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Friday, April 17, 2015

MUSIK: MIT „STOP TIME“ SCHLÄGT JON REGEN EIN NEUES KAPITEL SEINES SELBSTBEWUSSTSEINS AUF

In Stop Time reflektiert Jon Regen über die Innenwelt und die (mediale) Außenwelt des Menschen. Welche davon die stärkere und begehrenswertere ist, sagt die Intimität seiner neuen CD. (Foto © Rebecca Meek)

REIGEN WIEN AM 3. JUNI 2015 IST ES WIEDER SO WEIT: DER US-SINGER-SONGWRITER, BLUES- UND JAZZ-PIANIST JON REGEN GASTIERT MIT TRIO IN ÖSTERREICH. ENDE APRIL ERSCHEINT SEINE NEUE CD STOP TIME. ES IST EINE TIEFGRÜNDIGE ABHANDLUNG ÜBER DEN STATUS QUO SEINES LEBENS, SEINER LIEBE UND EINE MUSIKALISCHE LOSSAGUNG VON JEDER KOMMERZIELLEN ANBIEDERUNG.


Einen langjährigen Fan werden die ersten drei Nummern seiner neuen CD Stop Time kaum überraschen: obschon das drei melodisch meisterlich gemachte Blues-Kompositionen sind, wie man sie von dem geschmackvollen Singer-Songwriter Jon Regen kennt. Das erste Lied I Will Wait besticht allerdings durch textlich außergewöhnliche Raffinesse. Es eröffnet, um was es in den zehn Nummern gehen wird: um Jon Regens Liebe zu seiner zweiten Frau Kristin, die er letzten Frühsommer geheiratet hat, sowie seine damit einhergehende Selbstfindung als ein in der Lebensmitte stehender Mann. Und bei all dem Glück, das man dem lange „Flirtenden“ für die Paar-Entscheidung wünscht, echt spannend wird man seine existenziellen Erkenntnisse aus Lebenserfahrung finden: weil sie ihn auch kompositorisch zu Neuem führen.
Produzent Mitchell Froom hatte für die neue CD die Idee, der Intimität von Regens Liedern ein ebensolches Setting zu verschaffen. Dadurch wurde sie selbstbewusster als jede andere zuvor, wo mehr Instrumentalisten und weniger Experimente mitspielten. Die ganz nah ins Mikrofon singende Stimme Regens und sein Klavierspiel werden nur von zwei Koryphäen am Bass und am Schlagzeug unterstützt: Davey Faragher (bass) und Pete Thomas (dr), den Band-Mitgliedern von Elvis Costello and the Imposters. Gezielte Text-Stellen ergänzen Froom und Regen durch rare Keyboard-Effekte, die umso stärker auffallen und die Aussage noch signifikanter machen. Dadurch wird die souveräne „Liedermacher-Persönlichkeit Jon Regen“ präsentiert, so wie Frooms  Label-Stars, Randy Newman und Paul McCartney, oder wie in den 90er Jahren die ebenfalls stark Text-Lied-orientierte Suzanne Vega (Luka, 1987, My Favorite Plum, 1996), mit der Froom zu jener Zeit auch verheiratet war.

Der Dichter Jon Regen über Ego und Liebesfindung


Der „Dichter“ Regen zeigt sich nun in I Will Wait, indem er akustisch wiederholt scheinende Textzeilen so minimal abwandelt, dass sie einen wendungsreichen, psychologisch fundierten Sinn ergeben:

Well, there´s millions of people 
(Es gibt Millionen von Leuten)
Adrift in this world
(treibend (auch: herrenlos) in dieser Welt)
Hoping to find themselves a boy or a girl
(Sie hoffen, sich selbst zu finden – ein Junge oder ein Mädchen)

Regen sah sich als einer von diesen suchenden Leuten, bis er jene - gerade weit entfernte - Frau fand, auf die er wartet. Die Sehnsucht nach ihr bringt ihn dazu, über sich selbst und seine Veränderung durch sie nachzudenken. Um den Kitsch zu entschärfen, baut er Situationskomik ein, die noch einmal doppeldeutig mit dem „herrenlosen“ Tier spielt: „I´d sleep with your cat, But I´m scared he might bite, Before the day I met you, I was losing my mind“  / dt: „ich könnte (Anm. Red.: statt mit ihr) - mit deiner Katze schlafen, fürchte aber, sie könnte beißen, Bevor ich dich traf, War ich dabei, meinen Verstand zu verlieren“.

Well, there´s millions of people
(Es gibt Millionen von Leuten)
Alive in this world
(Die in dieser Welt leben)
Hoping to find them a boy or a girl
(Sie hoffen, auf ein Mädchen oder einen Jungen zu treffen)

Mit der Nuance-haften Verkürzung von „themselves“ (sich selbst) auf „them“ (für sich) gelingt Regen die psychologische Erkenntnis, dass sich die Suche nach sich selbst eigentlich mit dem Finden des passenden Partners erledigt. Sich damit zufrieden zu geben, ist für jeden Single in dieser Welt, der sich bindet, das Zeugnis zur Paar-Reife.

Über den Partner zu sich selbst


Diese Erkenntnis verleitet Regen im zweiten, dynamisch-beschwingten und positiv motivierten Blues-Song Morning Papers noch zu einer Steigerung der Prioritäten-Setzung von individuellen Bestrebungen in Bezug auf die in Zeitungen gepriesene Außenwelt, wo über „Gewinner und Nehmer“, „Fusionierungen und schöne Wolkenkratzer“, „Mogule-Treffen und Fernseh-Vortäuscher“ berichtet wird. Zu jenen möchte der Einzelne in seinen Träumen gehören, so auch Regen, der das aber mit an Unechtem orientiertem „Größenwahn“ vergleicht. In Wahrheit bringe der Austausch über diese Außenwelt mit dem Partner die tatsächlich erstrebenswerte Echtheit. „Die Außenwelt“ mündet als akustische Verdoppelung des Texts in einem Echo-haften Künstlichkeitston, der zunächst zaghaft mitspielt, und am Ende wie im unwirklichen Film als Schall und Rauch vor dem übrig bleibenden, „echten“ Klavier in der Ferne ausklingt.
Das dritte Lied Run To Me richtet sich in der einschlägig melancholischen Blues-Stimmung an die Partnerin, die er ermutigt, zu ihm, dem „Kompass-Zeiger, dem Freund, dem Geliebten“ zu kommen, wenn sie ihren Halt oder Glauben verloren hätte. Und er endet mit dem Medien-Anknüpfungspunkt des zweiten Songs:  „Wenn deine wildesten Pläne weggeworfen werden, wie die Magazine des letzten Monats, Und wenn nichts mehr übrig bleibt, als zu schreien, Kannst du zu mir eilen.“ Damit meint er, dass sich auch die Partnerin – so wie er zuvor – darüber bewusst werden muss, dass „er“ die vertrauenswürdigere Garantie von Nähe bringt als jedes ehrgeizige Streben nach Anerkennung von der Außenwelt.

Kein Woody Allen, aber ein New Yorker mit Borderline-Problem


Ab Song Nr. 4 kann sich dann der treueste Jon-Regen-Kenner fünf Nummern lang überraschen lassen, weil nicht nur jedes Lied sehr speziell, fein und künstlerisch eigenständig ist, sondern auch inhaltlich und akustisch Außergewöhnliches bietet. Borderline beschreibt das Bild des New Yorker Stadtneurotikers, allerdings nicht so, wie man sich eine Woody-Allen-Figur vorstellt, sondern den enttäuschten Musik-Künstler Jon Regen, der eben jede Hoffnung verloren hat und deshalb durch die Stadt irrt. „Geschlagen von Feinden, Und aufs Kreuz gelegt von Freunden, So dass es schwierig ist, auszumachen, wer ehrlich ist und wer sich verstellt...“ Darauf folgt der Refrain, und der ist als psychoanalytische Selbstdiagnose gleichermaßen brutal wie als Liedtext über das Stilmittel der Übertreibung komisch: „Cause I´m Stuck in the middle on the borderline ...“ (Denn ich stecke mitten in der Borderline) – was „Grenzlinie vor einer Entscheidung“ oder eben die „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ bedeuten kann. Beides ist aufgrund des restlichen Textes plausibel, weil Gefühle der Leere und Instabilität in Beziehungen, Stimmung und Selbstbild beschrieben werden. Gegensätzlicher Weise wirkt der Refrain aber wie ein guter alter, Zufriedenheit ausdrückender American Country-Song, wozu der zweistimmige Chor (Val McCallum und Davey Faragher) einstimmt und beruhigende Gitarretöne erklingen (McCallum). Die Abreise aus der Weltstadt aufs Land ist also praktisch schon zu hören, bevor der Entschluss „zu gehen“ am Ende ausgesprochen wird. Motivierend und hell signalisiert das Keyboard die innere Erstarkung, bis es nach dem Tief zu dieser „Erleuchtung eines Neuanfangs“ kommen kann.

Ein kleines Kunstwerk: Stop Time als Einheit von Form und Inhalt


Mit Stop Time folgt in seiner Leichtigkeit, in seinem Schalk, in seiner künstlerischen Komplexität von musikalischer Form und Inhalt, kurz in seiner Originalität, ein Highlight der CD. Nicht umsonst trägt sie ja auch den Titel dieses Liedes. Der Rhythmus des Schlagzeugs ist schon einmal komplett a-typisch für Jazz und Blues, und für Jon Regen an sich, sodass man allein deshalb zuhören muss. Marschartig, als ticke der Sekundenzeiger einer lauten Uhr, treibt es einen humorvoll ausgeglichenen Mann an, den Blick auf sein bisheriges Leben zu richten. Er steht allerdings noch nicht so abgeklärt über allem darüber, denn sich mit seinen amourösen und materiellen Rückschlägen sowie dem Altern abfinden, das will er nicht. Lieber möchte er mit der Fantasie eines Kindes die Zeit stoppen und sie zu jenen Momenten zurückdrehen, um Fehler des Lebens auszubessern: „When I was a boy, I had it all too good, No one ever said, it would turn to soot, Getting old´s a bitch, I don´t believe you should, Stand in line like all these fools, I will not lay down, I won´t turn to dust, I´m gonna crack this code like a scientist“ („Als ich ein Junge war, hatte ich es rundum gut, Niemand sagte jemals, es würde sich alles in Ruß verwandeln, Alt zu werden, ist eine Schlampe, ich glaube, du solltest nicht wie all die Narren in der Schlange  stehen, Ich werde mich nicht hinlegen, ich werde nicht zu Staub zerfallen, Ich werde diesen Code knacken wie ein Wissenschaftler“) Das Schöne und Geistreiche an der Nummer ist allerdings, dass die Musik diesen Wunsch konterkariert. In der Mitte gibt es zwar einen rhythmischen „Stop“, worauf eine den Reparatur-Willen des kleinen Jungen ausdrückende Kinderlied-Passage folgt. Diese geht aber in einem ausufernden Swinging-Jazz-Piano-Solo auf, sodass dem Zuhörer über die Virtuosität vor Begeisterung der Atem stockt. Damit wird klar, dass in der Kunst alle Irrwege und Lebensbruchstellen willkommen sind, es geht nur darum, sie gekonnt und harmonisch ins geradlinige Ganze einzubetten. Und letztendlich gilt das auch für das Leben und die innere Reife des Menschen an sich.

Feinheiten zum Nachdenken, sinnlich träumen und experimentell ankommen


Darauf folgen drei ruhige, ernste Lieder. Walk On Water ist mit melancholischer Moll-Note ein Aufruf an jeden Einzelnen, die schmerzlichen Herausforderungen des Lebens anzunehmen; es ist zum puren Klavier einnehmend intim und hat mit den Bildern „über Wasser oder durch Feuer zu gehen“ religiösen Charakter. Das Klavier geht diesen Weg der lohnenden Überwindung im kurzen Solo vor. Nur so könne ein Neuanfang gelingen, der die ureigenen Träume wahr werden ließe.
Verführerisch ist Annie, wobei die „Verführte“ die Gitarre von Val McCallum ist, die im Duett von Jon Regens sensibel-liebevollem Wurlitzer-Spiel zu einer unglaublichen Einfühlung gelangt: Erotischer und sinnlicher kann die Musik zweier zusammen spielender Instrumentalisten kaum sein. Da ist es fast hinfällig zu bemerken, dass auch der Text von der „geflohenen Annie“ nichts anderes will als Sex und Liebe, Geben und Nehmen, und das auch noch mit Ewigkeitsversprechen.
Home Again hat mit subtiler Anspielung an Message In A Bottle von The Police - eine von Jon Regen verehrte Band - am meisten Pop-Charakter. – Es ist der erste Song, den es von Regen in diesem Stil gibt. – Denn es werden durchgehend Verfremdungseffekte verwendet. In der reduzierten Anwendung bleibt der Song aber künstlerisch fein und experimentell. Regens Stimme arbeitet mit Echo, als sei die singende Person weit weg, und die Musik wird wie aus der Ferne ins Jetzt eingeführt. Regen träumt „von dort“ vom Gesicht der Geliebten, das vor seinen Augen schwebt. Er zählt die Meilen, die noch fehlen, um wieder daheim zu sein. Wobei das „Wieder Daheim“ generell auf „sie“ als Person gerichtet ist, die ihm endlich wieder dieses Gefühl von Zuhause geben kann.

Wem das zu verdanken ist


Chapter Two ist der fröhliche Ausklang, eine Hymne an „Sie“ als sein „zweites Kapitel“, das er diesmal durchzieht, obwohl er nicht genau weiß, was an ihr eigentlich so speziell ist. Und er resümiert über sich: „Mir gehen die Gründe aus, warum ich alleine lebe, All die leeren Versprechen enden mit dir, Ich weiß, ich kann jetzt für immer lieben.“ Als Nachspiel ist wohl das kurze These Are the Days gedacht, (möglichweise hat er es am Tag vor seiner Hochzeit geschrieben). Jon Regen allein an seinem Klavier. Er sinniert über die kleinen Erdbeben dieses Lebens: über das Regeln-Befolgen in der Kindheit und deren Brechen in der Jugend, über die Fehler und großen, unwirklichen Träume, die nun, mit „ihr“ als Partnerin, vorüber sind und nur noch als Erinnerung bleiben. Die machten ihn alt, während „sie“ ihn jetzt verjünge ... e.o.

Siehe auch Link: Jon Regen Stop Time-Album-Trailer
 
Sowie Link: Für das Lied Home Again gibt es bereits ein Studio-Video
Sowie Link: Studio-Video von I Will Wait


DAS URTEIL JON REGEN WIRKT MIT SEINER NEUEN CD STOP TIME SELBSTBEWUSSTER DENN JE. TROTZ INSTRUMENTALER REDUKTION UND WEGEN EXPERIMENTELLEN ÜBERRASCHUNGSMOMENTEN. VIELLEICHT IST SEINE ERKENNTNISFÄHIGKEIT ALS MANN DER LEBENSMITTE DER GRUND DAFÜR, VIELLEICHT HAT IHN SEINE NEUE, GROSSE LIEBE „BEFREIT“.  ER IST JETZT INTIMER, KLARER, FEINER – UND LOCKERER IN SEINEM SCHWARZEN HUMOR.

CD & KONZERT Stop Time * Jon Regen Solo 2016 * Mit: Jon Regen (piano, voc) * Ort: Reigen Wien * Zeit: 29.9.2016: 20h30 
CD Erscheinungsdatum: 28. 4. 2015 bei Motéma Music * Musik und Text: Jon Regen * Produzent: Mitchell Froom * Mit: Jon Regen (piano, wurlitzer, voc), Davey Faragher (bass), Peter Thomas (drums), Mitchell Froom (keyboards), Val McCallum (guitar), Don Heffington (congas)

Saturday, April 21, 2012

MUSIK: JON REGEN KOMMT MIT "REVOLUTION" WIEDER NACH WIEN

Im Wiener Birdland waren Jon Regens Konzerte stets gut besucht gewesen. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass er nach seinem Revolution-Konzert am 8. Mai 2013 im Wiener Reigen an seinem Erfolg anknüpfen kann. (Foto © Elfi Oberhuber)

REIGEN WIEN DASS ZUM LETZTEN KONZERT DES BEGNADETEN US-MUSIKERS UND SEINER EUROPABAND NUR WENIGE - ALLERDINGS SCHWER BEGEISTERTE - BESUCHER KAMEN, IST UNFASSBAR. ES WAR JEDENFALLS EIN TOP-KONZERT. MIT LIEDERN DER NEUESTEN CD REVOLUTION KOMMT DIE JON REGEN BAND AM 8. MAI 2013 WIEDER. HIER IST SCHON MAL DIE KRITIK ZU SEINEM MEISTERWERK.

Es ist ein heiliger Moment im Klangreich der neuen CD Revolution des US-Singer-Songwriters und Jazz-Pianisten Jon Regen, als mit der Neunten von zehn Nummern Spirits of the Soul die Sonne aufgeht. "The blues is fresh, but the music is old" (der Blues ist frisch, aber die Musik ist alt) ist die tragende Textzeile, die literarisch elegant in die menschliche Gefühlszone dringt, sodass sich der Hörer erneut seinem Konzentrationssensorium hingeben muss, wo er doch ohnehin seit Anbeginn lauscht. Denn eine Jon-Regen-CD ist immer ein bis ins kleinste Detail durchdachtes, komplexes Folgewerk, wo man von vorne bis hinten zuhört und nicht abschalten kann, selbst wenn beinahe jede Nummer ein potentieller Hit ist und für sich selbst steht. Die Aufmerksamkeit des Hörers taucht zu diesem Zeitpunkt in eine traurige, zeitlos schöne "Chopin"-Atmosphäre ein, ja, in klassischen "Chopin", obwohl das Blues und Jazz und Pop - und zwischendurch auch Rock - ist, was da zu hören ist. Regen spielt dieses Lied einfühlsamer und ernster, nicht mit dem Swing-Drive, den er sonst so gekonnt drauf hat.

Gleich präsent wie er, wenn nicht sogar präsenter, ist Ex-The-Police-Gitarrist Andy Summers mit seinem beginnenden Bossa-Rhythmus und seiner lautmalerisch fortsetzenden, metallen-tscheppernden Konzertgitarre, die er zupft, während ihn Julia Kent am Cello begleitet. Ihre Saiten klingen so klar und endlos-wichtig, als erzählten auch sie den Inhalt von Jon Regens-Stimme. Es geht um Erinnerungen, die Regens Gemüt wie Stalker heimsuchen, nachdem ihn eine geliebte Person verlassen hat. Sie bescheren ihm ein Gefühl der Leere und Schuld, wie er es schon oft erfahren mußte. Er, der Musiker, schöpft aber letztlich aus diesem Gefühl für seinen typischen Stil: "The blues is fresh but the music is old", eben. Das hat auf entrückter Ebene subtilen, schwarzen Humor, wie er einige Male mehr oder weniger verhalten auf Revolution zu finden ist.


Kein toller Höhepunkt ohne gigantisches Vorspiel


Spirits of the Soul ist auf der CD Höhepunkt und leichter Stilbruch zugleich. Und er wäre weniger herausragend, würde die immer spannender werdende Abfolge der Lieder zuvor nicht sein. Scheinbar unterliegt das ganze Konzept der Reihung einer (werbe)psychologisch gewinnenden Strategie. Es beginnt mit der "Einführungsnummer" und dem Titellied Revolution, dem einzigen schwächeren Lied, nebenbei bemerkt. Möglicherweise liegt die Schwäche an den plump gesetzten Instrumenten Cello und Percussion im einfach gestrickten Hauptteil, wodurch auch der Text etwas konstruiert wirkt. Doch Regens raffiniertes Klaviersolo signalisiert dann doch noch die Ruhe vor dem Sturm (die Revolution), der bereits mit der zweiten Nummer aufkommt. Seine Windstärke liegt bis zur vierten Nummer vor allem auf der Wort-Ebene, d.h., der Hörer wird geistig erfaßt und emotional für die klanglich in der Instrumentation immer wieder wechselnde und anwachsende Musik der kommenden Songs "geöffnet".


Erste Gefangennahme durch Worte


So also, wenn Regen in She´s Not You davon singt, dass er in diesem billigen Hotel feststecke, wo der Fernseher kaputt sei, und er sich nicht wohlfühle, sodass er sich gemüßigt sieht, in die Bar zu gehen. Und: "Da war "sie". Sie könnte deine Schwester sein!" Doch: "Sie ist nicht du, aber heute Nacht muss sie es sein". Die Begeisterung für die Frau hält zu angenehm lockeren Rockswing-Klängen fast bis zum Ende an, bis er durchblicken läßt: "Ich hänge immer noch an dir." Dieselbe amouröse Leichtigkeit mit einem Hauch schwarzen Humors und Selbstironie bezüglich der eigenen Rührseligkeit und Musikerexistenz hält auch in Delores an. Das Lied beginnt schon so: "Alle schönen Frauen sind beschäftigt, alle netten Kerle sind betrunken. So lass uns ausgehen, Delores, um uns ein bißchen zu vergnügen. Nun, deine Mutter sagt, ich sei verrückt. Dein Bruder sagt, ich bin zu alt. Du hast einen Vater in der Marine, er sagt, ich passe nicht zu Eurer Lebensweise..." Sie solle doch tun, was sie wolle, denn sie hätte ihr Leben in der eigenen Hand. Dass "seine" andere Lebensweise allerdings auch einiges zu bieten hat, bekräftigt die zärtlich-elegant swingende Hammond-B3-Orgel von Benmont Tench im präsenten Back- und Sologround, dem ersten Gaststar-Musiker auf der CD. Im vierten Just Waiting For Now wird die Ironie zwischen Text und Musik noch stärker, indem sich der Inhalt um eine philosophische Abhandlung vom Fallen und auf dem Boden aufkommen, vom Wegrennen und Eingeholtwerden, und dem "Warten auf das Jetzt" einem locker-fröhlichen Pop-Blues-Orchester aus Akkordeon, Melodica (auch von Jon Regen gespielt) und Orgel neben den "Standards" Piano, Bass und Schlagzeug gegenüber stellt.


Überwältigung durch die Musik


Ab Excuse Me, But It´s Not Supposed To End Like This, dem fünften Song, geht die musikalische Größe schließlich ganz auf, sodass der Text zweitrangig wird, wenn Regen (wie schon in früheren Nummern auf der CD Let It Go) von seinem Trennungsschmerz singt. Mit dem Tenorsaxophon von Mike Karn und Trompeter Jim Rotondi bekommt die CD einmalig eine neue, vollere Klangfarbe. Dadurch kommt das wieder reduzierte One Part Broken, Two Parts Blue mit den Frontinstrumenten Akkordeon und Klavier neben der einfühlsamen Background-Orgel von Matt Rollings erst recht beim Hörer an. Vor allem auch wegen der treffend schönen, traurigen Metapher einer Empfindung "Ein Teil zerstört, zwei Teile melancholisch (=blue(s))", passend zu einem Morgen in New York, wo Jon Regen zuhause ist. Fighting For Your Love ist dann die sexuell befreiende, rockig-schnelle Lebensfreude als Antwort, musikalisch und inhaltlich. Sowohl die Akteure - Regen am charismatischen Piano und mit seiner männlichen Mikrofonstimme neben seiner erdig-rauen Co-Sängerin Dana Fuchs - als auch die Unterstreicher, der gas-gebende Schlagzeuger John Miller und der dynamische Bassist PJ Phillips, sowie der rassige Gitarrist George Marinelli, stehen hier für den aktiven Kampf ums Liebesglück schlechthin. Die darauffolgende Nummer If You´re Here beginnt wieder ruhig und extrem stark mit den zwei genialen Solisten, E-Gitarrist Matt Beck und Ricky Peterson an der Hammond-B3-Orgel, sodass auch Jon Regen - aus der verbalen Orientierungslosigkeit ohne die Stabilität der geliebten Person - an der Orgel und am Wurlitzer zu seiner Hochblüte gelangt.


Erfüllung durch Wort und Musik


Und damit sind wir beim anfangs beschriebenen Spirits of the Soul, das den Hörer bis ins Detail gefangen nimmt. Dieser Song wurde übrigens neben Regen von Tenor David McAlmont co-geschrieben, der im letzten Song Run Away im Duett mit dem Bandleader, oder besser, als Lead-Sänger auftritt und noch einmal eine komplett neue Klangfarbe mitbringt. Diese beiden Stimmen - wie schon die Regen-Kombination mit Dana Fuchs zuvor - sind dermaßen originell und gleichzeitig stimmig ergänzend, dass es dem Zuhörer die Sprache verschlägt. So originell und stimmig, wie es durchgezogen die Instrumental-Arrangements der ganzen CD sind.

Mit einem Wort: Jon Regen und seine Co-Produzenten Matt Rollings , Juan Patino und Mischer John Porter, Michael H. Brauer haben sich mit dieser CD Revolution übertroffen. Eine extreme Befriedigung für jeden Musikfetischisten, und vor allem Qualitätskenner!      e.o.
          

DAS URTEIL DIE NEUE JON REGEN - CD  REVOLUTION IST EIN MUSIKALISCHES KUNSTWERK, DAS UNS ÜBERLEBEN WIRD. ES BLEIBT ZU HOFFEN, DASS DAS MUSIKLAND ÖSTERREICH DIESE PERLE BEIM NÄCHSTEN KONZERT ZU SCHÄTZEN WEISS.

CD & KONZERT Revolution * Jon Regen Band Tour 2013 * Ort: Reigen Wien * Zeit: 8.5.2013: 20h30

Sunday, April 27, 2008

MUSIK: JAMES MORRISON BRINGT JÄRVI´S TONKÜNSTLER INS "JAZZLAND"

Plugged-In heißt die Serie der Tonkünstler unter Dirigent Kristjan Järvi, wenn´s in den weltmusikalischen Jazz-Groove geht (Foto © Peter Rigaud) ...



















Nun, ans Strom geschlossen oder nicht: im dritten Teil Jazzland, bestimmt durch Trompetenass James Morrison (Foto © James Morrison Enterprises), raste der Strom auf alle Fälle: durchs Publikum!



MUSIKVEREIN WIEN JAMES MORRISON IM JAZZLAND ODER IN DER SYMPHONISCHEN PLUGGED-IN-SERIE - WAS AUCH IMMER, DAS AUSTRALISCHE BIG-ASS DER TROMPETE LIESS DAS TONKÜNSTLER ORCHESTER UNTER KRISTJAN JÄRVI SWINGEN UND GROOVEN

Es war nach All That Tango und A Night in Tunesia der dritte und vorerst letzte Teil der Plugged-In-Serie und hieß Jazzland. Und obwohl "dieser Jazz" des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich - an sich schon ein Widerspruch - im Musikverein stattfand, war das ein richtig gutes "Jazz"-Konzert. Sprich: trotz biederer Halle (mit toller Akustik), trotz Klassikorchester eines "Bundeslandes", trotz (wenn auch radikalem) Klassikdirigenten Kristjan Järvi. Denn angeregt wurde dieses Musikereignis vom australischen Jazztrompeter James Morrison, gleichermaßen Wahnsinnsblaskünstler wie Showmanwahnsinniger.

Von der sprungvereinten Antheil-Jazzsymphonie ...

Dabei begann zunächst alles "bekannt", mit einer Järvi-typischen Nummer: dem Titel A Jazz Symphony. Typisch, weil Järvi gerne Clusterstücke dirigiert, wo es scheint, als hätten sich viele bekannte Zitate in einem Stück verirrt, was denn lustig - heute würde man sagen "technoartig" - übereinandergelegt und theatral von ihm und seinem Orchester wiedergegeben wird. Als eine Art von geistiger Reflexion, als seien Musiker und junge Komponisten heute ob der grandiosen Vielfalt aus der Musikgeschichte einfach nur noch übersättigt, sodass sie nichts mehr hinzuzufügen haben, außer übersprudelnd-genußsüchtige Dankbarkeit gegenüber all der Fülle. - Diese Komposition könnte also genauso von einem John Adams stammen oder von einer in die Klassik ausgezogenen Formation Kruder & Dorfmeister. Sie stammt jedoch von einem anderen "bösen Jungen der Musik", von George Antheil (der kurioserweise und auch hörbar nachvollziehbar mit dem Wiener Hollywoodstar Hedy Lamarr das Frequenzsprungverfahren der heutigen Mobilfunktechnik erfunden hat); und - man glaubt es kaum - er schrieb diese sprungreife Komposition im Jahr 1925! In der Orchesterfassung 1955 spielt Järvi das auf Piano - umgeben von Xylophon, Schlagzeug und Trompete - zugespitzte Werk nun zum Auftakt des Abends mit einem 12-Mann-Bruchteil seiner Tonkünstler. Das klingt, als hätte sein New Yorker, nur aus Solisten bestehendes Zweitorchester, Absolute Ensemble, auf einen Abstecher vorbei geschaut, um diese Akustik eines revueartigen Klassikerverschnitts mit Strawinsky-Temperament zum meditativen Grooven zu bringen. Und doch läßt sich feststellen: nur das schnelle und allein-spielende Klaviersolo bringt zwischendurch mentale Klärung, etwas, das in diesem Stück sehr notwendig ist, und was am Ende noch einmal als kitschig-erleichternder Big-Band-Sound eintritt.

... zur symphonischen Big Band im Zoff mit dem Jazz

"Big Band" ist das Stichwort zum darauf folgenden Auftritt des internationalen, vom Publikum entsprechend laut empfangenen Gaststars, begleitet vom - jetzt - hundertköpfigen Tonkünstler-Orchester: James Morrison scherzt gleich gut gelaunt über sein Schizobassiac, "Concerto für Euphonium und Orchester": "Das ist ein australisch-schizophrenes Gebilde zwischen Jazz und Symphonie!" Dabei ordnet sich der freiheitsliebende Jazzer mit seinem leisen Baritonhorn sehr dem klassischen Spiel unter, einer sehr sanften, sehr getragenen, fast biederen Wohlklangmusik aus Querflöten und Celli. Selbst wenn er kurz reißaus nimmt, mit immer kürzeren Tönen, sich tief blasend als "Mann von der Straße" zu erkennen gibt, aber gleich wieder im leicht-fröhlichen Orchester aufzulösen gedenkt. Das ist so sehr Romantik, so sehr Lyrik, dass selbst ein lebenslustig-aufmüpfige Jazzer wie er klar und gedämpft dem tonalen Gefühl gehorchen muss. Richtig gut, wie man sich einen Musiktypen seines Kalibers vorstellt, wird er aber dann doch erst ab City Shift von Sean O´Boyle und ihm: Morrison rast wie auf der Jagd, gestützt von Schlagzeug und anarchischem Swing, eloquent und frech, sodass es zum Lachen anregt, vor allem wenn man den Kampf zwischen Jazz und Symphonie jetzt tatsächlich mitbekommt, und die Geigen nur mehr "komisch" klingen. Dem setzt Morrison mit verschmitztem, keinesfalls bösem Solo aus Hoch bis ganz Tief noch eins nach! Spätestens jetzt ist die Zeit reif für Duke Ellingtons und Juan Tizols reiner Jazz-Big-Band-Nummer Caravan, die von Morrison mit dominantem, - live etwas blechern klingendem - Schlagzeug arrangiert wurde, während instrumentenverkehrt der Bass den jazz-schnellen Rhythmus taktiert. Das ebenso schnelle Klaviersolo von Michael Starch swingt dazu, und steigert sich durch den wiederholten Refrain in verschiedenen Tonlagen zum Schwung. Da gelangt der Witz ins schauspielerischer Schwitzen, bis er im meleodramatischen Finale verschwimmt.

Kabarettreifer Showmaster greift zur digitalen Trompete

Kabarettreif zur Feier des Moments zieht Morrison daraufhin eine leuchtend-blaue, digitale Trompete hervor. Schließlich will er dem eingesteckten Motto der Konzertserie gerecht werden. Kein Tiefstapler, bezeichnet er sich von den drei möglichen Stufen an diesem Instrument zwischen "Anfänger, Durchschnitt und Experte" als Letzteres. Und er meint noch: "Mein Bruder beherrscht dieses Instrument auch - er ist Schlagzeuger ..." Und damit hat er auch schon das Computer-Geheimnis gelüftet und mimt ein "Huhn, das eine digitale Trompete spielt". Dann tritt der wahre Experte aber wirklich hervor: Morrison spielt das blaue Ding wie eine Panflöte, deren Schmerz sehr elegant in leichtem Swing aufgeht. Und doch ist sein klassisches Flügelhorn danach die reinste Wohltat, denn "der Jazz" kehrt damit endlich zum echten, guten, alten, wertvoll-erdigen Jazz zurück: Morrisons Enchanted, orchestriert von O'Boyle und dirigiert von Järvi, funktioniert nach dem typischen Jazz-Aufbau: auf das Flügelhorn-Solo folgt jenes des Pianos und jenes der Tonkünstler-Trompete. Järvi wird dabei tatsächlich so "enchanted", dass er sich ins Publikum dreht und einfach nur noch lacht. So "hingerissen" wird er auch selbst gleich "zum Publikum", denn er kann (muss) sich auf der Bühne setzen und zuhören, um sich von Morrison am - ebenso wie die Trompete beherrschten - Klavier das schlichte Jazz-Trio mit Schlagzeug und Bass von Andy Cowan, den Australian Folk Song, vorführen zu lassen. Sodass nun im Musikverein - im Unterschied zum Club, wo diese Art von Jazz sonst als Hintergrundsound läuft - tatsächlich jeder aufmerksam still zu sein hat, einschließlich der hundert Musiker auf der Bühne. Das ist fast reaktionär! Die Solisten steigern sich eloquent und elegant von leise zu laut in ein anwachsend grandioses Gefühl. Es kommt so perfekt kalkuliert, um bestens zum Finale anzufeuern: Zu Ellingtons Klassiker Harlem, arrangiert von Charles Coleman, jenem perfekten Big-Band-Stück für Trompete. Da passen selbst die gezupften Geigen, verführerisch wie Mata Hari erinnern sie an die Zeit der großen Filmstudios, wo Dramatik gleich leichter Swing bedeutete. Doch es wäre nicht Jazz, wenn nicht etwas Unvorhergesehenes passieren würde: auf den Rhythmuswechsel übernimmt die Bratsche den Part des Saxophons, und mit dem Klaviersolo trifft es die absolute Atmosphäre des Film Noirs. Auf das erneute dramatische Anschwellen dehnt sich jetzt die bekannte Nummer als sei sie betrunken, und auf einen letzten Aufschrei hin, scheint die Spannung in Kontrasten kaum noch zu überbieten: mit den Klopfgeräuschen haben die Schlagzeuger der Tonkünstler endlich einmal etwas zu tun, und alles verlangt nach der Explosion im Exzeß: Morrisons Trompete vibriert, sie ist echt, nicht gespielt gespielt. - Damit springt der Funke endgültig aufs Publikum über, es kann nicht genug bekommen - und bekommt als Zugabe Morrisons "Kunststück", worin er sich, den Trompetenstar, alleine am Klavier begleitet. Das kann Järvi nur noch mit einem kurzen Rhythmushagel toppen - und der Hagel trommelt jedem ins Blut. Ein Feuer, ein perfekt gesteigerter Akt! e.o. / p.s.

DAS URTEIL "PLUGGED-IN" NUR AM RANDE, DAFÜR ABER RICHTIG GUTER, ALTER, UNTERHALTSAMER (!) JAZZ: JAMES MORRISON? - EIN SHOWTALENT, UND DANEBEN EIN MUSIKGENIE; UND EIN NEUES LICHT FÜR KRISTJAN JÄRVI!

Nächste Tonkünstler-Konzerte mit Kristjan Järvi

Olivier Messiaen, Sergej Prokofjew und Arvo Pärt
(mit vergrößerter Fassung im Auftrag der Tonkünstler von „Stabat Mater“) * Dirigent: Kristjan Järvi * Mit: Tonkünstler-Orchester * Ort: im Rahmen der Wiener Festwochen: Musikverein Wien * Zeit: 12.6.2008: 19h30

Sommernachtsgala * Musik aus Werken von BEETHOVEN, BRAHMS, GERSHWIN, LALO, LEHÁR, SAINT-SAËNS, RAVEL, ROSSINI, VIVALDI u.a. * Dirigent: Kristjan Järvi * Mit: Tonkünstler-Orchester * Mit: Michael Schade - Tenor, Sarah Chang - Violine, Katia und Marielle Labèque - Klavier * Ort: Wolkenturm Grafenegg * Zeit: 20.6.2008: 21h15

Wednesday, March 05, 2008

MUSIK: MICHELLE SHOCKED, DIE URMUTTER ALLER SINGER SONGWRITER WAR DA





















Weniger Schockerin, als echt eindrucksvolle, klar US-verwurzelte Frau mit großer Stimme, großem Ausdruck und starkem Gitarrenspiel ...


Sie läßt sich nicht fremd-bestimmen und bringt ihre CD deshalb unter eigenem Label heraus. - Wenn Österreich dazu ein Pendant schaffen könnte, wären wir vor dem US-Markt gerettet. - Aber deswegen bitte nicht einfach US-amerikanisch kopieren!!!


WUK DIE AMERIKANISCHE "SCHOCKFRAU" MICHELLE SHOCKED GASTIERTE IN WIEN UND IST DOCH MEHR PREDIGENDE URMUTTER ALLER GROSSEN SÄNGERINNEN ALS FEMINISTISCHE SCHOCKERIN

Gospel-LeadsängerIN, Anti-FolkerIN, Blues-&-SoulerIN, PunkerIN, ausgewachsene RockGÖRE - diese Mischung knallt einem bei Michelle Shocked und ihrer E-Gitarre-spielenden Supporterin mit volltätowierten Armen im WUK entgegen. Bei der amerikanischen Singer SongwriterIN darf das geschlechtsspezifische Anhängsel "-in" nicht fehlen, denn sie gehört mit Geburtsdatum 24.2.1962 zu jenen Frauen, die sich nur mit aggressivem Feminismus Aufmerksamkeit erringen konnten. Tritt eine heute bis Vierzigjährige so auf, wird sie damit kaum punkten, es sei denn, in den Jahrgängen darüber. - So viel, nebenbei bemerkt, zum Sympathiewert von und unter Frauen, der sich daraus speist, ob er sich von einer identitätskonformen Authentizität oder einem "So-tun-als-ob" ableiten läßt. Bei dieser Frau, Michelle Shocked, ist das -IN echt und damit durch und durch sympathisch. Ihr militantes Credo hat sie zum "Womanifesto" verfaßt, womit sie definitiv auch etwas von jenen musikalischen Emanzen hat, die, wenn sie schon nicht zum Lesbentum neigen, dann zumindest den Frauenklüngel verfechten. Das zieht bestenfalls eine ganz spezifische musikalische Qualität nach sich: sie zeigt sich bei der gebürtigen Texanerin in der vollen Stimm- und Intonationsparallele zu Melissa Etheridge, in der machmal kopfstimmlich leisen und spitzensetzend jodel-schreihohen Ausdruckstärke ähnlich jener von Ani DiFranco und in der momentweisen Sensibilität einer Tracy Chapman. Sie alle mögen ihre Urahnin in Janis Joplin haben, der weißen Königin des Bluesrock, der Königin der afro-schwarz - us-weißen, männlich-weiblichen Energie. Die Männlichkeit liegt in der Bestimmtheit, im selbstbewußten Auftreten, die Weiblichkeit in der generellen Anteilnahme am Unrecht dieser Welt.

Viel-redende Menschen denken manchmal auch

Die explosive Mischung wird manchem Durchschnittsmenschen Angst einjagen, weil so eine Frau etwas Kompromißloses an den Tag legt, das "immer Recht zu haben hat". Michelle Shocked dämpft dieses unterschwellige Dogma mit dem Ge-Recht-igkeitsanliegen einer "Vorbeterin". Sie singt - die meiste Zeit - vor und läßt das Publikum antworten (nachsingen). Diese mitreißende Sommerurlaubs-Agitationspraxis - die man zuweilen auch auf Wahlreden wiederfindet - hat ihre Wurzeln im religiösen Gospel, dem Michelle Shocked die letzten Jahre huldigt. Er hat sie zu einem durch und durch positiven Menschen gemacht, der tatsächlich "immer Recht hat". Und das macht sie einmal mehr: sympathisch. Auch weil sie das Recht-haben mit einer gehörigen Portion Selbstironie, sprich mit Selbstanklage und -verteidigung garniert. Das ergibt den Charme der sicheren Unsicherheit, das tatsächliche Selbstbewußtsein dieser permanent redenden Frau: "Bla, bla, bla, bla", unterbricht sie ihren Redefluß und rät dem Publikum: "Wenn Sie jemand fragt, wie Michelle Shocked so sei, können Sie sagen, "she talks a lot"", aber eines sei nun mal klar: "Jemand, der seine Songs selber schreibt, muß automatisch viel reden. Andernfalls wäre er ja Britney Spears." Insofern definiert sich die studierte Literaturwissenschaftlerin als denkende Singer-Songwriterin, die der Welt etwas mitzuteilen hat - und dadurch wird es ihr mental wahrscheinlich auch besser gehen als einer Spears... Diese Frau ist nicht fremdbestimmt. Sie hält es daher für bemerkenswert, das Publikum darüber aufzuklären, dass sie sich ihrer Plattenfirma entledigte, sobald jene ihr verbieten wollte, in Richtung Gospel zu gehen. Ihre CDs, wie zuletzt ToHeavenURide, erscheinen mittlerweile unter ihrem eigenen Plattenlabel Mighty Sound, distribuiert über RED, nachdem sie sie eine zeitlang nur nach ihren Konzerten und übers Internet vertrieben hatte.

Heimatliebe voller Kritik

"Haben Sie hier noch die Todesstrafe?", gibt sie sich im Spiritual-Rock The Quality Of Mercy als Messias der Menschenrechte (auf www.michelleshocked.com als Hintergrundmusik zu hören). Und Little Billie handelt von einer Frau, die Billie Holiday liebte - über die Shocked meint: "Sie hat mehr Schreiber als Leser inspiriert."... -; jene Frau tanzt am Begräbnis ihres Sohnes zum Blues-Jazz der Freunde, nachdem er aufgrund politischer Bedingungen erschossen wurde. "Ein Politiker sagte zu mir nach dem Song: Ich hoffe, dass ich einmal so beerdigt werde." Darauf Shocked sarkastisch: "Ja, da haben Sie recht." Ähnlich polemisch ist die Tendenz des interpretierten Welthits über Vietnam, worin eine Mutter nach Kriegsschluß für ihren gefallenen Sohn Entschädigungsgeld bekommt, was im - als von der politischen Macht intendiert aufdeckenden - allseitsgültigen Omen endet: "Der Krieg ist nicht zuende, er hat gerade erst begonnen." Diese ewigen Bilder über die egoistische, amerikanische Weltmacht, die beinahe schon Nostalgiewert haben, lassen sich gerade wegen ihres emotionalen Effekts mit der zweiten großen Seite der Shocked verbinden: ihrer großen Heimatverbundenheit ausgehend vom Geburtsland Texas, was sie ebenfalls indirekt, schlagend und haltend, beschreibt. Come A Long Way ist ein Lied über das ewige Gefühl für Heimat in der Seele, egal, ob man den Schlüssel seines Hauses abgegeben hat - "nur die Liebe zu einem Menschen kann das entscheidend ändern" - unterbricht sich die improvisierende Sängerin im Live-Konzert selbst. Die generelle Liebe schildert sie anhand von Lebensräumen wie L.A. oder jenem ihrer Kindheit in Memories Of East-Texas mit den prägnanten Worten: "... das Leben der Texaner läuft in so engen Straßenkreisen; Sie konnten einem Mädchen keinen Platz schaffen, das den Ozean gesehen hat ... aber jenes Mädchen wäre ohne diese Straßen nie so weit gekommen ...". Auf ihre Beziehung, die nach 13 Jahren geschieden wurde, antwortet sie indessen makaber frohlockend mit Joy: "Eifersucht und Ärger, Gier und Heuchelei; die Jahreszeiten der menschlichen Natur können mir die Freude nicht nehmen!" - Dazu der trockene Nachsatz ins Publikum: "I wish you all love, I hope it kills you!"

Warum diese US-Sängerin Österreichern näher ist als Wiener Sänger

Was einen - die vielen Wiener und Österreicher, die sämtliche Songs der Shocked auswendig mitzusingen in der Lage sind - am meisten nachdenken läßt, ist allerdings die Frage: warum diese doch-so-amerikanische Frau, als Persönlichkeit einem Österreicher viel näher kommen kann, als jeder andere derzeitig gehypte Sänger im Wiener Dialekt? Ist es die energetische, archetypische Größe einer Ur-Mutter, ein Idol jenseits von einem selbst, das erst zu überzeugen vermag? - Wie auch immer, eines ist sicher: Jede österreichische Sängerin, die versucht, das - die afroamerikanische Urmutter - nachzumachen, wird scheitern, genauso, wie junge, österreichische Castingshow-MTV-Fakes immer nur ein billiger Abklatsch sein werden. So jemand wird allenfalls zur kopierten Marktmarke. Das Ziel muss die österreichische Machtmarke sein. Und die muss man sich erfinden: So, wie es etwa ein Falco als Mischung aus Oskar Werner und David Bowie schaffte. Und vielleicht gewinnt diese dann auch den Weltmarkt - so wie es die heimatverbundene Michelle Shocked geschafft hat. e.o./r.r.


DAS URTEIL WENN EINE FRAU ALS SÄNGERIN UND PERSÖNLICHKEIT ÜBERZEUGEN KANN, DANN IST ES MICHELLE SHOCKED - WANN UND WIE GIBT ES DAZU EIN ÖSTERREICH-PENDANT?

CD ToHeavenURide * Von: Michelle Shocked - Live-Aufnahme * Label: Mighty Sound über RED-Distribution * Link: www.michelleshocked.com

KONZERTE regelmäßige Singer Songwriter-Konzerte über die Vienna Songwriting Association * link: www.songwriting.at

Unser Demnächst-Special-Tipp für Singer Songwriter mit eigenem Klang:

Mundy (IRL) * Ort: Haus der Musik, Seilerstätte 30, 1010 Wien * Zeit: 13.3.08: 20h
Marissa Nadler (US) * Ort: Gasthaus Vorstadt, 1160 Wien, Herbststraße 37 * Zeit: 03.4.08: 20h
OLLI SCHULZ (Hamburg/BRD) * Ort: WUK * Zeit: 12.03.2008: 20h
Supertipp!!: MARIA MENA (Oslo/Norwegen) *
Ort: WUK * Zeit: 13.04.2008: 20h
Supertipp!!: ADAM GREEN + Band (New York/USA / Singer Songwriter-Antifolk!!) *
Ort: WUK * Zeit: 26.04.2008: 20h
THE HORROR THE HORROR (Schweden / Singer Songwriter-Rock)
* Ort: WUK * Zeit: 18.04.2008: 20h
Supertipp!!: JON REGEN (New York/USA / Singer Songwriter - Piano-Jazz) * Ort: Birdland Wien * Zeit: 15.05.2008: 20h
Supertipp!!: JASON WEBLEY (USA / Singer Songwriter - Rock-Folk-Akkordeon und Geige mit super Stimme) * Ort: Vorstadt Wien, Herbststr. 37 * Zeit: 05.06.2008: 20h


Filmtipp zum Singer Songwriter-Hype:
FILM ONCE * Komödie von John Carney * Mit Glen Hansard, Markéta Irglóva * Irland 2006 * Inhalt: Straßenmusiker in Dublin träumt von der Karriere als Singer Songwriter, wobei ihm die tschechische Gastarbeiterin und Pianistin hilft - mit einer realistischen Existenzweise eines Musikers sowie einer subtilen Liebesebene, wie sie wohl jedem Menschenleben "nebenbei" und doch in ewiger Erinnerung passiert * Länge: 85 Minuten * ab 25. April 08 in den österreichischen Kinos * Vertrieb: www.filmladen.at, link: www.once.kinowelt.de