeit verkennt: die als öffentliche Anteilnahme verpuppte Schadenfreude.

Hinsichtlich dieser perversen Steigerung von heute, konnte sich Goethe noch privilegiert fühlen, denn immerhin lebte er in einer Zeit, wo man Gefühle noch ernst nahm und nicht mit ihnen (etwa aus bloßer Popularitätsgeilheit) spielte. - Ein volleres Niveau, das der 57-jährige, schweizer Regisseur Stephan Müller mit Theater- und Tanzausbildung glücklicherweise erhalten bzw. wieder auferweckt hat. Inhaltlich und ästhetisch, rhythmisch und symbolhaft abstrahiert, in der typengerechten Besetzung mit viel gestisch-tänzerischem Körperspiel sowie im klaren Bühnenbild voll subtextlicher Details.

Erstrebenswerter Stolz als Sehnsucht in äußerer Form

Der Anstand der damaligen Zeit findet sich somit als etwas-zumindest-Erstrebenswertes im äußeren Schein des leeren, weitläufigen, bronze-farbenen Raums von Bühnenbildner Hyun Chu, in Carlos´ karrieresüchtigem Nadelstreifanzug, Clavigos naiv-eitlem Rüschenhemd, im unschuldig-weißen und dann liebeshoffend-roten Kleid der ausgeliefert-barfüßigen Marie (adretter Anblick: Luisa Katharina Davids) von Kostümbildnerin Birgit Hutter; und menschlich im Stakkato-Sprechgesang von Carlos und Clavigo, die in ihrer gemeinsamen Karriereliebe und der eindringlichen Art Carlos´ (glaubwürdig neureich-neoliberal und damit passend unsympathisch wirkend: Michael Wenninger) auf Clavigo einzuhetzen, einen homoerotischen Touch aussenden, der einerseits die Unsicherheit der Orientierung manifestiert, andererseits das Hin-und-Her von Clavigos wankenden Gefühlen (zwiespältig-labil: Raphael von Bargen). Große Ausstrahlung in seinem edel geschnittenen, braunen Mantel besitzt Maries Bruder Beaumarchais (Günter Franzmeier), der um die Ehre seiner kleinbürgerlich-fragilen Schwester in Frankreich kämpft, der aber von den in Spanien - mit seinen kräftig-mondänen Frauen als Aussicht - lebenden Burschen (v.a. Carlos) so trickreich hinters Licht geführt wird, dass er letztendlich selbst bis zur Gefängnisstrafe sein Ansehen verliert.

Von der Intrige zur Lebensmoral

Intrige bei doppelter Wortbrüchigkeit funktionierte demnach schon vor zweihundertfünfzig Jahren, sie läßt sich, je nach Rechtssituation des Landes, zu jederzeit mit verdrehten Mitteln zugunsten des Bauernschlausten-ohne-Skrupel auslegen. Interessant dabei ist, dass jenen Leuten, die die Dinge durchschauen und Entwicklungen vorhersehen (wie hier Buenco - maniriert gut: Till Firit), nie Glauben geschenkt wird, weil sie offensichtlich zu wenig bestimmt und klüngelhaft auftreten.

- Bei all den menschlichen Abgründen können nur Schuld, Strafe und Buße reinigen: Marie und Clavigo müssen sterben. Das Schlußbild der Inszenierung ist dafür wieder versöhnend kitschig - wohl gedacht, als Lehre für das Gute im Menschen - wenn die einst Liebenden gemeinsam im Grab ein (englisches!) Poplied singen. Das bedeutet Entschuldigung und Verzeihung im Jenseits zugleich, und somit die erstrebenswerte Moral zu Lebzeiten für das Publikum. e.o./a.c.


DAS URTEIL SCHÖNER ANBLICK. INTELLIGENTES SUBTEXT-KÖRPERSPIEL VON GUT BESETZTEN DARSTELLERN. DETAILREICHE PSYCHOENTWICKLUNG EINER LIEBE, DIE WEGEN DER KARRIERE VERGEHT. UND EIN PLÄDOYER FÜR DIE WIEDERAUFERWECKUNG VON STIL UND ANSTAND IN UNSERER (MEDIEN)ZEIT.

THEATER Clavigo * Von: Johann Wolfgang von Goethe * Regie: Stephan Müller * Musik: Thomas Luz * Dramaturgie Hans Mrak * Mit: Luisa Katharina Davids, Heike Kretschmer, Raphael von Bargen, Till Firit, Günter Franzmeier, Thomas Kamper, Michael Wenninger, Markus Westphal * Ort: Volkstheater Wien * Zeit: 12., 19.6.2008: 19h30-21h

Saturday, May 12, 2007

THEATER: RAMIN GRAY MIT KARGEM "AM STRAND DER WEITEN WELT" VON SIMON STEPHENS

Ein Generationen-Stück, insbesondere über Väter: Charlie Holmes (Gerd Rigauer) gehört noch zu jener Spezies, die sich mit Gewalt das Sagen erstreitet: bei seiner Frau (Silvia Fenz, links: Martin Vischer als deren Enkel)

Im Krankenhaus kommt es zur Aussprache zwischen Vater und Sohn Peter (Alexander Strobele), der schon viel "gleichberechtigter" eingestellt ist, aber trotzdem noch genug Probleme hat.

Peters Frau Alice (Therese Affolter) verliebt sich ausgerechnet in den, der ihrer Familie eine Schicksalsprüfung auferlegt: in den, der ihren Sohn überfahren hat. Doch sie kommt zu ihrem Mann zurück. (Fotos © Gabriela Brandenstein)


VOLKSTHEATER MICHAEL SCHOTTENBERG BRINGT MIT SIMON STEPHENS TYPISCH BRITISCHE MODERNE NACH WIEN. SCHÖN, UNTER DER REGIE VON RAMIN GRAY DIE SCHAUSPIELER EINMAL ANDERS ZU SEHEN

Wunderbar, Alexander Strobele einmal anders zu sehen. Meist ist er der zerknirschte Antiheld, der Drückeberger, der hinterfotzige Schleimer, der Opportunist. Diesmal ist er ein liebender Vater, der sich aufrichtig um seine Kinder kümmert. Aber auch in Am Strand der weiten Welt lässt ihn die Aura des Mitläufers, die prinzipielle Angst vor Führungsverantwortung, nicht ganz los. Und da ist er in dem für das Volkstheater a-typisch modernen, englischen Stück des jungen Autors Simon Stephens diesbezüglich nicht der Einzige. Alle Menschen laufen hier in gewisser Weise mit, und zwar mit der Zeit, die ihnen in ihren Generationen jeweils andere Verhaltensweisen und -anpassungen im Paarleben abverlangt.

Genau genommen geht es um drei unterschiedliche Mann-Frau-Beziehungen und ihre Entsprechungen gegenüber Vater, Mutter und Kindern. Und dann ist da auch noch die subtile Nuance von Emanzipation, mit Auswirkungen auf "männlicher bzw. cooler" werdende Frauen und "weiblicher bzw. einfühlsamer" werdende Männer, ohne es abwertend oder homosexuell zu sehen. Ja, Simon Stephens hat große Hoffnung in die Zukunft, indem er meint, mit jeder Generation würden - insbesondere Väter - zu besseren.

Brillante Schauspieler in allzu alltäglichem Sprechspiegel

Tatsächlich ist der brillante Schauspieler Gerd Rigauer als Charlie Holmes noch ein Mann, der seine Frau Ellen (Silvia Fenz) mit handgreiflicher Gewalt unter Druck setzt - allerdings so, dass nie ganz klar wird, ob er sie tatsächlich geschlagen hat - dank der die Schauspieler verhalten führenden Hand von Regisseur Ramin Gray, der für diesen insgesamten Ausdruck auch eine karge Bühne geschaffen hat. Obwohl des Patriarchen Gewalttätigkeit von den Familienmitgliedern also beklagt wird, kommt es - typisch für diese Generation - nie deutlich heraus. Da nun Stephens aber so hoffnungsvoll ist, paßt sich "dieser Vater" am Ende sogar von selbst an die jüngeren Generationen an, indem er, so gut er kann, den Tisch mitdecken wird. - Das ist wohl die einzige Utopie, die sich dieses Stück leistet.

Denn insgesamt bleibt es ein Spiegel der Realität. Wer im Theater Fantasie und Alltagsferne liebt, wird hier spätestens nach der Pause unbefriedigt sein. Obwohl formal witzig gelöst, indem ein Klappenknall einen Szenenausschnitt nach dem anderen einläutet, sodass es sogar Musik- und Filmcharakter bekommt, bleibt es ein allzu naturalistischer Spiegel dessen, was wir alle zuhause vorfinden. Man fragt sich also: Bin ich deshalb ins Theater gegangen, um das vorgeführt zu bekommen, was ich eh schon kenne? Durch die karge Inszenierungsaura und gewöhnlichen Dialoge, die inhaltlich nie zu überraschen vermögen, bleibt es sprachlich etwas oberflächlich Erzähltes, ohne je ein tiefes Innenleben zu entblößen.

Aber die Schauspieler faszinieren. Vor allem die älteren Kaliber, die in letzter Zeit am Volkstheater ein wenig zu kurz kommen: Neben den erwähnten "Vätern" zeigt vor allem Therese Affolter, was eine Charakterschauspielerin ist. Und die Jugend ist auch ziemlich anders: Raphael von Bargen ist als Generation-X-Sohn Alex Holmes kaum wieder zu erkennen, der sich mit der eher erkennbaren Katharina Straßer liiert, als Girl von nebenan, wie man sie schon öfter im Volkstheater bewundern konnte. Susa Meyer hat eine anmutige Ausstrahlung, als außenstehende, mitfühlende Schwangere, die für den Fortlauf der Menschheit steht. a.c.


DAS URTEIL WER DEM ALLTAG ENTFLIEHEN WILL, SOLLTE SICH DIESES NATURALISTISCHE STÜCK NICHT ANSEHEN. WER ABER MAL ETWAS "ANDERES" IM (VOLKS)THEATER SEHEN WILL, KANN VORBEISCHAUN: BEI SCHNELLEN SZENENSPRÜNGEN, GUTEN SCHAUSPIELERN.

THEATER Am Strand der weiten Welt * Von: Simon Stephens * Regie und Bühne: Ramin Gray * Mit: Peter Holmes, Alexander Strobele, Therese Affolter, Gerd Rigauer, Silvia Fenz, Raphael von Bargen, Katharina Straßer, Paul Matic, u.a. * Ort: Volkstheater Wien * Zeit: 15., 20.5.: 18., 22.6.2007: 19h30

Tuesday, April 03, 2007

THEATER-MUSICAL: MICHAEL SCHOTTENBERG MIT "CABARET" AM ZENIT SEINES SCHAFFENS

Fotos © Lalo Jodlbauer: Sally Bowles (Maria Bill Mitte, neben Annette Isabella Holzmann links, und Andy Hallwaxx, Katharina Straßer rechts) arbeitet als laszive Star-Tänzerin und -Sängerin in einer Berliner Bar Anfang 1930 ...

... Dort lernt sie den amerikanischen, mittellosen Schriftsteller Clifford Bradshaw (Raphael von Bargen) kennen, in dessen kleine Mietwohnung sie einzieht...

... wo die beiden allerdings von der opportunistisch-pragmatischen Wirtin "Fräulein" Schneider (Hilde Sochor) abhängig sind, die ihren jüdischen Verehrer (Heinz Petters) feige fallen läßt, sobald die Nazis an der Macht sind ...

... Dieser psychologische Angstmechanismus dient dann Conférencier Marcello de Nardo als Thema seines Revue-Kabaretts mit einem Affen als "geliebten Juden": eine der intelligentesten und berührendsten Nummern des mitreißenden Abends.


VOLKSTHEATER MICHAEL SCHOTTENBERG HAT ES GESCHAFFT: MIT DEM MUSICAL CABARET HOLT ER ALLES AUS SEINER BÜHNE UND SEINEN SCHAUSPIELERN HERAUS, WAS NUR HERAUSZUHOLEN IST - EIN WAHRLICH BEGLÜCKENDES KUNSTERLEBNIS

Keine Frage - da hat jemand Regie geführt, der jeden Quadratmilimeter des Raumes kennt. Da hat jemand besetzt, der jeder Facette seiner Schauspieler gewahr ist, allen voran der Hauptdarstellerin (die denn auch seine Frau ist) als leuchtender weiblicher Revuestar "Sally Bowles" in Cabaret: Maria Bill. Obwohl nicht groß, macht sie - mit Permanentbetonung ihrer Beine - die beste Figur, obwohl keine Tänzerin, bewegt sie sich am anregendsten, obwohl nicht mehr blutjung, wirkt sie verspielt naiv wie ein kokettes Mädchen, doch da eine Sängerin, singt sie alle anderen an die Wand. Allerdings nur die weibliche Mannschaft: Marcello de Nardo ist es der Bill unter den Männern als Conférencier in jeder Hinsicht: er ist präsent, ein wunderbarer Tänzer und Sänger und obendrein ein wandelbar überzeugender Schauspieler.

Schottenbergs Anlaufzeit hat sich rentiert

Eigentlich bestechen aber nicht nur die Hauptfiguren, die ebenso durch Raphael von Bargen als Schriftsteller, Hilde Sochor als Wirtin "Fräulein" Schneider, sowie durch Heinz Petters als "Herr Schultz" mehr als nur glaubwürdig verkörpert sind. Nein, es gewinnt das ganze, starke Ensemble, was für die verantwortungsbewußte und zu führen fähige Hand des Regisseurs und Theaterdirektors Michael Schottenberg steht. Mit dieser Inszenierung wird nun klar, was er in der Zusammenstellung seines Hausstabs sah - in vergangenen Stücken war das nicht sofort augenscheinlich. Selbst wenn sich langsam herauskristallisiert, dass einige dieser "Typen", wovon die meisten erst auf den zweiten Blick auffallen, immer spannender werden. Indem der Zuschauer vom einen zum nächsten Mal an ihnen Neues entdecken will - gerade wegen des zweiten Blicks.

Die zur Geduld mahnende Anlaufzeit, bis das Volkstheater mit dieser Inszenierung zur absoluten künstlerischen Reife erblüht ist, hat sich also gelohnt. Für Schottenberg, für das Ensemble, für das Publikum. Das anfänglich "zu Neue" hat sich in Richtung "Vertrautheit" verlagert, nicht im Stil von Showmaster-Schmeicheleien seitens Schauspielern, wie man sie von heimischen Langzeit-Bühnenstars kennt, sondern im Aufspüren-Wollen der Zuschauer bezüglich deren Verwandlungskunst und Vielfalt. Und in Cabaret zeigte sich nun, dass einige von diesen Schauspieler-Typen auch noch ausgesprochen gut singen können: Von Bargen spielt zudem Saxophon, Jennifer Frank Violine.

Ein Cabaret, das in den Bann zieht

Sofort, als der amerikanische Schriftsteller Clifford Bradshaw - wohinter sich der echte Autor Christopher Isherwood verbirgt, dessen Berliner Erzählungen über die Begegnung mit dem Revuegirl Bowles mit der Musik von John Kander zu einem Musical (Fassung von Chris Walker 1997) zusammen gefaßt wurden - 1930 in Berlin ankommt, ist man als Zuschauer gefangen. Schon, weil die roten Lampen der als Raum im Raum ausziehbaren Revue-Bar, wo Sally singt, in den Zuschauerraum reichen - eine wunderbare Bühnenkreation von Hans Kudlich. Im gefälligen Wechsel zwischen laszivem, von einmalig gutem Orchester begleiteten Gesang und gespielter, kleinbürgerlicher Handlung, worin sich zuerst der Dichter und dann auch Sally bei der Wirtin Schneider einquartieren, wird man plötzlich mit dem politischen Wechsel konfrontiert, als die naiv-arme Gesellschaft zu jener der Nazis mutiert: die Lampen im Raum sind nun Nazi-Fahnen gewichen.

Sensibel gesetzte, reflexive Kontraste

Sehr sensibel und musikalisch weiß Schottenberg mit den Kontrasten umzugehen, ohne etwas auch nur eine Sekunde auszureizen. Und der Tontechniker wechselt dabei kongenial in ebenso virtuoser Exaktheit zwischen Echo und Sprechakustik. Die Text-Bilder werden in entsprechende Visuelle umgesetzt: Will also etwa die Wirtin mit der einsetzenden Nazizeit aus opportunistischen Gründen ihren Verehrer, den Juden Schultz, nicht mehr heiraten, tanzt als Parallele Conférencier Nardo mit einem Affen und singt dabei: "Sähe man sie (den Affen = den Juden) mit meinen Augen, würde die Welt sie anders sehen." Oder es singt Maria Bill als Highlight "Life is a Cabaret" tief und präsent, nachdem zuvor eine hochqualitative Kleszmer-Nummer aus Akkordeon und Klarinette einem ebenso starken - von den Nazis durch ihre für-sich-Beanspruchung "vergewaltigten" - Volkslied-Sängerknaben gegenüber gestellt wurde. - Dieser politische, für die Durchläufigkeit von Gesinnungen stehende Kontrast wird dann am Ende noch einmal durch die Figur des clownesken De Nardo bekräftigt, indem er sich schnell gerafft vom Nazi-Zöllner zum Conférencier und dann zum Mann mit Judenstern wandelt.

Und vor diesem Hintergrund zerbricht auch die dreijährige Beziehung des Künstlerpaars, weil der Schriftsteller seine schwangere Frau nicht mehr auftreten lassen wollte. - Er, der von ihr als "klein" titulierte Schreiber: "Es wird dir niemand nachweinen." Sie, das Kind abtreibend und wieder auftretend: "Ich bin Künstlerin!" - In der Realität wurde der Schriftsteller Isherwood später freilich weltberühmt, während Bowles einen kommunistisch-britischen Journalisten heiratete, Mutter wurde, und vom früheren Sally-Bowles-Vamp nichts mehr wissen wollte. e.o.


DAS URTEIL MICHAEL SCHOTTENBERG HAT MIT CABARET EIN GESAMTKUNSTWERK GESCHAFFEN. SEIN BISHER BESTES STÜCK - NICHT NUR AUF DIE VOLKSTHEATER-ZEIT BEZOGEN. UND DABEI ABER EINE VORZEIGELEISTUG FÜR EIN "VOLKSTHEATER": ALS GROSSARTIGE UNTERHALTUNG, INTELLIGENTE LEHRE. EIN ABSOLUTER PFLICHTTERMIN VON UND MIT TOP-PROFIS!

THEATER (MUSICAL) Cabaret * Von: Joe Masteroff nach dem Stück Ich bin eine Kamera von John van Druten und Erzählungen von Christopher Isherwood, Musik: John Kander, Gesangtexte: Fred Ebb, Fassung: Chris Walker 1997 * Regie: Michael Schottenberg * Bühnenbild: Hans Kudlich * Choreographie: Susa Meyer * Musikalische Einrichtung: Herbert Pichler * Mit: Marcello de Nardo, Maria Bill, Raphael von Bargen, Hilde Sochor, Heinz Petters, u.a. * Ort: Volkstheater Wien * Zeit: 31.12.2007, , 5., 10., 14., 19., 20.1.2008: 19h30