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Tuesday, July 19, 2016

impulstanz 2016 – Tagebuch 1: JAHRHUNDERT-ERÖFFNUNG MIT DER KÖNIGIN DER ZEITGENOSSEN: MAGUY MARIN UND „BIT“


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BiT ... Das menschliche Zusammenleben ist ein beschwingter Volkstanz, wo alle gleichberechtigt im Kreis tanzen ...

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... oder doch eine Schlange bilden, und einer der Anführer ist: dessen Qualität bestimmt weder, ob er ein Mann, noch, ob er eine Frau ist, sondern dessen Gefühl für das verantwortungsvolle Miteinander in einer gesunden Welt. (Fotos © Hervé Deroo)
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Ganz schön unheimlich.



14.7., 22h30, im Wiener Volkstheater:

Ist es nun ein polarisierter
oder ein tosender Applaus?

Auf jeden Fall ist er verdient.

Die Französin, Maguy Marin,
verleiht
mit BiT
im Wiener Volkstheater
dem europäischen Aushängeschild
für zeitgenössischen Tanz,
dem österreichischen ImPulsTanz
seinen gebührenden Glanz.
Das ist nicht selbstverständlich.
Letztes Jahr war das Hungerjahr,
da konnte man zusehen,
wie ein ausgemergeltes Festival dahin siecht.
Als Anhängsel der bildenden Museumslandschaft.
So etwas zu verantworten,
ist ein kulturpolitisches Armutszeugnis.
Tanz ist eine eigenständige Kunstrichtung,
kein Beiwerk,
weder des Musiktheaters,
noch der Bildenden Kunst.

Davon überzeugen kann man sich jetzt, 2016:
schon an den ersten drei Festivaltagen
nach Marin
auch mit den Größen
De Keersmaeker und Vandekeybus.



Leider war Maguy Marin  bisher nicht oft bei ImPulsTanz zu Gast:
1997 mit May B – da war ich gerade mit meinem Publizistik-Theaterwissenschaft-Studium fertig und noch kein ImPulsTanz-Besucher.
2006 mit Umwelt. - Das sah ich mit dem wunderbaren Ballett-Choreografen Giorgio Madia. Wir waren „beide“ unendlich beeindruckt. Das ist bei Giorgio in zeitgenössischer Hinsicht so gut wie unmöglich. Diesen Insider zu begeistern, muss also auf echter Leistung beruhen.
Als 2009 neben dem wiederholt gezeigten Umwelt die Stücke May B und Description d´un combat dargeboten wurden, konnte ich zu meinem großen Bedauern leider nicht ins Theater gehen, da ich im Mai gerade mein Kind bekommen hatte. Allerdings wurde mir die Ehre zuteil, mit Maguin Marin ein Telefoninterview für die Falter-ImPulsTanz-Beilage zu machen. Ein sehr gutes Interview übrigens. (Ich muss – endlich mein „Best of“ veröffentlichen!)



Deshalb freute ich mich heuer wahnsinnig auf die Compagnie Maguy Marin. Und auch jetzt, am Ende, von BiT, im Hall des Applauses, ist sie für mich das Gesicht, die Königin des zeitgenössischen Tanzes schlechthin. So nimmt man dieses Genre ernst, weil man merkt, dass hier eine Choreografin arbeitet, die es ebenso ernst angeht. Zumindest hat man bei ihr nicht das Gefühl, dass sie viel nebenbei produziert. Weil ihre Werke in der Regel so verinnerlicht und präzise umgesetzt werden und dabei trotz makabrer Schwere in der Aussage musisch leicht erscheinen. Daran muss sie lange gearbeitet haben.

Über ihre Tänzerpersönlichkeiten sagte sie im Interview: „Brillante Performer und Tänzer, die entschlossen und schnell zum Punkt kommen, mochte ich nie. Und ich war selbst auch nie so. Wenn die Leute viel arbeiten, um irgendwohin zu gelangen, und es manchmal nicht schaffen, rührt mich das viel mehr: wenn der Mensch an seinem äußersten Schwächepunkt angelangt ist.“ – Von Schwäche im Ausdruck und in der Körperarbeit kann bei diesen Tänzern jedoch keine Rede sein. Selten sieht man derart charismatische Individuen, die gleichsam im Detail vollendet synchron erscheinen. „Jeder Mensch ist innerhalb der Gruppe anders. Deshalb tun auf der Bühne alle dasselbe, in derselben Geste sind sie aber ein bisschen unterschiedlich. Das mag ich: dasselbe, aber anders“, so Marin. „Dafür brauche ich die Mischung des klassischen Ballettsoldaten und des individuellen Zeitgenossen.“


Vom menschlichen Zusammenleben dieser Welt

 

Die sechsköpfige Tänzergruppe
- Ulises Alvarez, Daphné Koutsafti, Francoise Leick, Cathy Polo, Ennio Sammarco, Marcelo Sepulvedo –
steht in BiT (Uraufführung 2014)
für die Gemeinschaft der Menschen,
für deren Zusammenleben in sexueller Hinsicht
sowie im Team.
„Bit“ bedeutet auf Französisch ausgesprochen „Beat“
und andererseits meint es „bite“,
auf derbe Art den männlichen „Schwanz“.

Diese Gesellschaft (die man sich hinsichtlich der Vertrautheit auch gut bei einem Pariser Abendessen vorstellen könnte, wo sich drei
einander dreißig Jahre kennende Paare um die großteils 50 Jahre (!) wieder einmal treffen) wandelt bei durchgehend lautem rhythmisierendem Technobeat
über, unter und vor sechs schräg aufgestellten metall-bemalten Bretterebenen:
den steilen Lebenswegen eines jeden.

Sie halten sich meist an einander fest, schritttechnisch wie im französischen Volkstanz Farandole, jedoch mit der griechischen Syrtaki-Attitüde eines Anthony Quinn alias Alexis Zorbas, insbesondere, wenn die Männer zu Beginn des Stücks am Anfang und am Ende der Schlange stehen.
Das heißt: schon hier nehmen die Herren der Schöpfung die großgestisch tonangebende Rolle ein, was sich in den sexuellen Paarszenen noch einmal konkretisiert. Sie gehen ihre Schritte zunächst zeitangehalten, schleichend schwebend und leichtfüßig, trotz des bergigen Auf-und-Abstiegs. Mit steigender Beschwingtheit entledigen sie sich in wilden Wurfgesten des einen oder anderen Kleidungsstücks.

Bis ein Mann und eine Frau zurück bleiben, ein intimes Paar, wie es scheint, wo der Mann das Liebesgeschehen emotionslos verläßt, als hätter er gerade sein Geschäft verrichtet. Steigerung erfährt diese schale Emotion durch ein verse/chs/xt/fachtes Körperhybrid, das von einer Holzschräge auf rotem Teppich rutscht. Daraus schälen sich zwei, nur mit String-Tanga bekleidete Männer in Amphibien-Stellung heraus. Sie rivalisieren und bedrohen einander wie zwei Eidechsen vor der Begattung, die für gewöhnlich der Lohn der Anstrengung ist.


In mystischer Atmosphäre und in schneller Abfolge huschen plötzlich zwei religiöse Kuttenträger hervor, abgelöst von einer symbolischen Männer- sowie Frauenfigur, geschlechtsspezifisch betont durch schwarzes Gewand und jeweils weißer Maske. Drei Weberinnen in Kleidern mit Glockenröcken betonen die historisch gewachsene, traditionelle Rolle der Frau. In Folge besteigen und schänden fünf Mönchsgestalten nach einander in Missionarsstellung eine Frau, die das Geschehen regungslos über sich ergehen
lässt.

Eine Unmenge an Gold schmettert von einer Ebene herunter. Worauf eine glitzernde Partygesellschaft folgt. Bemerkenswert sind die nach Pumps nun Stöckelschuhe tragenden Frauen, die den steilen Berg, wie zu Beginn, in der Farandole-Syrtaki-Schlange herab tanzen, ohne zu stolpern. Und noch ein Unterschied ist auffällig: die Gruppe wird jetzt von einer „Anführerin“ sowie von einem "weiblichen" Schlusslicht geleitet, die ebenso großgestisch agieren wie zuvor die Männer.


Wir scheinen uns also in der fortgeschrittenen Gegenwart zu befinden. Der Gruppentanz wird immer übermütiger und ausgelassener, bis eine Frau aus Versehen hinterrücks von der Ebene fällt. Eine zweite Person stürzt ebenso unabsichtlich hinunter. Die weiteren springen nach einander wie die Lemminge hinter her. Mit dem letzten „Selbstmörder“ werden abrupt Ton und Licht abgedreht. Was für ein effektreiches Ende!



Was lässt sich daraus lesen: die kapitalistische Dekadenz von heute hat zu keiner Gleichberechtigung der Geschlechter und Menschen geführt. Und ob dieses Ziel überhaupt das Ziel ist, das die Heilung bringt, ist fragwürdig. Alles, was man und frau tun kann, ist: nach eigenem Gutdünken, jedoch mit Umsicht auf die anderen so verantwortungsvoll wie möglich die individuelle Bergwanderung des Lebens erklimmen. Um nicht vorzeitig abzustürzen und andere dabei mitzureißen.


Wie unheimlich!



14.7. 22h45, in Nizza,
da, wo die Schickeria Frankreichs verkehrt.

Ein 31-jähriger Tunesier
reißt im Namen der Terrororganisation IS
mit einem LKW 84 Menschen in den Tod
und verantwortet 200 zum Teil Schwerverletzte.
Angeblich wurde er erst vor kurzem radikalisiert;
er tat es für Geld, das er zuvor seiner Familie zukommen lassen hatte,
die ihn auf Initiative der Ehefrau wegen seiner Brutalität verlassen hatte.
– Was ist bei diesem "Lemming" schief gelaufen?
Auf jeden Fall liegt das Dilemma auch hier
in Marins grundlegender Weisheit,
die sie aus Samuel Beckett gewonnen hat:
„Die menschlichen Beziehungen messen sich
andauernd an der Macht des Stärkeren.“
  e.o.



DAS URTEIL STÄRKER UND EDLER LÄSST SICH EIN ZEITGENÖSSISCHES TANZFESTIVAL KAUM ERÖFFNEN. MAGUY MARIN IST MIT IHREN 65 JAHREN WEISER ALS METHUSALEM UND MUSISCHER ALS APOLLO, (MUSIK-)ÄSTHETISCH UND IN SACHEN SUJET-RADIKALITÄT JEDOCH MUTIGER ALS JEDER NEWCOMER. WENN DER ZEITGENÖSSISCHE TANZ EIN GESICHT HAT, DANN TRÄGT ER DAS IHRE.


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TANZ BiT * Choreografie und Regie: Maguy Marin * Mit: Ulises Alvarez, Daphné Koutsafti, Francoise Leick, Cathy Polo, Ennio Sammarco, Marcelo Sepulvedo * Musik: Charlie Aubry * Ort: Volkstheater Wien * Zeit: 14.7.2016, 21h
 

Friday, May 20, 2016

BALLETT: PATRICK DE BANAs STILBILDENDE PSYCHOSTUDIE „MARIE ANTOINETTE“


Marie Antoinette (Olga Esina) führt am französischen Hof lange ein Leben mit sich selbst und ihren Interessen ...


... sowie auch Ludwig XVI. (Jakob Feyferlik) zuerst nur Eifersucht und Widerstand gegenüber seiner Ehe-arrangierten Gattin Marie Antoinette empfindet. (Bei dieser  Besetzung kommt hinzu, dass Feyferlik viel kindischer wirkt als Esina, was deren gegenseitiges Liebesgefühl für den Zuseher zusätzlich spaltet.)
Marie Antoinette wird von Jugend an vom ominösen Schicksal (Andrey Kaydanovskiy) verfolgt, das es mit ihrem Schicksal der königlichen Entsprechung nicht gut meint, sodass sie innerlich beinahe daran zerbricht.

Dabei hadert sie mit ihrer österreichischen Kaiser-Mutter Maria Theresia (Rebecca Horner), die mit dem Berater, dem Namenlosen (Attila Bakó), Druck auf die französische Königin ausübt.
Nachdem Marie Antoinette im Gefängnis mit sich und allen Einflüssen der ihr nahen Lebensmenschen ins Reine kommt – wie hier mit ihrem Ehemann Ludwig XVI. -, wird sie am Schafott hingerichtet. (Fotos © Wiener Staatsballett/Ashley Taylor)


VOLKSOPER – WIENER STAATSBALLETT
PATRICK DE BANA HAT JENES STÜCK, DAS 2010 FÜR EIN ZEITGENÖSSISCHES AUFATMEN UNTER DEN WIENER KRITIKERN SORGTE, NEU VERFASST. DADURCH WURDE DER ANFANG MITREISSENDER, DER SCHLUSS ERSCHEINT EIN WENIG LÄNGER. INSGESAMT BLEIBT MARIE ANTOINETTE EIN STILBILDENDES MODERNES WERK, MIT DEM MAN SICH UNTER DEN FÜHRENDEN BALLETTHÄUSERN NICHT (MEHR) VERSTECKEN MUSS.


Marie Antoinette vom deutsch-nigerianischen Choreografen Patrick de Bana Hamburger Herkunft war jenes moderne Antrittsstück in der Volksoper, mit dem Ballettdirektor Manuel Legris 2010 seinen Einstand hinsichtlich des zeitgenössischen Balletts in Wien feierte. Die Spannung diesbezüglich war unter Österreichs Kritikern groß. Denn man war nach der frustrierend altbackenen Harangozó-Ära auf alles gefasst, nachdem mit jeder Uraufführung-Premiere jegliche Hoffnung auf eine führend-stilprägende zeitgemäße Ballettsprache aufs Neue zerschlagen worden war. Legris selbst galt nun vor allem als perfekt eleganter „Balletthistoriker“, der „Altes“ so detailliert tanzt und einstudiert, als hätte man das gerade jetzt erst erfunden. Sozusagen in Pariser Manier, und nicht in ungarisch-russischer, was schon mal per se fortschrittlich westlicher ist.

Dramaturgische Mängel behoben


Und dann tatsächlich: De Banas Marie Antoinette ließ die österreichischen Ballettkenner auch in zeitgenössischer Hinsicht aufatmen: dieses Stück war in der Konzentration auf den tänzerischen Seelenausdruck ein echter künstlerischer „Hit“. Selbst wenn man bemängeln musste, dass „das Thema über die französisch-österreichische Königin ein Tourismusklischee ist, Wien als Monarchen-Stadt zu präsentieren“ und „der Wechselablauf zwischen Hofszenerien und Schicksals- und Schattenduett anfangs platt vorhersehbar“ (Elfi Oberhuber, Kritik in Falter 48/10) begann ...

Nun, diese beiden Mängel sind nach der Neufassung vom 6.5.2016 vergessen: da sich einerseits Österreich in Flüchtlingszeiten wie diesen mehr denn je fragen muss, welche „eigene“ historische Geschichte es eigentlich für sein kulturelles Selbstbewusstsein erhalten soll, um als würdige Identität im globalen Weltgeschehen aufzufallen. Und weil Patrick de Bana selbst die Korrektur vorgenommen hat, die den Beginn der Psychostudie jetzt so konzentriert spannend macht, wie weitgehend den Rest der Tanzerzählung. Außerdem hat er durch den zeitgenössischen Komponisten Carlos Pino-Quintana eine gegenwärtigere Techno-Anmutung zu den unheilbringenden Duetten von „Marie Antoinettes Schatten“ (fein: Solotänzerin Alice Firenze) und „Schicksal“ (ausdrucksvoll: Halbsolist Andrey Kaydanovskiy) gefunden als es zuvor die Auftragsmusik Luis Miguel Cobos suggerierte.

Konzentration auf die Psyche


Fesselnd an dem Werk ist allerdings nach wie vor jenes Detail, das sich auf mehreren Ebenen herausschält. Und zwar das Thema der Empathie, das je nach Einflussnahme oder Ablehnung der Charaktere hinsichtlich gegenseitigen Verständnisses sowohl durch die symbolischen Kostüme (von Agnès Letestu) als auch die Tanzsprache seine stetige Wandlung erfährt. Weshalb es auch so zu rühren vermag, den Zuschauer, der in die leidvolle Geschichte der Königin hineingezogen wird. Durch die geradezu zärtlich genaue Anwendung wie beispielsweise des Tanzvokabulars der Kontaktimprovisation, die in ihrer Aussagekraft schlechthin für Verantwortung und bedingungsloses Vertrauen steht, wenn sich Marie Antoinette nach anfänglicher Eigenbrötlerei doch von ihrem Mann Ludwig XVI. führen lässt, den sie ja auf Befehl ihrer Mutter aus Staatsbeziehungsgründen heiraten musste: auf Befehl der österreichischen Kaiserin Maria Theresia (modern-expressivste und außergewöhnlichste Erscheinung des Abends: Halbsolistin Rebecca Horner im ungemein erweiterten Rollendebut nach der gediegenen Dagmar Kronberger 2010).

Besetzung: Chance für junge Tänzer


Konkret geht es also um die Seelenentwicklung der Marie Antoinette (wie immer schön anzusehen: die perfekte und für das Klassische ebenso wie für das Moderne geeignete Erste Solotänzerin Olga Esina), die schon als junges, verträumtes Mädchen im hellblauen kurzen Reifröckchen-Kleid am Wiener Hof deplatziert wirkt, wo alle schwarz-weiß tragen, allen voran Mutter Maria Theresia im knöchellangen schwarzen Samt. Schon hier sind die ominösen schwarzen Gestalten da, Marie Antoinettes schattiges Alter Ego und das Schicksal, die just in jener Zeit, wo die französische Revolution zu rumoren beginnt, für Monarchen nichts Gutes bedeuten. Das drückt deren radikale, ruckartige Tanzsprache aus, wo plötzlich angehaltene Zeitlupen-Bewegungen auf prinzipieller Neoklassizismus- und Modern-Dance-Basis eine disharmonische Zukunft voraussagen. Noch vor ihrem fünfzehnten Geburtstag 1770 wird die Prinzessin mit dem um ein Jahr älteren französischen Thronfolger Ludwig XVI. vermählt. 



In Versailles Spiegellandschaft bekommt Marie Antoinette ein weißes Spitzen-Tutu mit Zacken-Saum verpasst, während nun der junge König im Frack die „blauäugige“ Farbe von Marie Antoinettes Wiener Outfit und die meiste Zeit auch nur die kurze hellblaue Unterhose unter dem Gilet trägt, sodass er wesentlich unreifer, trotziger - wenn nicht sogar lächerlich - wirkt als sie. Bekräftigt wird dieser Eindruck noch wegen der Verkörperung durch den blutjungen Corps-de-Ballet-Tänzer Jakob Feyferlik, der als gebürtiger Österreicher eine Tänzer-Hoffnung sein mag, jedoch an die mystisch-aristokratische, unverstandene Ausstrahlung Roman Laziks nicht heran kommt, insbesondere in dieser Rolle und im Duett mit Esina. (Der Erste Solotänzer Lazik war 2010 Ludwig XVI., den er wohl am stärksten in seiner Laufbahn meisterte und tritt jetzt alternierend auf; Feyferlik wird im Gegenzug auch mit der jungen Österreicherin, Halbsolistin Natascha Mair, kombiniert, was besser harmonieren sollte.)

Wer beeinflusst wen?




Umgeben sind die Eheleute von einer dekadent schwebenden französischen Aristokratie in luftig-leichten modischen Gewändern von türkis, grün, lila und rot.  Schnell wird klar, dass die Beiden die erste Zeit nicht allzu viel miteinander anfangen können: sie flirtet (tanzt) mit dem schwedischen Diplomaten Axel von Fersen (Rollendebut vom passablen Leonardo Basilio, Corps de Ballet), er umgibt sich mit seiner jüngsten Schwester, Madame Elisabeth (unaufgeregt routiniert: Erste Solotänzerin Ketevan Papava). – Deren harmonische Duette stehen für ein echtes zwischenmenschliches Verständnis, während Ludwig Marie Antoinette vorwurfsvoll und eifersüchtig begegnet, und Marie Antoinette Ludwigs Wohlwollen sucht, aber nicht erhält. Was Elisabeth und Marie Antoinette wiederum verbindet, sind deren Spitzenschuhe (ein neues Detail der Neufassung), wovon sie sich von der übrigen Gesellschaft sowohl in elitär künstlerischer, als auch in klassenkämpferischer Hinsicht unterscheiden. 



Im Zuge der Zeit vermag es Marie Antoinette die französische Hofgesellschaft so weit zu beeinflussen, dass jetzt auch jene die weißen, leichten Kleider der Königin trägt. Gleichzeitig steht das aber auch für das „durchsichtig werden“ der Aristokratie, die zerbricht, während Ludwig an der Bühnenkante sitzt und traurig ins Publikum blickt. Neben Schicksal und Schatten sucht Marie Antoinette der Geist ihrer inzwischen verstorbenen Mutter Maria Theresia heim, sowie deren Vertrauter „Der Namenlose“ (neu und gut: Attila Bakó, Corps de Ballet).  Die Ambivalenz von einem von ihnen ausgehenden Ruf nach Verantwortung und Schuldzuweisung und dem gleichzeitig wachsenden Verständnis und Mitgefühl gegenüber Marie Antoinette ist die sensibel transportierte Botschaft, die sich letztlich in Marie Antoinettes Innerem abspielt. Schließlich kommt es zu einem Versöhnungstrio zwischen Mutters Geist, Tochter und Schwiegersohn. – Allerdings zu spät: Zettel der Revolution fliegen vom Himmel, und es bleibt nur die Flucht.

Alle gegen einen und „alle“ regieren die kunstarme Welt




Die revolutionären Bürger, die in der Folge die Regierung übernehmen, erweisen sich als schicke schwarze Anzug-Gesellschaft von heute, die nicht davor zurückscheut, mit äußerster Brutalität aller gegen einen (Ludwig XVI.) einzuschlagen. Das Schicksal trägt jetzt einen blutroten Mantel, während Gefängnispfeiler von der Decke herab ragen. Auf zwei gläsernen Stühlen verbringt Marie Antoinette ihre letzte Zeit der Introspektion mit Schatten, Mutter, Elisabeth, Axel von Fersen, Schicksal – und Ludwig, mit dem sie am Ende doch eine sehr innige Liebe verbindet. Dass er bereits am Schafott hingerichtet wurde, wird nicht gezeigt. Bevor nun aber Gleiches Marie Antoinette blüht, zieht sie ihre Spitzenschuhe aus, was denn wohl neben dem Ende der Monarchie auch jenem der künstlerisch äußerst produktiven Ära des Rokoko gleich kommt.  e.o.

DAS URTEIL PATRICK DE BANA ZEIGT, DASS DIE PSYCHE EINES DER AUFREGENDSTEN THEMEN DES MENSCHEN IST. ER SAGT DAS IN EINEM THEATRALEN GESAMTKUNSTWERK MIT MODERNER TANZSPRACHE, DIE ZUGLEICH SCHÖN UND SPANNEND IST.
– IM CHOREOGRAFISCHEN NIVEAU EINE WÜRDIGE NACHFOLGE VON GIORGIO MADIA (2003-2005), DER VIEL ZU FRÜH GEHEN MUSSTE, UND EIN MEILENSTEIN NACH GYULA HARANGOZÓ (2005-2010).



BALLETT Marie Antoinette * Choreographie und Inszenierung: Patrick de Bana * Dramaturgische Vorlage: Jaime Millás * Musik: Georg Philipp Telemann, Antonio Vivaldi, Wolfgang Amadeus Mozart, Johann Christian Bach, Jean-Philippe Rameau, Jean-Féry Rebel und eine Auftragskomposition von Carlos Pino-Quintana * Bühnenbild: Marcelo Pacheco, Alberto Esteban/Area Espacios Efimeros * Kostüme: Agnes Letestu * Licht: James Angot * Marie Antoinette: Olga Esina / Natascha Mair  / Maria Yakovleva * Ludwig XVI.: Jakob Feyferlik  / Vladimir Shishov / Roman Lazik * Madame Elisabeth: Ketevan Papava / Nina Tonoli / Oxana Kiyanenko * Das Schicksal: Andrey Kaydanovskiy / Francesco Costa * Schatten der Marie Antoinette: Alice Firenze / Kiyoka Hashimoto / Nikisha Fogo * Axel von Fersen: Leonardo Basílio / Kamil Pavelka / Alexandru Tcacenco * Maria Theresia: Rebecca Horner / Laura Nistor / Erika Kováčová * Der Namenlose: Attila Bakó / James Stephens * Corps de Ballet Wiener Staatsballett * Ort: Wiener Volksoper * Zeit: Wiederaufnahme: Freitag, 6., 9., 17., 23. Mai, 16., 21., 27. Juni 2016, 19h

Thursday, May 26, 2011

OPER: GIORGIO MADIA LIEBESMYTHISCH IN "LE PAUVRE MATELOT" UND "VENUS IN AFRICA"


Weil sie so treu ist, hängt die Liebende (Diana Higbee) in Le pauvre matelot der alten Liebe, dem lange gegangenen Matrosen (re: Pablo Cameselle), nach, anstatt den neuen Anwärter (li.: Andreas Jankowitsch) zuzulassen ...
Es ist nötig, "Licht" in ihre verdrehte, dunkle Seele zu bringen: der Matrose kommt "entstellt" zurück ...
... und will sie prüfen, ob sie für ihre Treue untreu wird: sie soll sich für Perlen verkaufen, um ihn zurück zu bekommen. Sie entscheidet sich besser: sie bringt den fremd gewordenen Geliebten (unterbewußt) um und sagt es dem unvermögenden Vater (Mentu Nubia).

Um irritierende Gefühle ins Bewußtsein zu holen und richtig zu deuten, ist es manchmal gut, jene aufzuschreiben: fürs Publikum tun das in Venus in Africa die streitsam Liebenden Yvonne (Diana Higbee) und Charles (Andreas Jankowitsch) ...
... manch einen könnte der Streit im Ringkampf so verunsichern, dass er sich fragt, ob diese Partnerin wirklich die Richtige ist, ...







... das sagt Charles dann die verführerische Venus (Nazanin Ezazi), die ihm eigentlich als Partnerin viel lieber wäre, obwohl sie untreu
und rastlos ist und ihn unfrei macht. Doch sie scheint besser aussprechen zu können, was ihn wirklich ängstigt. Bis auch er es weiß. (Fotos © Christian Husar)



 

WIENER KAMMEROPER MIT DER LIEBE UMGEHEN ZU LERNEN IST FÜR MANN UND FRAU EINE LEBENSAUFGABE. WIE ABSTRAKT MAN DABEI DENKEN LERNT, EBENSO. - BEIM FRANZÖSISCHEN KOMPONISTEN MILHAUD UND AMERIKANISCHEN ANTHEIL WIRD BEIDES UNTER GIORGIO MADIAS REGIE ZUM SPANNENDEN VERGNÜGEN


Treffende Sätze über die verwirrenden Gefühle einer Liebesprojektion erzählt zu bekommen, ist immer wieder anregend für den Menschen, wenn er selbst schon ein paar mehr oder weniger heftige solcher Episoden erleben mußte. Man könnte aus der Distanz auch sagen: durfte. Denn eine im Moment des Erlebens quälende Liebeserfahrung eröffnet dem Betroffenen eine abstrakte Dimension des Fühlens, zu der nur der Mensch fähig ist. Sie ist spannend, weil sie für ihn ein Rätsel ist. Manch einer könnte diese Befindlichkeitslage auch als psychisch krank bezeichnen, denn alles, was der "Liebende" hier tut und denkt, ist wortwörtlich "ver-rückt" unvernünftig. Und Vernunft soll im Gegensatz dazu ja auch des Menschen Eigenschaft sein, zu der er seit der Epoche der Aufklärung tendiert. Das ausgelieferte Objekt wird durch seine Vernunft zum bestimmenden Subjekt. Der Unterlegene zum Herrn. Um jedoch die Vernunft, oder anders gesagt, den Verstand in Anspruch nehmen zu können, muß der Betroffene seine Gefühle zuerst verstehen.

Wenn die verwirrte Frau liebt

Inmitten dieses Verwirrspiels befindet man sich in der Wiener Kammeroper bei den Stücken Le pauvre matelot von Darius Milhaud und Venus in Africa von George Antheil. Eine äußerst geglückte Doppelinszenierung von Giorgio Madia, mit ähnlich intelligenten Verbindungen wie sie 2007 Nicola Raab im Dove-Maxwell-Davies-Zweierabend (siehe Kritik-Nachlese) machte, nur dass der Regie-Gesamtstil bei Madia purer und edler anmutet und dass die Doppelbesetzungen der Darsteller eine zusätzliche Interpretation ermöglichen. In dem, obwohl szenisch reduzierten, dramaturgisch raffinierteren ersten Stück Le pauvre matelot, worin eine von einem Matrosen verlassene Liebende (Schönsängerin Diana Higbee) jahrelang auf ihren Geliebten wartet, sodass sich ihr Liebesobjekt inzwischen in eine Wahnvorstellung verschoben haben muss, fallen hochinteressante Sätze an ihren Vater (eindringlicher Bass: Mentu Nubia) wie: "Ich könnte ihn betrügen, wenn sein Foto nicht auf dem Nachttisch stünde."

Die folgende Geschichte läßt sich als Produkt ihres Geistes verstehen, worin sie versucht, den sie zurückwerfenden, in ihrem Herzen selbst-errichteten moralischen Stillstandsklotz, los zu werden. Dafür steht auch das abrupte Ende. Denn in ihrem konzentrierten Wahn, wo der Geist ständig um dasselbe kreist - Madia versinnbildlicht das durch eine permanente kleine Drehbühne mitten auf der gerahmten (= eingekapselten) Bühne, wo die Darsteller, und vor allem die Frau, auf- und abgehen - kommt der Matrose (nicht sehr männlich, aber gesanglich o.k.: Tenor Pablo Cameselle) völlig entstellt zurück, um ihr eine Treue-Prüfung aufzuerlegen: er will wissen, ob sie bereit sei, sich für Geld (bzw. eine Perlenkette) zu verkaufen, um mit dem Erlös ihren Geliebten zurück zu bekommen.

Ihr seelischer Befreiungsschlag kann nur eintreten, wenn sie für sich einsieht, dass der "Geliebte" seinerseits selbst untreu war und "moralisch" weit weniger wert ist als sie. Für diesen Gewissenskampf stehen die einzigen zwei Farben des Stücks: schwarz und weiß. Nicht umsonst ist ihr Objekt der Begierde ja ein Matrose, das Mythos für den Ungebundenen auf Reisen schlechthin. Tatsächlich erschlägt sie - nach einer handlungsrhythmisch einschneidenden, entscheidungsfindenden Erleuchtungsdrehung - den insgeheim erkannten fremden Geliebten, also den für ihre Absichten als falsch beschlossenen Liebespartner. Damit ist sie endlich frei und offen für eine neue Liebe (sehr männlich und gesanglich gut: Andreas Jankowitsch) oder auch das Licht, das sie aus dem psychischen Dunkel führt - ein ebenfalls gesetztes Stilmittel des Regisseurs (spannendes Lichtdesign: Christian Weißkirchner).

Wenn der verwirrte Mann liebt

Den Kern dieser Obsession, der Sehnsucht nach absoluter und garantiert ewiger Liebe, trifft Madia in seinem Vorwort auch in Bezug auf das folgende Antheil-Stück Venus in Africa: "Um sich von der lustvollen Last zu befreien, Venus ausweglos verfallen zu sein, ist es nötig, ihre Unnahbarkeit anzuerkennen." Im Gegensatz zur - typisch weiblichen - Liebenden im ersten Stück, bezieht sich die krankhafte Sehnsucht hier auf den - typisch männlichen - Liebenden, Charles. Charles ist mit Yvonne zusammen, die für ihn etliche Opfer gebracht hat: sie hat sich die Haare gefärbt, ihren Hund, ihr Haus und ihren Freund verlassen. Ohne zu wissen, was für Zweifel und Ängste er eigentlich hat, kommt es zwischen ihnen, an einer "unsicher" von der Decke hängenden überlangen Theke, zum Streit. Es fällt der für eine Anfangsliebe typische Satz, "was ist eigentlich passiert? Wir waren nie richtig zusammen."

Um die Worte realer ins Bewußtsein zu holen, als sie es den beiden sind, werden ihre Sätze auf Tafeln ins Publikum gehalten. Die Gefühle sind einfach nicht zu begreifen und machen, vor allem ihm, Angst. Charles greift zu einer Lektion und schickt Yvonne mit vom - auch eine Perlenkette anbietenden - Matrosen des Vorstücks gekauftem Falschgeld in ein Hotel. Mit einem, "man muss diese verdammt weibliche Unabhängigkeit austreiben" bleibt er zurück, traurig konstatierend, "ich habe gewonnen und bin allein". In seiner Ratlosigkeit erscheint ihm Venus. Er verfällt ihren, mit einem langen Band symbolisierten Verführungskünsten auf einer mit bunten Lichtern bepflasterten Showbühne (für die treffenden Bühnendetails ist wieder Cordelia Matthes zuständig), ihr, "dem Rastplatz für Männer", die von der Alternative, viele Weiber zu haben, spricht, und wo er sich fragen kann, "bist du real?". Da sticht ihm, wie dem Publikum, das grelle Licht ins Gesicht, und Venus meint: "Alle Liebenden sind kurzsichtig."

Sie schläft mit ihm, er ist hingerissen, und sie verläßt ihn, auf Yvonne verweisend, die ihm im Gegensatz zu ihr doch treu sei. Und langsam siegt die Vernunft über ihn, Yvonne wird immer mehr zu seiner Venus (sie trägt deren Umhang), selbst wenn, oder gerade weil er mit ihr im Ringkampf steht (superkurze, witzige Szene). Denn die wieder beschilderte "Liebe" bedeute "Kampf, Schmerz, Mühsal", und "dem Wesen zu vertrauen, das dir wehtut". Mit dieser Erkenntnis tanzen alle übermütig heiter und vergnügt, Venus (einzig neue Darstellerin: Nazanin Ezazi) mit dem Falschgeldverkäufer (dem "Matrosen" Cameselle), der Barkeeper (Nubia), Yvonne (Higbee) mit Charles (Jankowitsch). Zu guter Letzt stellt sich sogar das Falschgeld als echt heraus, weil die zuvor als falsch vermutete Liebe doch echt war. Und das heißt denn auch für den Mann: für die Frau und ihre beider Nachkommen finanziell aufkommen zu müssen. Oder: es mit dieser Sicherheit auch zu wollen.

Zu Unrecht verdrängte Musik

Bei dem Verfolgen des spannenden Textes und Geschehens vergißt man leider, bewußt auf die Musik zu hören. Man sollte sich das Ganze daher ein zweites Mal ansehen. Dennoch, Milhaud ist abstrakter (und minimaler) als Antheil, und Antheil weit weniger abstrakt als man von ihm, dem Co-Erfinder der ungestörten Mobiltelefonie, im Allgemeinen glaubt. Beide Komponisten unterstreichen mit ihrem Klang die Handlung, und besonders Antheil nutzt Jazz und Varietémusik. Außerdem: bei beiden fällt in Sachen Musik kurz das Themen-bezogene Motiv der Juden-Konnotation auf: Obwohl Milhaud (1892-1974) aus einer wohlhabenden, jüdisch-provenzalischen Familie stammte, was für ihn ein Leben lang von stark prägendem Einfluß war, läßt Librettist Jean Cocteau den Matrosen in ihrem Stück (UA 1927) zur Liebenden sagen: "Sie sind stolz. Morgen werde ich einen Juden finden, der die Perlen schätzt." Und später erklingt im Venus-Stück Antheils (UA 1957) mit dem Auftritt des Falschgeld-Verkäufers jüdisch-östliche Klezmer-Musik ... Dabei emigrierte Franzose Milhaud nach Ausbruch des zweiten Weltkriegs in die USA, und Amerikaner Antheil kehrte 1933 von Paris in die USA zurück, weil seine Musik unter den Nationalsozialisten nicht mehr verkäuflich war. e.o.


DAS URTEIL EIN KLAR ERZÄHLTES, RAFFINIERT SYMBOLREICHES OPERNDOPPEL ÜBER DIE LIEBE. TEXTLICH UND INSZENATORISCH SO EDEL, SPANNEND UND LEHRREICH, DASS MAN GANZ VERGISST, AUF DIE SCHÖNE MUSIK ZU ACHTEN.

OPER Le pauvre matelot / Venus in Africa * Von: Darius Milhaud / George Antheil * Regie: Giorgio Madia * Musikalische Leitung: Daniel Hoyem-Cavazza * Mit: Kammerensemble der Wiener Kammeroper * Bühne & Kostüme: Cordelia Matthes * Mit: Mentu Nubia, Diana Higbee, Andreas Jankowitsch, Pablo Cameselle, Nazanin Ezazi * Ort: Wiener Kammeroper * Zeit: 26., 28., 31.5., 2., 4., 7., 9.,11.6. 2011: 19h30

Wednesday, October 22, 2008

BALLETT-OPER: GIORGIO MADIA BETANZT RAMEAUS "LA GUIRLANDE" & "ZÉPHYRE"

Das Tanzensemble unterstreicht in La Guirlande zunächst noch die Gesangspartien; es ist aber von Anfang an mit dem barock-originalinstrumental begleiteten Gesang verwoben.

Myrtil (Erik Leidal) hat seine Geliebte Zélide (Diana Higbee) - trotz Treueschwur mittels geflochtener Blumenkette - betrogen. - Sie merkt es, tut aber so, als hätte sie "ihn" betrogen, worauf er ihr sofort verzeiht, und sich beide wieder lieben können ...



















In Zéphyre gewinnt der Tanz an Eigenständigkeit und Dominanz: da springt die attraktive Katja Juliana Geiger vor der distanzierteren Adriana Mortelliti im Nymphen-Haremkostüm ...


















... da zeigen Corneliu Ganea und Martin Zanotti ihre besten hinteren Stücke in perfekter Männerhaltung, sodass es sexy und zum Lachen ist.




















Denn hier liebt und begehrt Zéphyre (süß und sexy als Mann: Marelize Gerber) leidenschaftlich Cloris (Liudmila Shilova), was sie im finalen Duett atemberaubend verinnerlicht besingen.

(Fotos © Christian Husar)


KAMMEROPER WIEN GIORGIO MADIA BALANCIERT WIEDER EINMAL GEKONNT SCHWACHSTELLEN ZWEIER ORIGINALWERKE AUS: LA GUIRLANDE UND ZÉPHYRE DES BAROCKEN JEAN-PHILIPPE RAMEAU

Geht es im einen Stück um einen Seitenspringer im Hirtenmilieu und im anderen um einen Voyeur unter Göttern als Sieger über das Keuschheitsgelübde, dann ist davon auszugehen, dass es an diesem Doppel-"ballet en un acte"-Abend in der Wiener Kammeroper ziemlich heiß hergehen wird. Möglicherweise auch unangenehm schmuddelig, setzte man voraus, dass hier ein obligatorischer "Operetten-Regisseur" am Ruder wäre. - Aber nein, choreographiert und Regie-geführt von Giorgio Madia, ist so etwas unmöglich!
Wie gewohnt, schafft es der sinnliche Italiener, eine so kurzweilige, wie geschmackvolle Umsetzung zu entwickeln. - Entwickeln, tatsächlich ja, da hier alles aus einem Guß, zwischen Vorher und Nachher, detailbewußt aufgebaut wird, ohne jemals das Gesamtstück als Kunstwerk außer Acht zu lassen. Kurz gesagt: keine Sekunde wird überreizt, alles ist kompakt, wie die reinste High-Tech-CD. Dieser moderne Vergleich ist treffend, da Madia die Barock-Ballett-Opern-Einakter trotz ihres Alters absolut heutig verpackt hat, ohne aber - und da ist er die Ausnahme unter den Barockopernregisseuren - auf eine Stilisierung zu verzichten. Eine moderne, neuartige Stilisierung, die das Design eines architektonischen Nobelbaus hat und dennoch auf alten Gesetzen des Bauens beruht. - Dazu paßt wiederum ganz ausgezeichnet das futuristisch wellenartige, nach hinten gestülpte Bühnenbild im eleganten Weiß von seiner Berliner Dauer-Ausstatterin seit der Ballettproduktion Alice in der Volksoper, Cordelia Matthes, die aus der Mini-Guckkasten-Bühne der Wiener Kammeroper eine visuelle Riesenfläche gezaubert hat. Die optische Ansichtsvariation liefert im Laufe der Stücke dann hauptsächlich Lichtdesigner Norbert Chmel - bis auf den aufwändig und üppig gestalteten goldenen Eisernen Vorhang am Anfang jeden Stücks natürlich -, sodass es einen glatt wundern lässt, wieviele neue optische Eindrücke allein durch Licht entstehen können - und das ist in Sachen Bühnenbild in diesem Fall absolut ausreichend.

Gleichrangig ausbalanciert: Gesang und Tanz

Denn den zwölf Akteuren pro Stück, bestehend aus schön anzusehenden, akrobatisch exakten vier Modern-Tänzern und einzelnen geradezu brillanten Sängern, gebührt die volle Konzentration des Zuschauers. Schon weil beide Kunstgattungen gleichrangig bzw. je nach Anforderung im Stück dominanter oder reduzierter behandelt werden. Gerade die Betonung des Tanzes bei langen Lied-Strecken, die inhaltlich nichts Neues bringen, bzw. die völlige Konzentration auf Arien bei wunderschönen Musikpartien mit vordergründigem Cembalo oder Violoncello des Barockorchesters der Wiener Kammeroper auf durchwegs historischen Instrumenten unter Bernhard Klebels glückseliger Dirigentenhand - darin liegt die eigentliche - "stückästhetisch einfühlsame" - Leistung von Giorgio Madia, wobei er bei den Tanznummern meist inhaltlich unterstreichend bleibt, und für seine Verhältnisse anfangs selten Ironie durchblicken läßt. - Das ist das Einzige, was er besonders im ersten La Guirlande noch mehr ausbauen hätte können, aber wahrscheinlich war in diesem Fall einfach sein Respekt vor den Stücken zu groß, die musikalisch nicht - wie gewohnt bei Barockopern - aus endlosen (und damit bestens zur Ironie geeigneten) Wiederholungspassagen bestehen, sondern aufregend abwechselnd und linear erzählend, also im Gesamtrhythmus "fast zeitgenössisch" verlaufen.

Die Gesangsgötter

Heute komisch anzuhören sind an-sich nur die männlichen Hauptfiguren in überirdischen Tenor-Lagen, die in La Guirlande (UA 1751) witzig mit Amerikaner Erik Leidal in kurzer, weißer Tunika als Treueschwur-brechendem Myrtil mit schlechtem Gewissen, und mit der schon öfter in der Kammeroper positiv aufgefallenen Südafrikanerin (also eine Sopranistin!) Marelize Gerber als Zéphyre im gleichnamigen, zweiten Stück (UA ca. 1753) besetzt wurden. Gerber ist sowohl theatralisch als sexy liebeshungriger Windgott in goldener Miederrüstung, der heimlich nach der Waldnymphe Cloris giert, als auch singend die Sensation des Abends, neben der gesanglich fast noch bestechenderen französischen Wahlamerikanerin, Diana Higbee, von mitreißend klarer Stimme voll einnehmenden belebten Ausdrucks, als gewiefte Betrogene Zélide, die einfach so tut, als hätte sie ihrerseits den Geliebten betrogen, um sich seiner Gefühle wirklich sicher zu sein. - Doch bei ihr bräuchte man gar keine Geschichte, ihr Gesang steht für sich selbst.

Gesteigerte Erotik

Das soll jedoch nicht Giorgio Madias Arbeit schmälern, der in La Guirlande die Liebe über die zunehmenden Tanzpassagen - seien es nackt-durchschimmernde Körper in sportlich-reduzierten Gesten unter weißen Tüchern; schöne, synchron-innige Duette von Mann und Frau oder Quartette im Dominoeffekt - in 45 Minuten immer mehr zur Erotik steigert. Das zieht er nach der Pause noch verstärkt im ähnlich kurzweiligen Zéphyre durch, abermals betont durch goldene Glitter-Kostüme. Denn was hier erzählt wird, ist der Sieg der gelebten Lust über das Keuschheitsgelübde, das die Göttin Diana in Abwesenheit über die tanzenden Nymphen verhängt hat. Mithilfe Amors bekommt Zéphyre jedoch seine Cloris (= Flore = Göttin des Frühlings = gesungen von Liudmila Shilova) - da gibt es auch allerhand Lacher im Publikum, als symbolisch plötzlich Plastikblumen aus der Bühne schießen, und wenn Männer mit nackten Hintern auf Bändern wiegend "Tango tanzen" - Martin Zanotti ist ein wahrer, springperfekter Blickfang. Das Zieren und Drängen wechselt sich in gesteigerter Brisanz ab, sei es zwischen den tanzenden Sängern oder den erotisch-elegant in subtilen Formen bewegenden Tänzern, die "die Frau" auf Händen tragen, und als mehrfach verdoppelte Paare das eigentliche Paar in seinen magischen Gefühlen unterstreichen. In all dem energetischen Gebrodel - vor allem mit der körperlich sehr attraktiv anzusehenden Katja Juliana Geiger - erscheint dann Diana (Diana Higbee), doch sie ist nicht etwa erzürnt, denn sie hat selbst einen Mann an der Leine - und zwar tatsächlich wie einen Hund im Aussehen von Jesus. "Sich der Liebe hinzugeben, verschönt die Tage", heißt es im atemberaubenden, zweistimmigen Frauengesang von Zéphyre und Cloris, dem musikalischen Höhepunkt des Stückes. Darauf fällt mit den Worten "Amor sei unser Gott" ein transparenter Vorhang herab, und damit ist der Liebesreigen im Verborgenen (!) eröffnet ... (e.o.)


DAS URTEIL EINE ATEMBERAUBENDE STEIGERUNG VON DER LIEBE IN DIE EROTIK - GANZ SO, WIE MAN ES SICH VON GIORGIO MADIA ERWARTET: EINE ODE AN DEN URAUFGEFÜHRTEN TANZ IN ÖSTERREICH!

BALLETT-OPERNEINAKTER La Guirlande (Österreichische Erstaufführung) & Zéphyre (Szenische Uraufführung) * 2x „Ballet en un acte“ von: Jean-Philippe Rameau * Regie und Choreographie: Giorgio Madia * Musikalische Leitung: Bernhard Klebel * Ausstattung: Cordelia Matthes * Gesang-Solisten: Diana Higbee, Erik Leidal, Michael Havlicek, Marelize Gerber, Liudmila Shilova, u.a. * Tanz-Solisten: Katja Juliana Geiger, Adriana Mortelliti, Corneliu Ganea, Martin Zanotti * Mit: Barockorchester der Wiener Kammeroper auf historischen Instrumenten * Ort: Kammeroper Wien * Zeit: 18., 21., 23., 25.10.2008: 19h30

Friday, April 18, 2008

TANZ: DER BATSHEVA-EFFEKT VON OHAD NAHARIN IN "MAX"

Der Tanz von Ohad Naharin lebt vom Wechsel zwischen Gruppe, ...

... Duo und Individualtanz - und hat Sexappeal, da Effekt bei angekränkelt a-typischen Haltungen und Bewegungen. Fotos © Batsheva Dance


TANZQUARTIER DIE ISRAELISCHE BATSHEVA DANCE COMPANY VON OHAD NAHARIN BRINGT MIT MAX EFFEKT IN DEN ABSTRAKTEN TANZ - UND GEFÄLLT

Das ist schon komisch: da muß erst ein Choreograf mit seiner von Martha Graham und Baronesse Batsheva De Rothschild gegründeten Company aus Israel kommen, damit zeitgenössischer Tanz mit dem gewissen Etwas, nämlich "Effekt", unter Österreichs Tanzkritikern zur Gänze gelobt wird. Vielleicht liegt es auch daran, dass dieser Tanz im Tanzquartier (Halle G) gezeigt wurde und nicht etwa in der Volksoper, sodass er für jenen Ort genau das richtige Maß an "Linie" hatte, die man ansonsten dort schmerzlich vermißt. Fakt ist aber auch, dass wir mit Giorgio Madia als Choreograf, vor allem in Nudo schon sehr viel von dem in Wien hatten, was jetzt so begeistert bei Ohad Naharins Batsheva Dance Company von den Wienern angenommen wurde. D.h., was unter der Kategorie "Ballett" von 2003 - 2005 vom Volksopernballett unter Madia erfolgreich lief, läuft jetzt auch unter der Kategorie "zeitgenössischer Tanz", nur eben von manchem Kritiker anders beurteilt, da jener an-sich zu sehr vom Kategoriendenken gesteuert ist.

So weit ist ein Naharin nicht von einem Madia entfernt

Natürlich war Max von Batsheva - gemäß der zeitgenössischen Tanz-Kategorie, in der es stattfindet - noch abstrakter und radikaler als damals Nudo innerhalb der Kategorie Ballett. Doch hat beides unterm Strich in sich dasselbe qualitative Niveau bezüglich des Ausscherens vom Gewöhnlichen innerhalb seiner Kategorie. - Aber auch im eigenen Anspruch bezüglich einer gewissen, wenn auch noch einmal sehr persönlich gefärbten Bewegungsästhetik und Harmonie, wobei sowohl Naharin, als auch Madia Studien- bzw. Tanzjahre bei Béjart und in den USA verbrachten. Da aber jeder Choreograf weiß, dass er ein Projekt "auch" für eine bestimmt-ausgerichtete Auftragsstätte kreiert, bekommt das Werk und die Tanzlinie dann die unterschiedlichen Nuancen. Und doch muß man sagen: wir waren eigentlich schon auf dem Weg, genauso eine eigene (international erfolgreiche), schillernd-abstrakte österreichische Company zu haben. - Aber, was soll´s, diese Debatten sind vorbei. Jetzt waren die Israelis da, und haben uns (endlich wieder einmal) gezeigt, wie aufregend-guter Tanz sein kann. Das fängt mit den athletischen Körpern der Tänzer an, die in ihrer kräftig-gesunden Vitalität eine eigene Wirkung ausstrahlen (wie übrigens auch schon die Körper bei Madia, der andererseits auch entgegengesetzt auffällige, doch in-sich-geschlossen-harmonische bzw. erformte Körpertypen hegte). Dass diese Körper in der Lage sind, außergewöhnliche Körperarbeit zu leisten, liegt auf der Hand. Denn jeder Körper zeigt exakt das, was man ihm ansieht; es läßt sich im Tanz nichts verbergen.

Israelische Körperkunst mit Effekt

Diese Körper stehen zu Beginn in kurzen Sporttricots mit dem Rücken zum Publikum. Dass sie vom Zuschauer als israelische "Körper" wahrgenommen werden, liegt nicht etwa am - in Israel allseits präsenten - Krieg, der jeden Menschenkörper durch mehrjähriges Pflichttraining generell widerstandsfähig macht, sondern am Beifügen einer eigens lokalgefärbten Musik samt Sprechgesang mit hebräischem Text - komponiert und vorgetragen vom Meister himself - von Ohad Naharin unter dem Pseudonym Maxim Waratt. Unklar ist dem Zuschauer bis zuletzt, ob hier nun auf die Geschichte Israels bzw. der Juden angespielt wird oder nicht, denn man sieht immer wieder eine sich formierende, lautstarke "Klagemauer" aus Tänzern, die auch an einen rituellen Buschtanz erinnern könnte, man hört und sieht Wiederholungen des prinzipiellen Zählens, wo jeweils auf Vorigem um eine fortlaufend neue "Nummer" aufgebaut wird; und man sieht den wiederkehrenden Kampf des Einzelnen als ruckhaften Ausbruch aus der Gruppe, aus dem Paar und dessen erneutes Einfügen zum perfekten Unisono(-Duett), einschließlich einer angedeuteten, einmaligen Kopulationsszene zwischen Mann und Frau. Das ist eine getanzte Philosophie zwischen Sollen und Wollen, zwischen Muß und Können, zwischen Regel, Ritual, Religion und Trieb, aus den ursprünglichen Kapazitäten des Körpers heraus, selbst wenn diese der bereits (einschlägig) ausgebildete Mensch erst entdecken muss.

Es geht also um prinzipielle Bausteine, die anwachsen zu einem Gerüst, um motorische Techniken, die zur funktionierenden Maschine werden. Das wäre nichts Außergewöhnliches, würde es letztendlich nicht (bekannt) harmonisch schön wirken und gleichzeitig neuartig abstrakt sein. Sowohl die Musik, als auch der Tanz verwenden dabei (fast banal) Bekanntes, vermischt mit (häßlich) Unbekanntem: der durch das Hebräische folkloristische Ton mit tief singender Männerstimme wird mit Natur-Motorengeräuschen und Flüstern verfremdet, Basisübungen wie die Grundschritte zur Balancehaltung im Ballett werden verbogen und wirken "angekränkelt". Doch bei alledem stimmt letztendlich die arrangierte Abfolge von Einzeltanz zum anwachsenden Gruppenbild im grafisch eingerichteten Raum. - Deshalb stimmt hier der Effekt: weil er genau jenes Tempo bedient, wie der heutige, neugierige Mensch visuelle und akustische Geschwindigkeit als unterhaltsam (und auch komisch!) empfindet. - Das ist zeitgenössischer Tanz, wie man sich´s gefallen lassen will. Und wie er erstmals im Tanzquartier zu sehen war! e.o.

Video-Links zum Tanz-Vergleich:
Ohad Naharin choreografierte für die Batsheva Dance Company: Seder (Stichworte: Klagemauer-Formation und Unisono-Effekt) und Three (Stichworte: sperrige Bewegungen, Isolation des Einzelnen, Unförmigkeit, plötzliche Übereinstimmung der Gruppe oder eines Duos aus Stillstand oder Gruppendurcheinander)
Giorgio Madia chroregrafierte für das Volksopernballett 2003 (siehe popiger Part ab ca. 2,30 min zu Jazz-Sax-Musik: humoristisch motivierte Bewegungen bis zu "schmerzhaft-anmutenden" Boden- und Yogaübungen): Nudo



DAS URTEIL EIGENTLICH HATTEN WIR DAS VOR FÜNF JAHREN SELBST SCHON IN ÖSTERREICH: ABER WENN EINE GRUPPE AUS ISRAEL SOLCHEN TANZ ZEIGT, WIRD ER ERST ANERKANNT! - TYPISCH ÖSTERREICH (WIEN).

TANZ Max * Von: Ohad Naharin * Mit: Batsheva Dance Company (IL) * Ort: Tanzquartier, Halle G/MQ * Zeit: 29.-31.3.2008: 20h30

Tuesday, February 05, 2008

KUNST ODER KOMMERZ I: "FUSSBALLETT" VON GIORGIO MADIA UND MORITZ EGGERT

Halbsolist András Lukács als Schiedsrichter beim Fußballett des Opernballs: Trotz der geistreichen Choreographie von Giorgio Madia weiß man nicht recht, ...

... ob es sich dabei tatsächlich um freie, zeitgenössische Tanzkunst handelt, da zu viele Interessen damit befriedigt zu werden scheinen. - Selbst wenn sich Ballerina Karina Sarkissova sehr witzig zum Ball eignet.

Anscheinend ist man seitens Staatsoper mit der Meinung aber nicht allein, dass sich die "Allgemeinheit" über den Fußball für den Tanz begeistern läßt: Absolventen des Konservatoriums Wien entwickelten mit 27 Jugendlichen die Choreografie Spielstand, und weitere Fußballtheaterprojekte folgen vom Dschungel Wien nach ganz Österreich und in die Schweiz


STAATSOPER IOAN HOLENDER IST STOLZ AUF SEIN ZEITGENÖSSISCHES AUFTRAGSWERK AN KOMPONIST MORITZ EGGERT, DAS CHOREOGRAF GIORGIO MADIA IN SZENE SETZTE: DAS THEMA FUSSBALL(ETT) MUTET ABER EHER WIE KOMMERZIELLE SPEKULATION AN ...

Nun hat Choreograf Giorgio Madia endlich in die Wiener Oper zurück gefunden, und doch ist der Dank, den man Noch-Staatsoperndirektor Ioan Holender dafür schuldig sein möchte, überschattet. Denn er hat zwar Moderne von Madia - wie man sie seit dessen Volksoper-Ballettproduktionen Alice und Nudo in Wien vermißt - zurück gebracht; das aber doch recht scheinheilig ...

Nachdem Holenders Ruf, während seiner Direktionszeit in Sachen künstlerischen Fortschritts in der Staatsoper nichts bewirkt zu haben, groß ist, wurde er vor und während der Fernsehübertragung des Opernballs nicht müde zu betonen, dass er ein Auftragswerk an den zeitgenössischen deutschen Komponisten Moritz Eggert vergeben hätte, wozu Madia eine schwierige und tolle choreographische Arbeit gemacht habe; und um diesen "Tanz-Fußball"-Aufhänger hatte wiederum der ORF seine gesamte Berichterstattung dramaturgisch gelegt, einschließlich eines Interviews mit Franz Beckenbauer in der ZIB: Mit der "Begleiterscheinung", dass ständig wiederholt wurde, wie mutig und innovativ die Staatsoper mit dieser Wahl gehandelt hätte.

Sollte "zeitgenössisch" nicht auch "frei" bedeuten?

Weder inhaltlich, noch "freiheitsdenkend" künstlerisch ist allerdings das Thema: Es steht für eine klare "Absicht", sprich: für eine "benutzte" Kunstform. Es macht das "zeitgenössische Ballett" einmal mehr zur Nebensache, gerade gut genug für die "Drecksarbeit" innerhalb des Kunstbetriebs, nämlich als "Verbindungsfüller" verschiedener anderer Ingredienzen zu dienen, der darüber hinaus im Zeichen des Fußballs, - und in Wahrheit - im Zeichen der anwesenden Gäste aus Politik, Wirtschaft und Sport, zu stehen hat. 2008, im Jahr der Fußball-Europameisterschaft in Wien, scheint es vor allem Werbemittel zu sein. - Wie sehr es das ist, steckt in der Nachfrage: Warum hat Ioan Holender keine Fußball-Auftragsmusik für seinen nach dem Ballett folgenden Opernsänger, den "Fußball-begeisterten" José Carreras, schreiben lassen?!

Holender jedoch, schafft es wieder einmal, seine Schandtat als Tugend zu verkleiden, indem er wiederholt: "Das ist tolle moderne Kunst, moderne Musik, ein moderner Auftrag, modernes Ballett; das ist das Wichtigste beim heurigen Opernball. Was Giorgio Madia hier gemacht hat, kann man nicht genug schätzen." Der Glückstropfen dabei ist nur, dass er tatsächlich einmal begabte Fortschrittskünstler engagiert hat, selbst wenn sie für diesen spekulativ eigennützigen Dienst mißbraucht werden. Das Risiko, dass man sie damit als unliebsam "verschachert" verkennt, müssen sie allerdings selbst tragen. - So ist das nun mal mit der abhängigen Kunst von heute. Denn von der allgemeinen Auftragslage in der Szene weiß man, dass es sich derzeit kaum ein Zeitgenosse leisten kann, einen Auftrag abzulehnen, selbst wenn er "als Künstler" geschätzt ist.

(Weitere Trend-Hintergrundinfo: Der Intendant der Bregenzer Festspiele, David Pountney, benutzt das Thema "Fußball" schon länger als Marketingmittel für die Oper. Vom Land der Creative Industries kommend, Grossbritannien, präsentierte er letztes Jahr darüber hinaus die zeitgenössische, satirische Fußballoper:
Playing Away ... Das geschah aber in einem eindeutigen Kunstrahmen...)

Schwierige Bewertung: Fußballett als Kunstwerk

Unterm Strich bleibt nun aber, das Produzierte zu bewerten. Man muß die - für Opernballverhältnisse - lange, fünfzehnminütige Arbeit, Am Ball - Ein Fußballett für 22 Tänzer und 32 Tanzschüler des Balletts der Wiener Staats- und Volksoper, des deutschen Komponisten und des italienischen Choreografen kritisieren, so wie sie sich selbst "als Kunstwerk", sowie innerhalb des in alle Welt übertragenen Opernballs, klassifiziert: Eggerts Musik lebt trotz neumusikalischer Abstraktion von bekannten Musik- bis Walzerzitaten. Sie also schon, ist versucht, Erkennungmomente für die anwesende, großteils nur unterhaltungskunstaffine menschliche Anwesenheit zu schaffen, so dass sie den Neue-Musik-Mantel leichter akzeptieren kann. Dazu schafft nun Madia eine, umso konkretere "Fußballsituation", die mehr mit Fußball zu tun hat als mit Tanz. Das inkludiert die Gefälligkeit, dass sich sämtliche, zuschauende Menschen, die sich - umgekehrt als ursprünglich Madia - im Fußball eher als im Tanz auskennen, auch unterhalten fühlen - und das betrifft am Opernball wahrscheinlich die Meisten.

Ein paar "großzügige" Nur-Tanzliebhaber werden dieses "Schauspiel" indessen als Ironie auf die Europameisterschaft-Hysterie verstehen; für die Mehrheit der Nur-Tanzliebhaber wird es dagegen "zu wenig Tanz", zu wenig abstrakt, und damit: zu wenig zeitgenössische Kunst sein. Selbst wenn der theatrale Tanzwitz gelungen ist: Wenn Halbsolist András Lukács gekonnt ironisch als Schiedsrichter tanzt, sich Solotänzerin Karina Sarkissova grotesk als Ball (überm Kopf) "schießen" und tragen läßt, und Solotänzer Daniil Simkin als frecher Ersatzspieler eintrippelt, während daneben etwas schwerfällig die Fußballikonen Andi Herzog und Herbert Prohaska als Sanitäter ein simuliertes Faul aufdecken. - Das ist doch eine ungewöhnlich "angewandte" Kombination. - Ob das dem erstmals in Wien am Opernball anwesenden Unicredit-Chef Alessandro Profumo besser gefallen hat, als es eine echte zeitgenössische Tanzeinlage getan hätte, stellt allerdings das große Fragezeichen dar. Sein Choreografen-Landsmann Madia wäre der "Echten" jedenfalls mächtig gewesen; nur hätte er sich sein Thema dafür selbst aussuchen dürfen sollen.

Außerdem ist noch lange nicht gesagt, dass "echte Fußballbegeisterte" nicht auch "echte Tanzbegeisterte" sein können. In diesem Fall bräuchte sich der Tanz dem Fußball auch nicht unterzuordnen. Da selbst alte Philosophen wußten, dass ein "mens sana" nur in einem "sano corpore" stecken kann, dürfte das auch kein Wunschdenken bleiben. Nein, Sport und Kunst gehören definitiv zusammen und müssen demnach auch gleich viel wert, sprich gleich eigenständig, sein. Und je länger man nun über die Dimensionen dieser Aufführung nachdenkt, desto bewußter wird man registrieren, wie sehr man zu Gott und der Welt abtriftet, anstatt am Kunstdiskurs zu verharren, was wiederum an der Dominanz der Umstände rundum dieses Werkes liegen muss, wo zu viel Absicht im Vordergrund steht: es kann daher kaum von einem Kunstwerk die Rede sein.

Nach "Shakespeare"-Tanz zu "Kylian"

Deshalb plädieren wir an dieser Stelle dafür, das nächste Mal doch ein echtes - "sprich freies" - zeitgenössisches Werk zu beauftragen. Dann wären wir auch bereit, Ioan Holender den Status eines fortschrittlichen Kunstdenkers zuzugestehen. Moritz Eggert und Giorgio Madia hätten es sich jedenfalls verdient, in so einem "echten" Rahmen ihre Chance zu bekommen, gerade weil der Opernball ein "Event" für die Masse ist, die unabhängige Kunst von heute kennenlernen w(s)ollte. Denn so erreicht dieses 30 Raffszenen-Miniaturspiel aus Elfmeter, Faul und auf Händen getragenem Schiedsrichter - als "das Fußballfeld - eine Welt" - gerade die theatrale Bühnenmoderne eines Shakespeare. Wo es aber hingelangen sollte, das wäre eine musikalische Tanz-Moderne eines Madia-Eggert-Kylian. e.o.


DAS URTEIL ERST WENN IOAN HOLENDER CHOREOGRAF GIORIO MADIA UND KOMPONIST MORITZ EGGERT ZEITGENÖSSISCH OHNE AUFLAGEN BEAUFTRAGT, WIRD ER SICH INTENDANT DER VISIONEN NENNEN DÜRFEN.

MUSIK & BALLETT Am Ball – Ein Fußballett für Tänzer und Orchester * UA von Komponist Moritz Eggert + Choreograf Giorgio Madia * Ein Auftragswerk der Wiener Staatsoper für den Wiener Opernball 2008 * Eröffnung des Wiener Opernballs, Liveübertragung im ORF * Mit: Opernballorchester + Ballett der Wiener Staatsoper und Volksoper * Ort: Staatsoper Wien * Zeit: 31.1.2008

JUGENDTHEATER match:poesie und Straßentheaer TOR & CHOR * Von: theater.wozek * Im Rahmenprogramm: KICK & STAGE - DIE THEATERACHSE FÜR JUGENDLICHE ZUR EUROPAMEISTERSCHAFT IN DER SCHWEIZ UND ÖSTERREICH * Spielorte auf 14 Bühnen in Städten, von März bis Juni 2008: ZÜRICH – ST.GALLEN – SCHAAN – BLUDENZ – INNSBRUCK – SALZBURG – ST.PÖLTEN – VILLACH – GRAZ – LINZ – WIEN * Mit: 1. Spielort: Dschungel Wien * Zeit: 07.03.2008: 17h+18h

JUGENDTHEATER FIEBERTRÄUME (UA) * Von: Benedict Thill * Koproduktion DSCHUNGEL WIEN und TheaterFOXFIRE * Inhalt: Die Jagd nach dem fiktiven Ball des Lebens * Ort: Dschungel Wien * Zeit: 7.3.2008: 20h, 08.03.:19h30, 09.03.: 18h, 10. 03.: 10h30, 11.03.: 10h30+19h30, 12.03.:10h30+19h30, 13.03.: 10h30+19h30, 14.03.: 10h30+19h30, 15.03.2008:19h30

TANZ SPIELSTAND * Projekt der Konservatorium Wien Privatuniversität, Abt. Pädagogik für Modernen Tanz in Kooperationmit der Neusprachlichen Mittelschule Greiseneckergasse in Wien, 20 und dem Tanzfestival szene bunte wähne * Von: Elisabeth Hofstetter & Clara Wannerer * Mit: los pepinos * Ort: Dschungel Wien * Zeit: 27.2.2008: 10h30 + 18h * link: www.sbw.at