Tuesday, July 19, 2016

impulstanz 2016 – Tagebuch 1: JAHRHUNDERT-ERÖFFNUNG MIT DER KÖNIGIN DER ZEITGENOSSEN: MAGUY MARIN UND „BIT“


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BiT ... Das menschliche Zusammenleben ist ein beschwingter Volkstanz, wo alle gleichberechtigt im Kreis tanzen ...

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... oder doch eine Schlange bilden, und einer der Anführer ist: dessen Qualität bestimmt weder, ob er ein Mann, noch, ob er eine Frau ist, sondern dessen Gefühl für das verantwortungsvolle Miteinander in einer gesunden Welt. (Fotos © Hervé Deroo)
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Ganz schön unheimlich.



14.7., 22h30, im Wiener Volkstheater:

Ist es nun ein polarisierter
oder ein tosender Applaus?

Auf jeden Fall ist er verdient.

Die Französin, Maguy Marin,
verleiht
mit BiT
im Wiener Volkstheater
dem europäischen Aushängeschild
für zeitgenössischen Tanz,
dem österreichischen ImPulsTanz
seinen gebührenden Glanz.
Das ist nicht selbstverständlich.
Letztes Jahr war das Hungerjahr,
da konnte man zusehen,
wie ein ausgemergeltes Festival dahin siecht.
Als Anhängsel der bildenden Museumslandschaft.
So etwas zu verantworten,
ist ein kulturpolitisches Armutszeugnis.
Tanz ist eine eigenständige Kunstrichtung,
kein Beiwerk,
weder des Musiktheaters,
noch der Bildenden Kunst.

Davon überzeugen kann man sich jetzt, 2016:
schon an den ersten drei Festivaltagen
nach Marin
auch mit den Größen
De Keersmaeker und Vandekeybus.



Leider war Maguy Marin  bisher nicht oft bei ImPulsTanz zu Gast:
1997 mit May B – da war ich gerade mit meinem Publizistik-Theaterwissenschaft-Studium fertig und noch kein ImPulsTanz-Besucher.
2006 mit Umwelt. - Das sah ich mit dem wunderbaren Ballett-Choreografen Giorgio Madia. Wir waren „beide“ unendlich beeindruckt. Das ist bei Giorgio in zeitgenössischer Hinsicht so gut wie unmöglich. Diesen Insider zu begeistern, muss also auf echter Leistung beruhen.
Als 2009 neben dem wiederholt gezeigten Umwelt die Stücke May B und Description d´un combat dargeboten wurden, konnte ich zu meinem großen Bedauern leider nicht ins Theater gehen, da ich im Mai gerade mein Kind bekommen hatte. Allerdings wurde mir die Ehre zuteil, mit Maguin Marin ein Telefoninterview für die Falter-ImPulsTanz-Beilage zu machen. Ein sehr gutes Interview übrigens. (Ich muss – endlich mein „Best of“ veröffentlichen!)



Deshalb freute ich mich heuer wahnsinnig auf die Compagnie Maguy Marin. Und auch jetzt, am Ende, von BiT, im Hall des Applauses, ist sie für mich das Gesicht, die Königin des zeitgenössischen Tanzes schlechthin. So nimmt man dieses Genre ernst, weil man merkt, dass hier eine Choreografin arbeitet, die es ebenso ernst angeht. Zumindest hat man bei ihr nicht das Gefühl, dass sie viel nebenbei produziert. Weil ihre Werke in der Regel so verinnerlicht und präzise umgesetzt werden und dabei trotz makabrer Schwere in der Aussage musisch leicht erscheinen. Daran muss sie lange gearbeitet haben.

Über ihre Tänzerpersönlichkeiten sagte sie im Interview: „Brillante Performer und Tänzer, die entschlossen und schnell zum Punkt kommen, mochte ich nie. Und ich war selbst auch nie so. Wenn die Leute viel arbeiten, um irgendwohin zu gelangen, und es manchmal nicht schaffen, rührt mich das viel mehr: wenn der Mensch an seinem äußersten Schwächepunkt angelangt ist.“ – Von Schwäche im Ausdruck und in der Körperarbeit kann bei diesen Tänzern jedoch keine Rede sein. Selten sieht man derart charismatische Individuen, die gleichsam im Detail vollendet synchron erscheinen. „Jeder Mensch ist innerhalb der Gruppe anders. Deshalb tun auf der Bühne alle dasselbe, in derselben Geste sind sie aber ein bisschen unterschiedlich. Das mag ich: dasselbe, aber anders“, so Marin. „Dafür brauche ich die Mischung des klassischen Ballettsoldaten und des individuellen Zeitgenossen.“


Vom menschlichen Zusammenleben dieser Welt

 

Die sechsköpfige Tänzergruppe
- Ulises Alvarez, Daphné Koutsafti, Francoise Leick, Cathy Polo, Ennio Sammarco, Marcelo Sepulvedo –
steht in BiT (Uraufführung 2014)
für die Gemeinschaft der Menschen,
für deren Zusammenleben in sexueller Hinsicht
sowie im Team.
„Bit“ bedeutet auf Französisch ausgesprochen „Beat“
und andererseits meint es „bite“,
auf derbe Art den männlichen „Schwanz“.

Diese Gesellschaft (die man sich hinsichtlich der Vertrautheit auch gut bei einem Pariser Abendessen vorstellen könnte, wo sich drei
einander dreißig Jahre kennende Paare um die großteils 50 Jahre (!) wieder einmal treffen) wandelt bei durchgehend lautem rhythmisierendem Technobeat
über, unter und vor sechs schräg aufgestellten metall-bemalten Bretterebenen:
den steilen Lebenswegen eines jeden.

Sie halten sich meist an einander fest, schritttechnisch wie im französischen Volkstanz Farandole, jedoch mit der griechischen Syrtaki-Attitüde eines Anthony Quinn alias Alexis Zorbas, insbesondere, wenn die Männer zu Beginn des Stücks am Anfang und am Ende der Schlange stehen.
Das heißt: schon hier nehmen die Herren der Schöpfung die großgestisch tonangebende Rolle ein, was sich in den sexuellen Paarszenen noch einmal konkretisiert. Sie gehen ihre Schritte zunächst zeitangehalten, schleichend schwebend und leichtfüßig, trotz des bergigen Auf-und-Abstiegs. Mit steigender Beschwingtheit entledigen sie sich in wilden Wurfgesten des einen oder anderen Kleidungsstücks.

Bis ein Mann und eine Frau zurück bleiben, ein intimes Paar, wie es scheint, wo der Mann das Liebesgeschehen emotionslos verläßt, als hätter er gerade sein Geschäft verrichtet. Steigerung erfährt diese schale Emotion durch ein verse/chs/xt/fachtes Körperhybrid, das von einer Holzschräge auf rotem Teppich rutscht. Daraus schälen sich zwei, nur mit String-Tanga bekleidete Männer in Amphibien-Stellung heraus. Sie rivalisieren und bedrohen einander wie zwei Eidechsen vor der Begattung, die für gewöhnlich der Lohn der Anstrengung ist.


In mystischer Atmosphäre und in schneller Abfolge huschen plötzlich zwei religiöse Kuttenträger hervor, abgelöst von einer symbolischen Männer- sowie Frauenfigur, geschlechtsspezifisch betont durch schwarzes Gewand und jeweils weißer Maske. Drei Weberinnen in Kleidern mit Glockenröcken betonen die historisch gewachsene, traditionelle Rolle der Frau. In Folge besteigen und schänden fünf Mönchsgestalten nach einander in Missionarsstellung eine Frau, die das Geschehen regungslos über sich ergehen
lässt.

Eine Unmenge an Gold schmettert von einer Ebene herunter. Worauf eine glitzernde Partygesellschaft folgt. Bemerkenswert sind die nach Pumps nun Stöckelschuhe tragenden Frauen, die den steilen Berg, wie zu Beginn, in der Farandole-Syrtaki-Schlange herab tanzen, ohne zu stolpern. Und noch ein Unterschied ist auffällig: die Gruppe wird jetzt von einer „Anführerin“ sowie von einem "weiblichen" Schlusslicht geleitet, die ebenso großgestisch agieren wie zuvor die Männer.


Wir scheinen uns also in der fortgeschrittenen Gegenwart zu befinden. Der Gruppentanz wird immer übermütiger und ausgelassener, bis eine Frau aus Versehen hinterrücks von der Ebene fällt. Eine zweite Person stürzt ebenso unabsichtlich hinunter. Die weiteren springen nach einander wie die Lemminge hinter her. Mit dem letzten „Selbstmörder“ werden abrupt Ton und Licht abgedreht. Was für ein effektreiches Ende!



Was lässt sich daraus lesen: die kapitalistische Dekadenz von heute hat zu keiner Gleichberechtigung der Geschlechter und Menschen geführt. Und ob dieses Ziel überhaupt das Ziel ist, das die Heilung bringt, ist fragwürdig. Alles, was man und frau tun kann, ist: nach eigenem Gutdünken, jedoch mit Umsicht auf die anderen so verantwortungsvoll wie möglich die individuelle Bergwanderung des Lebens erklimmen. Um nicht vorzeitig abzustürzen und andere dabei mitzureißen.


Wie unheimlich!



14.7. 22h45, in Nizza,
da, wo die Schickeria Frankreichs verkehrt.

Ein 31-jähriger Tunesier
reißt im Namen der Terrororganisation IS
mit einem LKW 84 Menschen in den Tod
und verantwortet 200 zum Teil Schwerverletzte.
Angeblich wurde er erst vor kurzem radikalisiert;
er tat es für Geld, das er zuvor seiner Familie zukommen lassen hatte,
die ihn auf Initiative der Ehefrau wegen seiner Brutalität verlassen hatte.
– Was ist bei diesem "Lemming" schief gelaufen?
Auf jeden Fall liegt das Dilemma auch hier
in Marins grundlegender Weisheit,
die sie aus Samuel Beckett gewonnen hat:
„Die menschlichen Beziehungen messen sich
andauernd an der Macht des Stärkeren.“
  e.o.



DAS URTEIL STÄRKER UND EDLER LÄSST SICH EIN ZEITGENÖSSISCHES TANZFESTIVAL KAUM ERÖFFNEN. MAGUY MARIN IST MIT IHREN 65 JAHREN WEISER ALS METHUSALEM UND MUSISCHER ALS APOLLO, (MUSIK-)ÄSTHETISCH UND IN SACHEN SUJET-RADIKALITÄT JEDOCH MUTIGER ALS JEDER NEWCOMER. WENN DER ZEITGENÖSSISCHE TANZ EIN GESICHT HAT, DANN TRÄGT ER DAS IHRE.


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TANZ BiT * Choreografie und Regie: Maguy Marin * Mit: Ulises Alvarez, Daphné Koutsafti, Francoise Leick, Cathy Polo, Ennio Sammarco, Marcelo Sepulvedo * Musik: Charlie Aubry * Ort: Volkstheater Wien * Zeit: 14.7.2016, 21h
 

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