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Saturday, May 24, 2008

OPER: FRANK CASTORF NEIGT SICH VOR RIHMS "JAKOB LENZ"

Dichter Jakob Lenz (Georg Nigl) sucht Ruhe bei Pfarrer Oberlin (Mitte: Wolfgang Bankl), wofür er über die Alpen (- ein Schienenfaden -) wandert. Doch die Hoffnung am Glauben verliert er ...

... sowie auch am Freund Kaufmann (Volker Vogel), der Goethe repräsentiert, dessen gesellschaftlich angepaßte Dichtkunst Staat und Volk überzeugt, während jene Lenz - so makaber übergroß (siehe Kostüm) - gar nicht "paßt".

Lenz will über seine "gefühlte Wahrheit" schreiben. Doch selbst seine "Liebe Friederike", die mitsamt den Kreuzen des Pfarrers aus Lenzs Wahrnehmung "geht", "versteht ihn nicht".

Den Rest gibt Lenz seine Unfähigkeit, ein krankes Mädchen zu retten - eine letzte Metapher für den Glauben an sich selbst als fähiger Dichter. (Fotos © Dorothea Wimmer)


MUSEUMSQUARTIER - WIENER FESTWOCHEN FRANK CASTORF HAT SICH ZÄHMEN LASSEN: WOLGANG RIHMS KAMMEROPER JAKOB LENZ NACH BÜCHNERS LENZ HAT OFFENSICHTLICH SEIN GEMÜT BEWEGT ...

Das hat er heuer wirklich toll hin gekriegt. Ohne Schmäh, die (zeitgenössische) Oper steht dem Castorf gut. Das, obwohl er eigentlich die Berliner Volksbühne leitet, "das" Schauspiel-Theater des urbanen Publikums schlechthin. Fakt ist aber auch: Castorfs Inszenierungen (wie letztes Jahr Norden) polarisieren Wiens Gäste. Ganze Zuschauerreihen verabschieden sich für gewöhnlich bei laufender Aufführung im Dreivierteltakt (sodass es jedes Jahr erstaunlich ist, dass zu Stückbeginn trotz offensichtlichen "Zuschauerprotests" alle Plätze ausverkauft sind). Der Takt heuer nun - bei der Kammeroper Jakob Lenz - ließ die Bildungsbürger bis zum Stückende ausharren. Das lag an der Musik Wolfgang Rihms, die zu Castorfs ex-/impressionistischem Stilbruch der Zeitnorm mit textlicher bzw. Handlungs-Wiederholung zwecks Verständnisnachdruck bestens harmoniert, aber auch an Castorfs - den Umständen entsprechend - diesmal doch sehr chronologisch, behutsam und schlüssig erzähltem Zugang.
Es scheint fast, als hätte Castorf beschlossen, - wenn schon Büchner in seinem Urstoff (dieser Fassung von Michael Fröhling) eine Welt ohne Zusammenhang und damit als totales Chaos im "notwendigen Fragment" beschreibt - dieses Chaos nicht auch noch stilistisch betonen zu wollen, selbst wenn das an-sich sein formales Credo ist. Das inhaltliche Chaos bezieht sich konkret auf den steigenden Wahn des Titelhelden "Jakob Lenz", ideologischer Dichter-Jugendfreund des jungen und Kontrahent des späten Goethe (1749-1832), der sich auf Wanderschaft in die Alpen begibt, um beim Pfarrer Oberlin seine Ruhe zu finden. Und so wie die Natur rundum des Gehenden in wirren Apocalypse-Visionen zerfällt, so verliert auch die Zeit ihr Kontinuum zugunsten beängstigender Momentimpressionen. (Büchner selbst starb 1837 als steckbrieflich gesuchter Politflüchtling mit 24 Jahren an Nervenfieber.)

Castorf in Demut und doch klar erkennbar

Das Ziel ist - so oder so - die Darstellung des Gemütszustands der Verzweiflung als artistische Herausforderung und als einzig authentische Sprache zur sozialpolitischen Anklage von Machtstrukturen - denn daran hat sich bis heute nichts geändert. Es scheint Castorf damit so ernst zu sein, dass er diesmal - auf jegliches grenzsprengende Spektakel verzichtend - in Demut verfällt. Und doch hat es noch genug "Saft", dass darin ein Castorf zu erkennen ist. Sich den Satz des Komponisten Rihm zu Herzen nehmend, "Vor allem gilt: der Faden, an dem Jakob Lenz hängt, ist der Strom ins Herz der Hörer", fädelt der deutsche Regisseur mithilfe von Bühnenbildner Hartmut Meyer auch dramaturgisch einen (zweimal sogar glühenden) "Schienenfaden" auf die sehr tiefe, nackte, schwarze Langbühne der Halle E im Museumsquartier. Der Weg auf ihm, wenn die Schauspieler und Sänger phasenweise in drollig-makaber überzeichneten Gnomen-Stereotyp-Riesenuniformen darauf schlafen und balancieren, ist also tatsächlich beängstigend schmal und lang. - Die Metapher von des Wanderers Lenz Gedankenzustand und stellvertretend für die unsicher schwankende Existenz aller Menschen auf Erden, sobald sie über ihr Dasein nachdenken und zwangsläufig zu zweifeln beginnen.

Wenn Freunde und Staat wegschauen ...

Der zweite Autenthaltsort stellt ein Müllwaggon dar, gefüllt mit kaltem (Castorf-typischem) Wasser, worin der arme Lenz (fragile Erscheinung: Georg Nigl) in weißer Unterwäsche und Kniestrümpfen immer wieder "schwimmt" - und "untergeht" in depressiver Ohnmacht vor dem Wust seiner wachsenden Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung über diese Erdenzustände mit immer mehr herein geschobenen Waggons, einer davon mit Kreuzen (Religion) gefüllt. Die zwillingshaften Figuren, Pfarrer Oberlin mit cooler Zigarette (Bass Wolfgang Bankl) und "Freund" ("Freund" Goethe ist das angesagte Dichter-Ideal, während die Welt "ihn=Lenz", der doch nur die Wahrheit schreiben wollte, nicht will) namens "Kaufmann" (in prächtig-rüttelndem Stahlwaggon auf der Schiene einfahrend und gesang-schauspielerisch als zynisch-kalter "Freund" eindringlich überzeugend: Tenor Volker Vogel) sind trotz ihrer gereichten Decke oberflächlich und kosmetisch, gerade wenn sie rufen: "Komm da heraus, Du holst Dir den Tod!", "Komm, ein Tag mit Arbeit gibt Zufriedenheit!" Die als höhere Wahrheit pointiert "gleich" Scheinenden aus dem "gegensätzlich" "schizophrenen" Blickwinkel Lenzs sind im Grunde sogar desinteressiert am Leid des lethargischen Freundes, weshalb sie in seinen Seelenzustand auch nicht einzudringen vermögen, als einziger Anker einer Überlebenschance. Spöttisch bitter wirkt dazu auch noch die potentiell im Leben alternative Hilfe von außen - eine umher getragene Mini-Fahne - die sagt, wie egal auch den Regierungsverantwortlichen der Schmerz außenseiterischer Zweifler ist: im hinteren Teil des Raums winzig klein wehend, kann die Sicht auf den Staat nur noch zynisch sein.

... wenn Glaubens- und Liebesfähigkeit zugrunde gegangen sind ...

So sind Staats-, Glaubensfähigkeit und gelebtes Berufsideal für Lenz obsolet, es bleibt nur die Hoffnung auf die Liebe. Doch auch da schwant ein Bild der Enttäuschung vor seinen Augen, begleitet von den unerwiderten Gefühlen von "Friederike". Ihr Bild der heiligen Unerreichbaren in Lenzs Kopf erhält für den Zuseher bald die wahre Deutung, wenn der Dichter - jetzt von einem Schauspieler (Georg Friedrich) gemimt - als schnurrender und an Friederike (Schauspielerin Winnie Böwe) zerrender Löwe von jener, ihn wegstoßend, nur mit schnoddrigen Worten bedacht wird wie, "Bist Du bescheuert? - Ich versteh Dich nicht!", um sogleich in eine Erzählerfigur zu mutieren und zu erklären: "Er verstand nicht, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte." Das Verständnis liegt wohl darin: Die Natur des Menschen erfährt die Steigerung der Natur des Tieres, so wie Lenz in seiner Seelenwanderung die Natur der Landschaft sieht; jene ist zunächst so positiv und allmächtig, wie sie mit der Enttäuschung bedrohlich und unerträglich wird. Weshalb Lenz sich die Alpennatur als schweren Pappkarton-Ballast auf die Schultern nimmt und durch einen Kasperlguckkasten über seinen Alpen-Abgang in dritter Person wiederholt: "Er war nicht müde, es war ihm nur unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte." - Und damit schließt sich der Kreis des Gefühls der Unverstandenheit von der Liebenden bis zur Gesellschaft, die "von Natur aus" keinen Sinn für das Unmögliche (Alternativen) haben. Und die Natur des Menschen begrenzt selbst jenen, der diesen Sinn hätte, also Lenz, - weshalb er letztenendes kapituliert. Das, obwohl der keilförmig in den Raum gesprühte Himmelspegel, echt wie ziehende Wolken in den Alpen, noch einmal von einer atemberaubenden Lebensbejahung ist, als zöge gerade der allmächtige Gott über die Bühne.

... braucht es nicht mehr viel, um aus dem Leben zu gehen

Gott steckt als Energiequelle auch immer wieder in der stellengenau dissonant und tonal gesetzten Musik Rihms mit Cembalo innerhalb des Orchesters, weshalb Castorf das einfühlsam und schön von Stefan Asbury dirigierte Klangforum Wien permanent präsent auf der Bühne - je nach momentanem Schutz - unter einem auf und ab fahrenden Dach verweilen läßt. Das Dach verliert seine suggestive Kraft aber völlig, als ein Kameramann ab Mitte des Stücks live den verwirrt-verlorenen Gesichtsausdruck von Lenz mitfilmt, der überlebensgroß auf die Dachplane projiziert wird. Dasselbe passiert mit dem wunderschön klingenden Chor (Barbara Achammer, Sabine Brunke, Selcuk Cara, Tijl Faveyts, Magdalena Anna Hofmann, Maria Weiß), der je nach Bedarf die Zwergen-Gnomgesellschaft, verdoppelte Friederike-Frauen oder Lenz-Alter-Egos verkörpert: durch genau diese Charakterisierung verliert sein Klang die Vertrauenswürdigkeit - und das ist einmal mehr: genial doppelbödig.

Das Aus des Permanentzweiflers Lenz tritt schließlich ein, als er versucht, ein Mädchen zu retten. Seine von Jesus entlehnten Worte, "Steh auf und wandle", gehen nicht auf, sodass das tote Mädchen sich in seiner Wahrnehmung verdoppelt, verdreifacht, jene toten Mädchen mit toten Friederikes zum potenzierten Tod verschmelzen, was in Lenzs Logik die einzig erlösende Erleichterung bringt, indem die "tote" Friederike in seiner Einbildung zu ihm sagt: "Jetzt erst bin ich dein." Gleichzeitig ist Lenzs innerlich immer noch gespürtes Selbstbild, von der allmächtigen Natur "wie der unverstandene Jesus" auserwählt zu sein, zerstört, womit seine "Göttlichkeit als Dichter und Mann" endgültig (im Selbstmord) ermordet wird. Castorf lenkt die Schuld aber auf die Gesellschaft. Mittels vertikal aufgestellten Bettes: es steht für Lenzs Todesruhe nach langem Sterben, verschuldet durch die unverrückbare Schranke des allgemeinen Blicks der passiven Zuschauer ... (e.o.)


DAS URTEIL EINE VIRTUOSE, GEISTREICHE UND SENSIBLE REGIE VON FRANK CASTORF - ER SOLLTE ÖFTER OPERN INSZENIEREN, DA SICH SEIN EXPRESSIONISMUS SO ZÄHMEN LÄSST!

OPER Jakob Lenz * Von: Wolfgang Rihm (Komposition) und Michael Fröhling nach Georg Büchners Lenz * Dirigat: Stefan Asbury * Neuinszenierung * Mit: Klangforum Wien * Mit: Georg Nigl, Wolfgang Bankl, Volker Vogel, Winnie Böwe, Georg Friedrich, u.a. * Produktion: Wiener Festwochen * Ort: Halle E/MQ * Zeit: 17.-22.5.2008

Wednesday, March 12, 2008

THEATER: STEPHAN MÜLLER FINDET DEN ANSTAND IN GOETHES "CLAVIGO"

Die um den guten Ruf der französischen Familie besorgte Verwandte (Heike Kretschmer) und der vorhersehende Familienfreund Buenco (Till Firit) reden auf Marie Beaumarchais (Luisa Katharina Davids) ein ...

... ihr Bruder (Günter Franzmeier) will Clavigo, der in Spanien aus Karrieregründen sein Liebesversprechen an Marie brach, zu einer anstandswahrenden Erklärung zwingen, ...

... da beschließt Clavigo (Raphael von Bargen) doch, Marie zu heiraten, merkt aber, dass er sie tatsächlich nicht mehr liebt ...

... wahrscheinlich, weil ihn der windig-aalglatte Carlos (Michael Wenninger) auf kalt-starken, homoerotisch-neoliberal kalkuliernden Händen zu manipulieren versteht. (Fotos © Nathalie Bauer)


VOLKSTHEATER NACHDEM SICH "VERLETZTER STOLZ" VON SITZENGELASSENEN FRAUEN HEUTE ÜBER DIE MEDIEN ZU "KEINEM STOLZ" WANDELT, SCHEINT DIE ZEIT REIF ZU SEIN FÜR STIL UND NIVEAU IN EINEM SELBST - STEPHAN MÜLLER DRÜCKT DAS IN SEINER REGIE VON CLAVIGO MIT EINDRINGLICHEM FORMALEM SUBTEXT AUS

"Es gibt nichts erbärmlicheres, als einen unentschlossenen Menschen", sagt Freund Carlos zum zwischen persönlichem Versprechen und Wortbruch taumelnden Clavigo. Dieser Clavigo des gleichnamigen Goethe-Stücks von 1774 wird derzeit im Volkstheater vom "jungen, ehrgeizigen Schriftsteller"-Helden zu jenem des "Journalisten". Bezeichnenderweise. Ein ehrgeiziger, auf sein Gewissen nicht hörender Schreiber, kann heute nur ein Journalist sein. Weil die meisten Journalisten entweder nur mit Sensations-Klatsch oder mit meinungserkauften PR-Arbeiten auf Durchschnittsniveau existieren können - dazu sind auch jene Berichte zu zählen, die im Rahmen des "offiziellen Nachrichtenwesens", sprich in "seriösen" Tageszeitungen und Magazinen, erscheinen ...
Dass die krassierende Manipulationswahrscheinlichkeit über die Jahrhunderte hinweg stets talentierte, aber mittellose Menschen ergreift, die sich von Null emporkämpfen müssen, scheint da generell bedenklich. Ein Mechanismus, der in jeder Berufssparte zu finden ist. Dass es in diesem Fall ein Schreiber sein mußte, ist dem Bedürfnis des jungen Sturm und Drängers Goethe zuzuschreiben, den echten, innerpsychischen Kampf so eines Zerrissenen exakt in Worte fassen zu wollen; wie hätte er das realistischer tun können, als aus seinen eigenen Gewissensbissen schöpfend, die er gegenüber seiner Jugendliebe hatte. - Beim Emporkömmling werden sich diese inneren Gefühlswirren mit nutzenorientierter Entscheidung allerdings im Sinne von (Stück-Zitat) "ohne Stand keine Eh(r)e" auf vielen Ebenen zeigen, nicht nur in der Liebe.

Verletzter Stolz, der sich heute zu Keinem wandelt

In der Liebe ist das schlechte Gewissen eigentlich nicht mehr vonnöten, beanstandet zu werden. Wenn ein junger Mann einem Mädchen vor seinen Studienjahren die Ehe (seine Liebe) versprach, er dieses Versprechen dann aber nicht einhält, ist das heute höchstens bedauernswert, sicher nicht anstößig. Im Grunde ist es nicht einmal bemerkenswert. Das jetzt noch relevante Thema liegt allein im Moment, wo dieser Mann merkt, nur mit einer gesellschaftlich (einfluß)reichen Lebenspartnerin Karriere machen zu können; und dass dadurch die einstigen Liebesgefühle (tatsächlich!) verklingen. Der Nutzeninstinkt manipuliert so den reinen herzorientierten Bindungsinstinkt. Mit der Absage wird der Betroffene seinen wahren Gefühlen - und damit sich selbst - also nicht untreu. Zu schaffen machen ihm nur Moral-, Verantwortungs- und Schuldgefühl, Gefühle, die heute - im Zeitalter des Opportunismus - ebenso keine Rolle mehr spielen. Denn der Opportunist ist in dieser geschäftstüchtigen Gesellschaft ein Held, wo es nicht einmal gilt, einen ehrbaren Schein zu wahren.

Im ausklingenden 18. Jahrhundert dagegen, war Anstand noch etwas wert. Gesellschaftlich geächtet wurde, wer sich ehrenlos verhielt. Besonders wenn das zulasten eines hilflosen Mädchens (in Clavigo: Marie von Beaumarchais) geschah, das dann mit dem Ruf der "Sitzengelassenen" leben mußte. Für manche Frau ist das auch heute noch kaum zu ertragen. Dann kann sie sich aber immerhin mit ihrem verletzten Stolz an die Medien wenden, sich in Talkshows und Society-Schluderblättern ausheulen, die diesen verletzten Stolz entsprechend ihres Opportunismus in "gar keinen Stolz mehr" lenken. Dadurch macht sich so eine Frau endgültig zum bedauernswerten Gespött aller, vielleicht ohne es zu merken, weil sie die allgemeine Aufmerksamkeit verkennt: die als öffentliche Anteilnahme verpuppte Schadenfreude.

Hinsichtlich dieser perversen Steigerung von heute, konnte sich Goethe noch privilegiert fühlen, denn immerhin lebte er in einer Zeit, wo man Gefühle noch ernst nahm und nicht mit ihnen (etwa aus bloßer Popularitätsgeilheit) spielte. - Ein volleres Niveau, das der 57-jährige, schweizer Regisseur Stephan Müller mit Theater- und Tanzausbildung glücklicherweise erhalten bzw. wieder auferweckt hat. Inhaltlich und ästhetisch, rhythmisch und symbolhaft abstrahiert, in der typengerechten Besetzung mit viel gestisch-tänzerischem Körperspiel sowie im klaren Bühnenbild voll subtextlicher Details.

Erstrebenswerter Stolz als Sehnsucht in äußerer Form

Der Anstand der damaligen Zeit findet sich somit als etwas-zumindest-Erstrebenswertes im äußeren Schein des leeren, weitläufigen, bronze-farbenen Raums von Bühnenbildner Hyun Chu, in Carlos´ karrieresüchtigem Nadelstreifanzug, Clavigos naiv-eitlem Rüschenhemd, im unschuldig-weißen und dann liebeshoffend-roten Kleid der ausgeliefert-barfüßigen Marie (adretter Anblick: Luisa Katharina Davids) von Kostümbildnerin Birgit Hutter; und menschlich im Stakkato-Sprechgesang von Carlos und Clavigo, die in ihrer gemeinsamen Karriereliebe und der eindringlichen Art Carlos´ (glaubwürdig neureich-neoliberal und damit passend unsympathisch wirkend: Michael Wenninger) auf Clavigo einzuhetzen, einen homoerotischen Touch aussenden, der einerseits die Unsicherheit der Orientierung manifestiert, andererseits das Hin-und-Her von Clavigos wankenden Gefühlen (zwiespältig-labil: Raphael von Bargen). Große Ausstrahlung in seinem edel geschnittenen, braunen Mantel besitzt Maries Bruder Beaumarchais (Günter Franzmeier), der um die Ehre seiner kleinbürgerlich-fragilen Schwester in Frankreich kämpft, der aber von den in Spanien - mit seinen kräftig-mondänen Frauen als Aussicht - lebenden Burschen (v.a. Carlos) so trickreich hinters Licht geführt wird, dass er letztendlich selbst bis zur Gefängnisstrafe sein Ansehen verliert.

Von der Intrige zur Lebensmoral

Intrige bei doppelter Wortbrüchigkeit funktionierte demnach schon vor zweihundertfünfzig Jahren, sie läßt sich, je nach Rechtssituation des Landes, zu jederzeit mit verdrehten Mitteln zugunsten des Bauernschlausten-ohne-Skrupel auslegen. Interessant dabei ist, dass jenen Leuten, die die Dinge durchschauen und Entwicklungen vorhersehen (wie hier Buenco - maniriert gut: Till Firit), nie Glauben geschenkt wird, weil sie offensichtlich zu wenig bestimmt und klüngelhaft auftreten.

- Bei all den menschlichen Abgründen können nur Schuld, Strafe und Buße reinigen: Marie und Clavigo müssen sterben. Das Schlußbild der Inszenierung ist dafür wieder versöhnend kitschig - wohl gedacht, als Lehre für das Gute im Menschen - wenn die einst Liebenden gemeinsam im Grab ein (englisches!) Poplied singen. Das bedeutet Entschuldigung und Verzeihung im Jenseits zugleich, und somit die erstrebenswerte Moral zu Lebzeiten für das Publikum. e.o./a.c.


DAS URTEIL SCHÖNER ANBLICK. INTELLIGENTES SUBTEXT-KÖRPERSPIEL VON GUT BESETZTEN DARSTELLERN. DETAILREICHE PSYCHOENTWICKLUNG EINER LIEBE, DIE WEGEN DER KARRIERE VERGEHT. UND EIN PLÄDOYER FÜR DIE WIEDERAUFERWECKUNG VON STIL UND ANSTAND IN UNSERER (MEDIEN)ZEIT.

THEATER Clavigo * Von: Johann Wolfgang von Goethe * Regie: Stephan Müller * Musik: Thomas Luz * Dramaturgie Hans Mrak * Mit: Luisa Katharina Davids, Heike Kretschmer, Raphael von Bargen, Till Firit, Günter Franzmeier, Thomas Kamper, Michael Wenninger, Markus Westphal * Ort: Volkstheater Wien * Zeit: 12., 19.6.2008: 19h30-21h